Hubert Schem

Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn


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es mir immer noch einfach für jeden Laien wie auch für jeden Juristen, die Unterscheidung immer und überall zu beachten, wenn es darum geht, Menschen nicht als Sachen zu behandeln. Aber gilt das auch für juristische Personen als Rechtssubjekt? Und ist es ein eben so starkes Tabu, einem Rechtsobjekt niemals Rechte zuzuweisen? Schon in meinem fünften Semester fing ich an, mich mit solchen Fragen herumzuschlagen. Weil ich entdeckte, dass im sogenannten Unternehmensrecht, namentlich im Aktiengesetz, selbst der Gesetzgeber die Unterscheidung nicht rigide durchgehalten hat: Mal erscheint das Unternehmen als Rechtsobjekt, mal wie ein Rechtssubjekt, mal als schillerndes Mittelding. Wie trotz der Beteiligung zahlreicher Juristen in den Ministerien ein derartiger sprachlicher Wechselbalg entstehen konnte, ist mir unbegreiflich. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig sind nur die Folgen. Und deren negatives Ausmaß ist evident: Der Begriff Unternehmen ist inzwischen so vieldeutig, dass er sich dem Zugriff scharfsinniger Juristen und Laien entzieht und fast jeder an die Wurzeln gehenden Kritik geschmeidig ausweicht. Nicht zuletzt dieser Begriffsverwirrung ist es zuzuschreiben, dass die Verantwortlichen für katastrophale Fehlentwicklungen oder kriminelle Machenschaften innerhalb eines Unternehmens nicht namhaft gemacht werden. Der Unternehmer als Mensch mit Fleisch und Blut oder als juristisches Gebilde, hinter dem letztlich auch immer Menschen mit Fleisch und Blut stehen, ist fast aus der deutschen Sprache verschwunden. Er wurde verschmolzen mit dem komplexen Rechtsgegenstand, der ursprünglich als Unternehmen bezeichnet wurde. Seitdem ist der Begriff nicht mehr fassbar. Ein Mythos wurde gezeugt und geboren. Ein schillerndes oder auch schwammiges Gebilde. Nein, kein Gebilde, sondern ein Konstrukt – ein reines Geistesprodukt ohne materiellen oder ideellen Gehalt. Aber ein Konstrukt, das sehr gezielt im politischen Alltag herumgeistert und schwerwiegende politische Entscheidungen bestimmt. Einerseits sind Unternehmen angeblich schöpferisch, gehen Risiken ein, schaffen Arbeitsplätze, sind äußerst sensibel, können schrecklich leiden, insbesondere weil sie Steuern zahlen sollen, brauchen Subventionen, um ihren sozialen Auftrag erfüllen zu können – haben also alle Eigenschaften eines Subjekts. Trotz ihrer ausgeprägten Sensibilität können Unternehmen andererseits nicht nur gegründet und liquidiert, sondern auch verkauft, verpachtet, mit anderen Unternehmen verschmolzen und zergliedert werden – sind also Objekte des Rechtsverkehrs. Dass dieser Wahn zu einem guten Teil auch mitschuldig ist für das unterentwickelte Niveau der Auseinandersetzungen auf wirtschaftlichem Gebiet, scheint mir sehr naheliegend.

      Ich hatte mir vorgenommen, die Begriffsverwirrung und ihre verheerenden Folgen deutlich zu machen und ein flammendes Plädoyer dafür zu halten, den missratenen Begriff Unternehmen aus dem deutschen Wortschatz zu tilgen. Dabei ging es mir keinesfalls um schlichte Beckmesserei. Vielmehr hatte ich mir vorgestellt, wie ich anhand dieser Fehlentwicklung demonstrieren würde, dass es eine Wechselwirkung zwischen klarem Denken, eindeutigem Sprechen, gradlinigem Handeln und unabdingbarer Verantwortung gibt.

      Nachdem ich die Herausforderung durch Richard angenommen hatte, rückte dieses Projekt in den Hintergrund.

      Der Sog der Praxis hatte mich erfasst. - Womöglich eine letzte Bestätigung dafür, dass die Weichen für meine Berufslaufbahn vor vierzig Jahren falsch gestellt wurden. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass Richard ein begnadeter Rechtswissenschaftler und -lehrer geworden wäre, während ich selbst nach meiner eigenen Einschätzung nie über das Mittelmaß hinausgewachsen bin. Dazu muss ich anfügen, dass das Mittelmaß von Leistungen für mich keine schlechte Bewertung ist. Die schlichte Logik sagt mir, dass es sich aus besseren und gleichviel schlechteren Leistungen ergibt. Wenn alle besser werden, wird sich auch das Mittelmaß verändern. Mir mangelte es immer an dem absolut störungsfreien Antrieb zum Erreichen des Außergewöhnlichen. Unbedingter Glaube, vorbehaltslose Liebe und unerschütterliche Hoffnung sprudelten mir nicht dauerhaft als Quellen der Zielstrebigkeit. Dagegen spricht vieles dafür, dass ich die Last besser geschultert hätte, die Richard von seinem Vater aufgebürdet wurde. Leider stand uns damals ein solches Wahlrecht nicht zu. So blieb uns beiden nichts übrig, als sich mit den Gegebenheiten, die wir nicht verändern konnten oder wollten, nach besten Kräften zu arrangieren. Mein Hirn schaffte es allmählich, mir durch feinziselierte Abstraktionen Vergnügen zu bereiten, während Richard – leider allerdings ohne finanziellen Nutzen für sein eigenes Unternehmen - beachtliche technische Neuerungen auf dem Gebiete des Bauwesens initiierte oder förderte, obwohl sein Herz immer noch der Juristerei gehörte.

