den zahllosen Angeboten hatte er die besten Komponenten ausgesucht, miteinander kombiniert und eigene Zusätze angefügt. Mit dem Echo der Seminarteilnehmer war er meistens gut bis sehr gut zufrieden gewesen. Also auch mit sich selbst.
All dies ging ihm jetzt durch den Kopf, während sich allmählich die Müdigkeit ausbreitete. Wieso hatte er dann davon gesprochen, auch in einer beruflichen Krise zu sein? Entsprach das überhaupt seiner eigenen Erkenntnis? Oder war es das Ergebnis eines unkontrollierten psychischen Vorgangs bei dem Gespräch mit dem Halbbruder, der erst am Anfang seines Berufslebens stand? Das schien ihm abwegig. Sah nach Flucht vor einer unangenehmen Einsicht aus. Er konnte sich nicht selbst täuschen und leugnen, dass seine berufliche Motivation kein sicheres Fundament mehr hatte. Vielleicht auch nie gehabt hatte? Woraus hatte das Fundament denn bestanden? Hatte er nicht einfach agiert und reagiert, sich von diesem oder jenem antreiben, ziehen, drängen lassen, ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne sich oder anderen Fragen zu stellen? Hatte er das, was er in seinen Beiträgen innerhalb der Führungskräfteseminare mit Fachautorität verkündete, in seinem eigenen Berufsleben je ernsthaft erprobt? Er spürte die Unlust, sich in seinem jetzigen Zustand mit solchen Fragen herumzuschlagen. Fest stand, dass es ihm seit einigen Monaten schwer fiel, an fünf Tagen in der Woche für acht bis zehn Stunden ein anderer Mensch zu sein als in der übrigen Zeit. Irgendetwas ist in dem System in Unordnung geraten, stellte er jetzt ironisch-resignativ fest. Psychische Materialermüdung? Ein Synapsendefekt? Ein unerkannter Virus, der sein Unwesen mit progressiver Gewalt treibt? Oder doch eine lange verdrängte Erkenntnis?
Als ihm der Kopf nach vorne wegsackte und ein Packen Photos auf den Fußboden rutschte, straffte Thomas seinen Körper reflexartig. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte der Schlaf ihn übermannt. Wieso saß er hier? Der Fernseher dunkel. Keine leere Bierflasche in der Nähe. Sekundenschnell hatte er sich gefangen. Beim Einsammeln der Photos fiel sein Blick auf ein Bild im Großformat. Er brauchte sich nicht über die Entstehungszeit zu vergewissern. Jede Einzelheit stand ihm noch vor Augen wie vor siebzehn Jahren. Die große Schlussaufnahme der Kleinfamilie Wiedendom im April des Jahres 1980 vor der Haustür der sogenannten Villa in Spandau. Rechtsaußen Else mit dem Mantel über dem Arm. Dem Befehl der fotografierenden Nachbarin folgend, war sie bemüht, ein Lächeln zu zeigen. Es hatte keine Ähnlichkeit mit ihrem verständnisvollen Lächeln, das für Thomas so oft eine Quelle des Trostes gewesen war. Auf Abstand neben ihr der damals zehnjährige Bernd. Keine Spur von einem Lächeln. Man musste nicht dabei gewesen sein, um zu sehen, wie er tapfer mit den Tränen kämpfte. Dann er selbst, ein wenig blasiert in die Kamera blickend. Der Student in den Semesterferien. Und schließlich der Vater, dessen Gesicht einen von Thomas nie zuvor und auch nie nachher beobachteten Ausdruck zeigte.
Thomas hatte dieses Foto schon so häufig in der Hand gehalten, dass er kaum noch hinsehen musste, um alle Details vor Augen zu haben. Er hatte es inzwischen längst aufgegeben, den Gesichtsausdruck des Vaters beschreiben zu wollen. Für ihn war dieses Gesicht einzig und allein Ausdruck der ganz konkreten Situation fünf Minuten bevor Else und Bernd sich ins Auto setzten und damit eine Epoche der Familie Wiedendom in Berlin-Spandau deutlich sichtbar beendeten. Familie Wiedendom? Thomas ertappte sich sofort. Was für eine bezeichnende Anmaßung! Familie Wiedendom-Dambek? Auch das war missverständlich für Außenstehende. Wiedendom/Dambek? Eine papierene Konstruktion, resistent gegen das Aussprechen und rätselhaft in ihrer Bedeutung. Bernd hatte als Achtjähriger den Ehrgeiz entwickelt, einen gemeinsamen Familiennamen zu konstruieren. Doch seine Versuche mit Wiedendam, Dombek, Damdom und Wiedenbek blieben chancenlos. Schließlich gab er es auf, mit Silben zu experimentieren und wandte sich den Buchstaben zu. Eines Tages verkündete er triumphierend, von den Abermillionen Namen in der Welt komme nur ein einziger in Frage, ein Zweisilber mit der scheinbar schlichtesten Bedeutung. Kleine - das kleine e in Wiedendom und Dambek als verbindender Bestandteil. Hartnäckig bestand er darauf, sich Bernd Kleine zu nennen und als Bernd Kleine angesprochen zu werden. Die übrigen Familienmitglieder spielten dieses Spiel mit - ihm zuliebe oder aus Bequemlichkeit, denn der Achtjährige war äußerst hartnäckig bei der Verfolgung seiner kindlichen Marotten.
