Jahre nach der Wende noch einen gewaltigen Kredit. Sie lassen sich noch nicht einordnen in den Raster, der sich in der Zeit von 1949 bis 1990 entwickelt hat, und nicht eintakten in den altvertrauten Rhythmus der Bonner Politbürokratie. Mit anderen Worten: Sie können die Bonner noch so verblüffen, dass sie ihre unselige Selbstsicherheit verlieren. Ruhig mit etwas List. Am besten schräg zum System, das erweckt Aufmerksamkeit. Die Massenmedien sind immer heiß auf eine spektakuläre Story. Attraktive Powerfrau aus dem Osten zeigt den verschlafenen Bonnern wo der Bartel den Most holt. Übrigens: Unabhängiger Ideenpool – auf Ihrem Praxisschild - das klingt interessant und ist schön vieldeutig. Da steckt eine Menge Potential drin. Daraus müssen Sie was machen. Innovativ, originell, frech bis schockierend. Ein bisschen zaubern. Ein schönes Medienspektakel. Wenn es richtig in Fahrt kommt, ist es kaum noch zu stoppen. Natürlich muss rechtzeitig Substanz rein. - Ach, wissen Sie, ich beneide Sie. Ihnen gehört die Zukunft.“ Etwas zu dick aufgetragen, sagte mein innerer Korrektor. Das ist jetzt schon okay, replizierte ich energisch.
Wenn sie sich geschmeichelt fühlte, dann hatte sie eine exzellente Technik, das nicht zu zeigen. „Das Bonner Territorium kenne ich gut. Ich war eine der ersten Studentinnen aus der Ex-DDR an der Uni Köln. Erst Nachqualifizierung, dann Promotion. Für meine Dissertation war ich einige Monate lang fast täglich in Bonn. Die Ministerialen haben mich behandelt wie einen Rohdiamanten. Jeder bemühte sich auf seine Weise, mich zu gestalten. Keiner war mies oder muffelig. Eine schöne Zeit.“
„Wann war das?“
„1994, noch keine drei Jahre her.“
„Konnten oder wollten Sie nicht dort bleiben?“
„Wollen damals schon, können beinahe ja, dann auf einmal doch nicht. Einstellstop von heute auf morgen und aus der Traum.“
„Und jetzt ein ganz anderer Traum in Rostock?“
„Klar – und ich bin heilfroh, dass es so gekommen ist.“
„Also auch aus Ihrer Sicht gute Aussichten für den Ideenmarkt?“
„Phantastische – wenn man es nicht von der materiellen Seite betrachtet.“
„Sondern real-idealistisch?“
Sie war sichtlich verblüfft und antwortete erstmals nicht sofort. Ich wartete ab, wie sie meinen Nonsens-Ball annehmen und zurückspielen würde. Als sie schließlich antwortete, merkte ich, dass sie Tempo aus unserem Spiel nehmen wollte. Die dunklen Kehllaute, die mir aus diesem vollen Mund von Anfang an auf angenehme Weise exotisch geklungen hatten, formten sich nicht mehr so schnell zu Wörtern und Sätzen wie bisher. Die Lautstärke hatte sie wie bei einer Nebenbeibemerkung gegenüber einem Nachbarn in einer größeren Gesprächsrunde deutlich gemindert. Ich warf reflexartig einen Blick auf Richard und sah, dass er immer noch weggetreten war. Oder er verbarg geschickt, dass er mir gönnerhaft das Feld überließ. „Real-idealistisch? - Das klingt echt gut – gebildet, tief, undeutlich, also interessant -, Herr Professor... verzeihen Sie, ich habe bei dem Beinahe-Überfall Ihren Namen nicht ordentlich gespeichert.“
Als ich ihn ihr nannte, merkte ich, wie sie ihn memorierte. Ihre Stimme blieb unverändert: „Also, Herr Professor Schnippenholz, ich habe gerade eine Idee geboren, die Sie selbst betrifft.“
„Sie machen mich gespannt.“
„Sie sind begeistert von meinem Ideenpool. Ich lade Sie herzlich ein. Machen Sie mit. Wie haben Sie gesagt? Innovativ, originell, frech bis schockierend, ein bisschen zaubern, ein schönes Medienspektakel und rechtzeitig Substanz rein. Aber wie? Aber wann? Aber von wem? Vielleicht mit Ihrem Wissen, mit Ihrer Erfahrung und, Entschuldigung, mit Ihrer Abgebrühtheit, Herr Professor Schnippenholz? Vielleicht mit Ihnen?“
Ihre Augen hatten etwas Suggestives, während ihre Mundwinkel ein ironisches Lächeln andeuteten. Sie ist von meiner Art, durchfuhr es mich. Die Mischung aus Freude, Traurigkeit und Selbstironie, die mich im nächsten Moment anfiel, zwang mich, ihrem Blick auszuweichen. Ich sah zu Richard hinüber, der immer noch seinen Gedanken oder Träumen anzuhängen schien. Dann hatte ich meine Gesichtsmuskeln wieder unter Kontrolle. Ich machte ihr ein Zeichen, dass ich sie anrufen würde
5
Henrike Voss trug die für sie von Mitarbeitern des
