Schopf langer schwarzer Locken sah uns entgegen: Freundliche Erwartung, unterdrückte Überraschung und eine verhaltene Neugierde gut abgestimmt. Aber in diesen Augen glomm noch ein anderes Licht. Die Situation schien die junge Frau auch ein wenig zu amüsieren. Ich bildete mir ein zu erkennen, wie sie blitzschnell einige Szenarien durchspielte, um sie sofort wieder zu verwerfen. Der Vater des Freundes mit einem Herrn der gleichen Altersklasse als Überraschungsbesuch am hellen Nachmittag – ein schlüssiges Szenario für eine solche Konstellation gab es nicht. Ihre Stimme hatte jetzt weder einen metallischen Beiklang, noch ließ sie irgendeine Spur von Unsicherheit erkennen. Ein sonores Hallo mit einem Quäntchen positiver Überraschung, einem Schuss Neugierde und einer Portion Tatkraft, die sich auf das einstellte, was in dieser Situation an Aktivitäten geboten war. Nachdem Richard uns bekannt gemacht hatte, ohne ihr schon auf dem Flur den Anlass oder den Zweck unseres Besuches zu erläutern, bat sie uns herein. Als ich den Raum betrat, der ihr offensichtlich als Wohn- und Arbeitszimmer diente, hatte ich meinen Kopf unvermittelt in einer dieser breiten Dachgauben, die seit einigen Jahren bei der Grundsanierung von Altbauten zum Standard gehören. Sofort fiel mein Blick auf die Warnow und wanderte nach links zu dem erst vor einer knappen halben Stunde verlassenen Werftgelände. Gerade noch rechtzeitig konnte ich meinen Impuls unterdrücken, Richard auf diesen Ausblick hinzuweisen. Ich wusste nicht, wie weit die junge Frau informiert war. Also richtete ich mich schlecht und recht auf einem Sitzmöbel aus Stahl und Leder ein und wartete ab, wie er sich der Aufgabe entledigen würde, unseren Besuch zu erklären. Während er noch von unserer Besprechung in der Werft berichtete, murmelte sie plötzlich eine Entschuldigung, stand auf, ging zu dem Gaubenfenster, reckte sich ein wenig und blickte angestrengt hinaus. „Ist das Zufall oder ...? Da unten liegt das Werftgelände. Vielleicht fünfhundert Meter Luftlinie. Ein Wahnsinnsgelände. Ich kenne es wahrscheinlich besser als die Leute von der Treuhand – ich meine von der BvS – in Berlin, die da noch immer mitmischen. Die Werft wird nach meiner Einschätzung bald nur noch einen kleinen Bruchteil des Geländes für eigene Zwecke benötigen. Die schrumpft sich bestenfalls gesund oder wird von der BvS in die Gesamtvollstreckung geschickt. Und – das finde ich jetzt richtig pikant – ich bin selbst dabei, mich in einem Projekt auf dem Werftgelände zu engagieren. Fehlt nur noch, dass das dafür vorgesehene Gebiet auf dem früheren Grundstück Ihres Vaters liegt, Herr Wiedendom.“
Richards Verblüffung schien sich in Grenzen zu halten. „Dann kann es nur der Dienstleistungskomplex sein, für den ein Investitionsvorrangverfahren bei der Stadt Rostock läuft. Dass Sie da mitmischen, kann mich nicht wundern. Wenn nicht Sie, wer dann, Frau Hanselow?“
Sie sah ihn mit einem so deutlich geschmeichelten Lächeln an, dass die Ironie nicht zu übersehen war. Auch Richard lächelte verständnisinnig. Sieh da, die haben ja schon einen fortgeschrittenen Kommunikationslevel erreicht, ging es mir durch den Kopf, und ich bemühte mich, das neidlos zu registrieren. Richard setzte seinen Bericht exakt dort fort, wo sie ihn unterbrochen hatte. Als er abschließend darüber berichtete, dass die Beteiligten eine gütliche Regelung auf finanzieller Basis anstrebten, nannte er keine Zahlen. Ich hatte wieder einmal zu Unrecht angenommen, der bei ihm gelegentlich durchbrechende Hang zu vollkommener Offenheit könnte ihn verleiten, den zur Diskussion stehenden Millionenbetrag zu erwähnen. Doch anscheinend teilte er mit mir die Sorge, die Aussicht auf ein Millionenerbe könnte sich negativ auf die Lebensenergie der Jungen auswirken.