      Sofort nach Richards eindrücklicher Schilderung begann mein altes Juristenhirn auf jene Weise zu arbeiten, die das Blut eines deutschen Rechtsprofessors schneller und intensiver in Wallung bringt als alle bekannten Stimulanzien – ein für Nichtjuristen befremdliches, wenn nicht sogar lächerliches Phänomen. Ich sah eine zunächst namenlose Teilfläche unserer Mutter Erde durch einen Rechtsakt als eigenständiges Grundstück entstehen. Erdstück wurde Grundstück. Dieser Schöpfungsakt war vollendet, als das in der Natur vermessene, durch Grenzsteine markierte, im Kataster durch fachmännische Bezeichnungen von allen anderen Teilen der Erdfläche unterschiedene Erdflächenstück im Grundbuch von Rostock als separater Gegenstand des Rechtsverkehrs eingetragen wurde. Ich verkniff es mir, Mutmaßungen über die Gründe des Eigentümers, von dem Richards Vater das Grundstück 1938 erwarb, für den Verkauf anzustellen. Aber es fiel mir nicht schwer, mir die wirtschaftliche Bedeutung des Grundstücks im Zweiten Weltkrieg für die Baustoffhandlung Philipp Wiedendom GmbH auszumalen. In einem großen schwarzen Loch lagen jedoch die Gründe dafür verborgen, dass der Volksgerichtshof im Herbst 1944 Philipp Wiedendom zum Tode verurteilte und sein gesamtes Vermögen einzog.

      Der Übergang des Eigentums vom Deutschen Reich oder irgendeiner Unterorganisation des Reichs auf „das Volk“ entsprach dem Normalverlauf nach dem Krieg in der sowjetisch besetzten Zone. Das weitere Schicksal des Grundstücks war nicht im einzelnen feststellbar. Irgendwann muss es dem Volkseigenen Betrieb Schiffswerft Anker zur Nutzung zugeordnet worden sein.

      Das Grundstück wurde mit anderen volkseigenen Grundstücken, die bereits zum Bestand der Werft gehörten, verschmolzen. Damit war seine Existenz als eigenständiges Grundstück zu Ende. Wahrscheinlich diente es nach damaliger Sprachregelung in hervorragender Weise dem Aufbau eines neuen Staates. Eines Staates mit Riesenambitionen, wie es bei den Landsleuten von Hegel, Marx und Engels nicht verwunderlich ist. Das realsozialistische Gegenmodell zur Bundesrepublik Deutschland, dem angeblichen Musterschüler des monopol-kapitalistischen Imperialismus. Riesenambitionen – immer wieder verkündet und dem Volk eingebläut. Nach einundvierzigjähriger Existenz sang- und klanglos wieder aus der Geschichte abgetreten. Kein Schuss von Angreifern oder Verteidigern. Unblutig und undramatisch – jedenfalls nach den landläufigen Vorstellungen von Dramatik in der Geschichte. Schleichender und schließlich galoppierender Staatsbankrott. Abstimmung der Bürger mit den Füssen, die Mittel und Wege finden, das Land zu verlassen. Mutige Demonstranten in rasch wachsender Menge auf den Straßen. Passivität der Großen Sozialistischen Brudernation. Verwirrung. Missverständnisse über die Beschlusslage. Ungewollte Öffnung der Grenze. Eine kurze Phase eigenständiger demokratischer Experimente. Wiederherstellung der alten Länder in der DDR. Währungsunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik mit dem Zaubermittel Deutsche Mark. Und schließlich, wie von der großen Mehrheit der demokratisch gewählten Volkskammer beschlossen: Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland. Ende der DDR. Da die Rechtsordnung der Bundesrepublik kein „Eigentum des Volkes“ im Sinne der ehemaligen DDR kennt, ist dieser Begriff seit dem 3. Oktober 1990 Teil der Rechtsgeschichte. Und nun ...?

      Der konkrete Einzelfall des zu einer bedeutenden volkseigenen Werft in Rostock gehörenden Flurstücks ließ mich das Ausmaß der Herausforderung für Juristen, Ökonomen und andere Merker und Macher ahnen, die darin besteht, nicht nur die einundvierzig Jahre eines sozialistischen Experiments vermögensrechtlich so weit wie möglich wieder rückgängig zu machen, sondern auch die materielle Wiedergutmachung des Nazi-Unrechts, vor der sich die DDR-Regierung wie vorher schon die sowjetische Militäradministration immer gedrückt hatte, nachzuholen. Als ich mir dies alles vorstellte und mir klarmachte, dass es in der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte weltweit keinen vergleichbaren Vorgang gab und je gegeben hatte, spürte ich, wie es in mir vibrierte. Das ist Praxis. Das ist Leben. Das ist etwas ganz anderes als eine Abhandlung zu schreiben, die sich mit einer vagen Vorstellung von der Wirkungsmacht des Wortes verbindet. Und was für ein Einzelfall in diesem historischen Rahmen! Mehr als sechzig Jahre lag im konkreten Fall das Ereignis zurück, dessen rechtliche Einordnung