Bundesarchivs bereitgelegten Akten an ihren Stammplatz am Mittelgang. Die Tische im Saal waren um diese frühe Zeit nicht einmal zur Hälfte besetzt. In ihrer Reihe waren die drei mittleren Tische noch blank. Auf dem Tisch am Fenstergang lag akkurat aufgeschichtet ein hoher Aktenstapel. Ein Laptop wartete auf seinen Besitzer, der sich wie immer seinen Platz nur gesichert hatte, um dann in der Gaststätte auf dem Gelände des Archivs zu frühstücken. Henrike kannte ihn seit ihrem ersten Termin vor einem halben Jahr. Sie wusste nicht nur, woran er arbeitete, sondern war auch informiert, wie ihm sein Dissertationsthema aufgedrängt worden war, wie er sich innerlich gesträubt, aber im Laufe seiner Arbeit allmählich Feuer gefangen hatte. Ein japanischer FU-Absolvent, der sich bereits während seines Studiums der Wirtschaftswissenschaften zur Wirtschaftsgeschichte hingezogen gefühlt hatte und ein Doktoranden-Stipendium nach seinem erfolgreich abgeschlossenen Studium dazu nutzen wollte, diese Neigung mit dem Nützlichen zu verbinden. Als er dem von ihm auserwählten Doktorvater seine noch vage Themenvorstellung vorgetragen hatte – ein Thema, das genug Spielraum ließ, die Wirtschaftsgeschichte nach einer Tendenz zur Globalisierung überhaupt und nach deren Abhängigkeiten und Gesetzmäßigkeiten zu erforschen – hatte der Professor mit freundlicher Bestimmtheit abgewinkt. „Vorsicht vor noch nicht genügend abgehangenen Themen“, hatte er mit einem eigenartigen Lächeln gemurmelt, eine Warnung, deren genaue Bedeutung dem Japaner auch nach ausführlichem Studium aller verfügbaren Wörterbücher und Lexika nicht verständlich geworden war. Stattdessen hatte er ihm eine Mitarbeit bei einem seit längerem unter seiner Obhut betriebenen Forschungsprojekt angeboten. Dabei ging es um den Einfluss von Verbänden, die der NSDAP angeschlossen waren, auf die Wirtschaft in der NS-Zeit. Innerhalb des Teilgebietes „Deutsche Arbeitsfront (DAF)“ war noch das Unterthema „Die unmittelbare und mittelbare Teilnahme der Deutschen Arbeitsfront am Wirtschaftsprozess während des Zweiten Weltkriegs – Art, Umfang und Bedeutung für die Kriegswirtschaft“ zu vergeben.
Enttäuscht über ein so offensichtlich auf spezifisch deutsche Verhältnisse ausgerichtetes Thema hatte der Doktorand zunächst die Strategie verfolgt, seinen Professor so schnell wie möglich davon zu überzeugen, dass dieses Thema keine nennenswerten neuen Forschungsergebnisse versprach. Aber schon nach dem Lesen einiger Bücher und nach flüchtiger Einsicht von Akten unterschiedlicher Herkunft hatte er Feuer gefangen und seine Bedenken vergessen. Henrike konnte seinen Mitteilungsdrang nicht mehr bremsen, nachdem sie beim Kaffee durch geschickte Fragen den Damm seiner anerzogenen Zurückhaltung durchstoßen hatte. Er schien alle Daten über die Deutsche Arbeitsfront bereits in seinem Kopf gespeichert und sortiert zu haben. Die Entwicklung der Mitgliederzahl von rund fünf Millionen im Mai 1933 auf über fünfundzwanzig Millionen ab Ende 1942. Die Vermögensverwaltung der Deutschen Arbeitsfront GmbH. Die Treuhandgesellschaft für wirtschaftliche Unternehmungen mit beschränkter Haftungaftung. Die Bank der deutschen Arbeit. Die Versicherungsgesellschaft Deutscher Ring. Die Deutsche Bau AG. Die zahlreichen regionalen Siedlungsgesellschaften. Die Entwicklung von Fertigbauelementen. Die Verlagerung der Finanzmittel vom Wohnungsbau zu kriegswichtigen Projekten ab 1941. Verlage. Das Diana-Bad in Wien, Europas größtes Freibad. Die großen Prestigeprojekte: Das Volkswagenwerk mit einer neuen Stadt für die Beschäftigten in der Nähe von Fallersleben – jetzt Wolfsburg - sowie die Freizeit-Anlage für zwanzigtausend Urlauber in der Gemarkung Prora auf Rügen. Die Errichtung von Ordensburgen, Schulungsburgen und Adolf-Hitler-Schulen auf eigene Rechnung - großzügige Geschenke der Deutschen Arbeitsfront an die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, propagandistisch ein Ausdruck der engen Verbundenheit zwischen Partei und DAF, wirtschaftlich ein Zeichen für die überlegene Finanzkraft der DAF mit jährlich über einer halben Milliarde Reichsmark Mitgliedsbeiträgen. Und ... und ... und ...
Henrike hörte zu und staunte über dieses Füllhorn an Informationen. Als der Doktorand schließlich erschrocken bemerkte, dass fast eine Stunde vergangen war, entschuldigte er sich mehrmals und fragte sie – offenbar Ausdruck seiner unerschütterlichen Höflichkeit - nach dem Zweck ihrer eigenen Forschungen im Bundesarchiv.