Ich glaubte sicher zu sein, dass Richard sich jetzt nach dem geplanten Dienstleistungszentrum und nach ihrer Rolle bei diesem Projekt erkundigen werde, und hielt mich deshalb schweigend zurück. Wieder folgte Richard nicht meinen Erwartungen, sondern schwieg beharrlich. Ich sah ihm an, dass er mit seinen Gedanken plötzlich abwesend war. Vielleicht malt er sich gerade aus, wie die Millionen sein eigenes Leben verändern würden, dachte ich und unterdrückte ein Schmunzeln. Die junge Frau wandte sich sofort mir zu, als ob sie auf diese Gelegenheit gewartet hätte. „Sie sind also Rechtsgelehrter. Ein Kämpfer an der Front des Rechts oder...?“
„Nein, nein, weder Kämpfer noch an der Front. Eher ein Etappenhengst, wenn man schon im Bild bleiben will.“
„Kein Kämpfer? – Auch nicht mit der Feder?“
„Na ja, das ist Ansichtssache. Ich habe meine Tätigkeit nie als Kampf betrachtet. Aber es gibt genug Kollegen, die das anders sehen. Wofür oder wogegen sollte ich Ihrer Meinung nach denn kämpfen?“
„Zum Beispiel dafür, dass normale Sterbliche sich in dem Paragrafendschungel bewegen können, ohne sich oder andere zu verletzen.“
„Also den Dschungel erforschen, kartieren und erklären? Oder meinen Sie, ihn möglichst ganz abholzen und roden?“
„Mir würde schon genügen, wenn dafür gesorgt würde, dass nicht immer die am schnellsten im Ziel ankommen, die die Schleichwege kennen oder rücksichtslos alles niedertrampeln.“
„Das klingt aus Ihrem Munde sehr originell und – wenn Sie gestatten – auf gute Weise pathetisch. Ist aber ein uraltes Programm in der Bonner Republik. Nie aufgeschrieben, aber zu Wahlzeiten mit schöner Regelmäßigkeit von Politikern aller Richtungen wie das Ei des Kolumbus präsentiert.“
„Ich bin halt eine Neubürgerin... Auf gute Weise pathetisch? Herr Professor, das ist erklärungsbedürftig. Meinen Sie, wir fingen ganz naiv von vorne an? Lesen können wir ja immerhin schon.“
„Tut mir leid, wenn das in Ihren Ohren onkelhaft oder gar herablassend geklungen hat. War wirklich nicht so gemeint.“
„Onkelhaft nicht, aber ziemlich abgebrüht. Alles ist schon gelaufen. Oder ist fehlgeschlagen. Oder war nicht ernst gemeint. Die große Desillusionierung.“
„Ich habe nie zu denen gehört, die sich von Illusionen nährten. Ich bin wirklich keiner von den enttäuschten Idealisten. Trotzdem fühle ich mich von Ihnen ertappt. Wenn mich etwas aufregen kann, dann ist es dieses niveaulose Getöne bestimmter Politiker. Ich weiß nicht, ob sie wirklich so dumm sind wie sie reden oder ob sie ganz bewusst die Bürger für dumm verkaufen wollen. Solche hat es zwar schon immer gegeben. Aber jetzt sind sie vorherrschend – ganz egal, ob in der Regierung oder in der Opposition. Zum Beispiel: dieselben Politiker, die seit Jahrzehnten tönen, welches Herzensanliegen es ihnen ist, das Recht – vor allem das Steuerrecht – für den einfachen Bürger verständlich und überschaubar zu machen, bemühen sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern, dass irgendeiner Gruppe ihre Privilegien genommen wird. Privilegien sind für die Betroffenen nie Privilegien, sondern wohlerworbene Rechtsansprüche mit Ewigkeitsgarantie. Was vorgestern richtig war, darf auch heute nicht in Frage gestellt werden. Und wenn ein Gesetz einer bei Wahlen relevanten Gruppe zu weh tut, dann muss eben für diese Gruppe eine Ausnahmeregelung geschaffen werden. Für die Dreistigkeit der Verbandsvertreter finde ich schon gar keine Worte mehr. Also wird der Dschungel immer dichter statt lichter. Und die Medien sind fast durch die Bank keinen Deut besser. Überall interessengeleitete Verdummung oder einfache, platte, gnadenlose Dummheit. Ich weiß wirklich nicht, was schlimmer ist. Da soll man nicht zynisch werden?! Und ich sehe leider keine Chance, dass sich das je wieder ändert. Es sei denn ...“
„Es sei denn was?“
„Es sei denn, Neubürgerinnen und Neubürger wie Sie schaffen es, dieses System der Verdummung mit ganz neuen Mitteln, vielleicht mit einer radikal-vernünftigen Denkweise und einer ganz neuen verblüffenden Sprechweise, so vorzuführen, dass sich jeder lächerlich macht, der sich noch systemimmanent verhält.“
„Seltsam, sie setzen auf mich und meinesgleichen, während ich dachte, dass Sie und Ihresgleichen am ehesten das System entscheidend beeinflussen könnten.“
„ Wir können bestenfalls den Politikern und den Bonner Ministerialen unsere Ideen so servieren, dass man sie nicht einfach beiseite legen kann, ohne sich selbst politisch zu schaden. Das geht aber nur mit Hilfe der Medien. Und wer von uns hat schon die Chance, dass seine tollen Ideen von den Massenmedien aufgenommen und zum Volk transportiert werden! Wir alle arbeiten doch weit überwiegend für die Schubladen.“
Bevor sie antworten konnte, fügte ich hinzu: „Sie haben in dieser Zeit mit Sicherheit mehr Einflussmöglichkeit als wir Rechtsgelehrten, Frau Hanselow. Sie können nach meiner Einschätzung mit Ihrer Power, Ihren Kenntnissen als Ökonomin und Ihren