Hubert Schem

Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn


Скачать книгу

wie wir sie bis dahin mit keinem Menschen gefunden hatten. Beide liebten wir das Ernst-Ironie-Ernst-Wechselspiel, wenn wir uns über Gott und die Welt, knifflige rechtsdogmatische Probleme oder auch nur über die Professoren, die Kommilitonen und – nicht zuletzt – die wenigen Kommilitoninnen unterhielten. Direkte Äußerungen der persönlichen Wertschätzung waren in unserer Kindheit und Jugend verpönt gewesen, und wir hatten sie uns inzwischen auch noch nicht angewöhnt. Also bemühte ich mich, meine Emotionen zu bändigen und verharrte in aufmerksamer Passivität, statt Richard eine eindeutige Antwort zu geben. Schließlich hob ich mein Glas, prostete ihm zu und machte eine weitere Hinhaltevolte: „Hast du den Eindruck, dass das Desinteresse deiner Söhne in dieser Angelegenheit echt ist? Ich meine, sind sie genau so wenig materiell orientiert wie du es zeitlebens warst, Richard?“

      „Das sind wohl zwei Fragen. Die erste kann ich nicht beantworten. Ob ihr Desinteresse echt ist? - Ich verbiete mir seit langem prinzipiell, von ihnen selbst geäußerte Einstellungen meiner lieben Mitmenschen danach zu prüfen, ob sie echt sind. Das führt nach meinen Erfahrungen zu nichts – außer zu Verstimmungen. Ob das materielle Interesse meiner Söhne so gering entwickelt ist wie angeblich mein eigenes: Das interessiert mich auch seit einiger Zeit. Ich weiß nicht, wodurch ausgelöst. Die Wende? Mein Leben davor? Meine Reaktionen danach? Meine Bemühungen, dieses ganze Chaos ein bisschen zu ordnen? Meine Suche nach so etwas wie meiner eigenen Lebensleistung, einschließlich meines Beitrags zum Bruttosozialprodukt? Mein Interesse, herauszubekommen welchen Einfluss ich auf meine Kinder gehabt habe? Ach, lassen wir das. Meine Gedanken dazu sind noch zu unausgegoren und unsortiert.“ Er brach ab. Ein Schatten war auf seine Züge gefallen. Wie abwesend schob er das halbvolle Bierglas auf dem Tisch hin und her, bevor er es in einem Zug austrank und dabei schon nach dem Kellner ausschaute.

      Ich fragte mich, gegen welche Erinnerungen und Empfindungen Richard jetzt kämpfte. Wie oft hatte ich so mit ihm in unserer Lieblingskneipe in Bonn zusammen gesessen. Wie oft hatte ich beobachtet, wie sein Blick für kurze Zeit ins Nichts ging. Und wie oft hatte er mir von seiner Herkunftsfamilie erzählt. Sie war mir bald sehr vertraut. Der übermächtige Vater. Die still leidende Mutter, unerschütterlich hoffend, ihr vermisster Ältester werde eines Tages vor der Tür stehen. Richards großer Bruder, dessen Bild er mir mal demütig bewundernd, mal ironisch übertreibend ausmalte. Ich wusste, welche inneren Kämpfe Richard ausgefochten hatte, wenn ihm wieder und wieder das Vorbild des zehn Jahre älteren Bruders vor Augen geführt wurde, weil er selbst mit einem Buch in einer Ecke saß, verträumt in die Gegend starrte oder geistesabwesend reagierte, wenn er angesprochen wurde. Die direkte Art des Vaters, die nur scheinbar rücksichtsvollere der Mutter, die keine eigene Meinung zu haben schien, sondern immer nur mit den angeblichen Erwartungen des Vaters argumentierte - eines war Richard so unerträglich wie das andere gewesen.

      Ich kannte Richards Gründe, Rechtswissenschaften zu studieren, besser als meine eigenen. Sie waren viel fundierter. Und ich wusste, was für eine Katastrophe es für ihn bedeutete, als sein Vater ihn im sechsten Semester bedrängte, das Jura-Studium aufzugeben, um innerhalb von drei Jahren seinen Bauingenieur zu machen. Wir redeten und diskutierten damals fast täglich stundenlang, entwarfen alternative Möglichkeiten und malten uns aus, wie die Zukunft so oder so aussehen könnte. Der Senior hatte im Frühjahr 1955 nach der damaligen Sprachregelung einen Kreislaufkollaps erlitten. - Später sollte klar werden, dass es sich um einen handfesten Herzinfarkt gehandelt hatte. - Plötzlich stand die Nachfolge ganz dringend auf der Tagesordnung des leidenschaftlichen Unternehmers Philipp Wiedendom. Die große Freiheit, die er seinem Sohn drei Jahre zuvor gelassen hatte – studier ruhig, wonach dir der Sinn steht, wenn es an der Zeit ist, werden wir dann sehen -, wurde viel früher als erwartet auf eine Ja-Nein-Entscheidung reduziert. - Wer Baustoffe verkaufen will, muss sich am Bau mindestens so gut auskennen wie ein Bauleiter. Und wer sich Bauingenieur nennen darf, hat einen nicht zu unterschätzenden Vorteil in der Branche. Eine genaue Kenntnis des Rechts dagegen ist für einen Unternehmer selten von Vorteil. Du bist mir sowieso schon viel zu sehr ein Zweifler und Zauderer. Es tut dir nicht gut, auch noch ausgerechnet das zu studieren, was jede mit einer bestimmten Art von Risiko verbundene unternehmerische Initiative ausbremst. -