Auch Thomas hatte dem Kleinen diesen Gefallen getan. Ein Spiel in einer brüderlichen Beziehung, die von einer fast grenzenlosen Freundlichkeit geprägt war. Er selbst ein achtzehnjähriger Gymnasiast, dessen Gefühlshaushaushalt jahrelang zwischen den Extremen geschwankt hatte und noch nicht wieder neu austariert war. Mit undramatischen Rollenspielen, offensichtlichen Übertreibungen, burlesken Parodien und harmlos ironischen Verzerrungen versuchte er seine Gefühlsschwankungen auszubalancieren. Er vertraute unbegrenzt darauf, dass die nächsten Angehörigen dies alles genau richtig einzuordnen wussten und niemals bewusst missverstehen würden. Selbst als er einige Male provokativ die unsichtbare Grenze überschritt, blieben die erwarteten Folgen aus. Keine lauten Zusammenstöße mit dem Vater oder dessen neuer Lebensgefährtin. Und auch nicht diese ekligen Situationen, die Heranwachsende mehr hassen als jeden richtigen Streit: Der Provozierte zeigt demonstrativ sein tiefes Verständnis für die Handlungsweise des Provokateurs, beleidigt ihn damit aber aufs Schlimmste, weil er ihn zum Bestandteil einer Kategorie macht, statt die Einzigartigkeit seiner Probleme auch nur im entferntesten zu verstehen. Der zehn Jahre jüngere Halbbruder in einer Verfassung, dass ihm alle Herzen zufliegen. Hübsch anzusehen mit seinem unschuldigen Milchgesicht, wissbegierig, mitteilungsfreudig, erstaunlich virtuos im Umgang mit der deutschen Sprache, nach Ansicht der Eltern mit deutlichen Anzeichen von Kreativität. Keine Spur mehr von den in der Familie gefürchteten Jährzornsanfällen, die ihn als Vier- und Fünfjährigen und mit ihm alle Anwesenden immer wieder total erschöpft hatten. Zwischen den Brüdern eine ganz große Liebe, die allerdings niemand so nennen durfte. Beim Kleinen dazu die grenzenlose Bewunderung des großen Bruders, den er ungehemmt nachahmte, so gut er nur konnte.
Der Große lebte seinen elementaren Beschützerinstinkt aus, genoss es, seinen Erfahrungsvorsprung pädagogisch zu verwerten und fand sich wiederholt beim Zusammensein mit seinem Bruder in einer so vorbehaltslosen Friedfertigkeit, dass es ihn dazu drängte, seine Zuneigung mit etwas ungelenken Berührungen auszudrücken. Kleine Neckereien und die seltenen Streitigkeiten hatten das Verhältnis nie länger als einige Stunden beeinträchtigen können.
Thomas sollte sich später immer wieder fragen, welcher Teufel ihn geritten hatte, als er den Bruder eines Mittags mit jenem Vers begrüßte, der diesen paradiesischen Zustand für immer beendete. Vertrauen darauf, dass der Kleine auch diese Spontandichtung des Großen als Ausdruck brüderlicher Zuneigung deuten werde? Ausdruck einer uneingestandenen Kränkung durch die Versuche des Bruders, eine neue Sprachregelung für den Familienverbund zu finden? Eine dämonische Lust , den liebsten und unschuldigsten Menschen, den er kannte, zu verletzen? Oder einfach die Unfähigkeit, eine so unbeschwerte, im besten Sinne heitere Beziehung auf Dauer auszuhalten? Nie hatte der Psychologe Thomas Wiedendom später eine befriedigende Erklärung gefunden. Als der Bruder ihm wie häufig die Wohnungstür geöffnet hatte, strahlend und mit einem Hallo!, das den verstocktesten Missetäter für Sekunden zum Heiligen machen musste, blickte Thomas ihn herablassend wie ein fremdes Kind an und gab sich überrascht: „Hallo, du Kleiner! Wie heißt denn du? Dich kennt hier keiner!“ – Bernd sah ihm sekundenlang fragend in die Augen. Thomas schaffte es, seinen eigenen kalten Blick einzufrieren und keinen Gesichtsmuskel zucken zu lassen. Ein fassungsloser Schreck im Gesicht des Bruders. Die Augen plötzlich voller Tränen. Seine Bemühungen, das Weinen zu unterdrücken, führten schließlich zu einem nicht enden wollenden herzzerreißenden Schluchzen. Alle stammelnden Versuche von Thomas, ihn zu trösten oder wenigstens zu beruhigen, blieben ergebnislos. Bernd rollte sich schluchzend und wimmernd auf dem Flurboden zusammen und schüttelte die Hand von Thomas unwillig ab.
Thomas stand sekundenlang ratlos über ihm. Als er merkte, wie eine maßlose Wut in ihm hoch stieg, dass er am liebsten auf den kleinen Bruder eingeprügelt hätte, bis er wieder der alte war, ging er wortlos in sein Zimmer. Der Zauber war vorbei. Ein für allemal. Unwiederholbar. Thomas spürte es mit großer Gewissheit. Er hätte selbst heulen mögen oder besinnungslos wüten. Beides war seinem Alter nicht mehr gemäß. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und sah zum Fenster hinaus, eine halbe Stunde lang unbeweglich und absolut gefühllos. Zum ersten Mal in seinem Leben versteinert, wie er später als angehender Psychologe diagnostizieren sollte.
Nach einigen Tagen verbissenen Schweigens ließ Bernd zwar wieder vernünftig mit sich reden, und es gab Stunden, die an die Zeit vor dem Vorfall