      Richard, anders als viele Kommilitonen auch im sechsten Semester noch ein begeisterter Jurastudent, war zwischen Neigung und vermeintlicher Pflicht gegenüber den Eltern hin- und hergerissen. Ich hatte zunächst keine Zweifel, dass er sein Jura-Studium fortsetzen müsse, um das zu werden, was ihm spätestens seit dem zweiten Semester vor Augen stand: Rechtsprofessor an einer deutschen Universität. – Ich selbst hatte nie einen derartigen Traum, und ich käme in Verlegenheit, wenn ich in der heute allgemein verlangten Kürze erklären müsste, wie es dazu gekommen ist, dass ausgerechnet ich diesen Beruf ergriff. - Im Laufe der sechs Wochen bis zum Ende des Semesters bekamen die Tatsachen und Argumente, die dafür sprachen, dass Richard sich ohne weiteren Umweg auf die Nachfolge seines Vaters als Unternehmer einstellte, immer mehr Gewicht. Später konnte ich den Gedanken nicht loswerden, es wäre für alle Beteiligten vorteilhaft gewesen, wenn Richard und ich damals die Rollen getauscht hätten.

      Ich hatte den Eindruck, dass Richard sich jetzt bewusst in eine heitere Stimmung versetzen wollte. Seine Augen begannen zu leuchten. Er schien einen längeren inneren Monolog zu führen. Und dann begann er unvermittelt von Henrike zu berichten. Bevor ich kapiert hatte, was mit ihm los war, pries er mir geradezu poetisch die Vorzüge dieser zehn Jahre jüngeren Journalistin, die seit einigen Monaten in seinem Leben eine Hauptrolle zu spielen schien. Ich war perplex, dass ein vierundsechzigjähriger Mann sich derart über eine vierundfünfzigjährige Frau begeistern konnte. Bemüht, mein Gesicht unter Kontrolle zu halten, konnte ich wieder nur schweigen. Als er schließlich hinzufügte, auch sie sei übrigens mit Eifer dabei, ihn in der Grundstücksangelegenheit zu unterstützen, kein Dokument in irgendeinem Archiv bleibe von ihrer Spürnase unentdeckt, bemerkte ich meine ungute innere Reaktion sofort. Ich ärgerte mich heftig über mich und nahm mir ernsthaft vor, niemals auch nur den geringsten Anflug von Eifersucht wegen dieses femininen Heinrich, dieser nach meinem ersten Eindruck fast mythischen Neuerscheinung im Leben meines Freundes, zuzulassen. Wenn große Ereignisse stets auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden könnten, müsste ich annehmen, gerade dieser Vorsatz sei die entscheidende Ursache für die tiefgreifendste Veränderung in meinem eigenen Leben gewesen. Aber, so reizvoll solche Gedankenspielereien bei bestimmten Gelegenheiten und in besonderen Stimmungslagen sein mögen, ich gestatte sie mir seit langem nicht mehr, weil ihre Logik meistens oder immer zu grotesken Ergebnissen führt.

      Wir gingen an jenem Abend auseinander, ohne dass ich ausdrücklich zugesagt hatte, Richards Vertretung zu übernehmen. Es war auch nicht mehr nötig.

      2

      „Papa, erzählst du uns mal wieder von Großvater?“

      „Von eurem oder von meinem?“

      „Du weißt schon.“

      „Was wollt ihr denn hören?“

      „Wie das genau war, als er die Raketen an der Ostsee gebaut hat.“

      „Da habt ihr mich ganz falsch verstanden. Er hat keine Raketen gebaut. Er hat nur den Kies verkauft für die Anlagen.“

      „Was für Anlagen?“

      „Erst die Fabriken für die Raketen und dann die Bunker mit den Abschussanlagen.“

      „Und wohin wurden die Raketen geschossen? Zum Mond oder schon zum Mars?“

      „Weder noch.“

      „Wohin dann?“

      Während Thomas noch überlegte, welche Antworten er vermeiden musste, um dem unerbittlichen Weiterfragen der Zwillinge nach Einzelheiten des Zweiten Weltkriegs auszuweichen, drängte sich Hannas Stimme leise und energisch dazwischen: „Bitte keine Kriegsfolklore, Thomas! Und bitte auch keine puren Vermutungen.“

      Thomas starrte sie kurz ausdruckslos an, unentschlossen, wie er reagieren sollte. Dann ging eine Mischung aus Grinsen und Lächeln über sein Gesicht. „Vielen Dank für die pädagogische Intervention.“ Sofort bemerkte er, dass seine Stimme nicht so gelassen klang wie gewollt. Und er sah die Wirkung in den Augen seiner Kinder. „Also gut, nichts über Raketen. Habe ich euch schon die Geschichte erzählt, wie mein Großvater Rache dafür genommen hat, dass