Hubert Schem

Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn


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Berücksichtigung der vor Ort gewonnenen Erfahrungen noch einmal zusammenfassen zu dürfen. Er beschränkte sich auf die wesentlichen Fakten, zeigte auf, wie die Entscheidung des Landesamtes ausfallen könnte, und wies eindrücklich darauf hin, dass mit der Behördenentscheidung die Sache höchstwahrscheinlich nicht ausgestanden sei, weil entweder die eine oder aber die andere Seite Klage beim Verwaltungsgericht erheben werde. Leider müsse man nach der bisherigen Erfahrung damit rechnen, dass ein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht mindestens fünf Jahre dauere. Es sei auch nicht auszuschließen, dass es anschließend noch ein Revisionsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gäbe. Von dort könne die Sache wieder an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen werden, weil die untere Instanz nach Ansicht der Bundesrichter den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt hätte, der Rechtsstreit also noch nicht entscheidungsreif sei. Alles in allem könne es bis zu einer endgültigen Entscheidung noch zehn Jahre dauern. Im Interesse aller Betroffenen sei es dringend zu empfehlen, die Angelegenheit durch eine einverständliche Regelung zwischen dem Antragsteller und der Anker Schiffswerft GmbH zu beenden. Dabei müsse die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben als Anteilseigner der Werftgesellschaft mit einbezogen werden.

      Keiner der Anwesenden widersprach. Erst als der Referatsleiter konkreter wurde, machte sich Unruhe bemerkbar. Er führte zunächst aus, wie er persönlich die Chance des Antrags bewerte. Danach sei es zwar sehr wahrscheinlich, dass dem Grunde nach ein Anspruch bestehe. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein verfolgungsbedingter Verlust nicht nachgewiesen werden könne, schätze er mit höchstens zwanzig Prozent ein. Dagegen habe er große Bedenken, ob der Werft das antragsbefangene Flurstück, eines von mehreren, aus dem sich das Grundstück zusammensetze, insgesamt weggenommen werden könne. Nach dem Willen des Gesetzgebers habe der Erhalt von Arbeitsplätzen Vorrang vor dem Anspruch auf Rückgabe. Trotz aller Rückschläge bestehe offenbar immer noch eine realistische Chance, einige Hundert Arbeitsplätze zu erhalten. Diese Chance dürfe unter keinen Umständen durch die Rückgabe eines betriebsnotwendigen Grundstücks zunichte gemacht werden. Andererseits sei höchstrichterlich entschieden, dass Teile des zurückverlangten Grundstücks zurückgegeben werden müssten, wenn sie nicht betriebsnotwendig seien und wenn sie nach Abtrennung vom Gesamtgrundstück eigenständige Gegenstände des Rechtsverkehrs sein könnten.

      Bei den bekannten Schwierigkeiten, die verschiedenen Gesichtspunkte in Ziffern zu fassen, wolle er dies doch wagen. Und dann begann er mit Zahlen zu jonglieren, dass ich größte Mühe hatte, mir die wichtigsten Ziffern zu notieren. Ausgehend von einem geschätzten Gesamtwert des Grundstücks von rund 4,8 Millionen Mark machte er Abschläge für die vorher erwähnten Risiken, differenzierte dabei nach den festgestellten Nutzungen, nahm für eine zum Verkauf anstehende Fläche eine separate Berechnung vor und wandte auf das Zwischenergebnis noch einen Faktor an, der das unterschiedlich stark ausgeprägte Interesse der Parteien an einer schnellen Regelung berücksichtigen sollte. Und dann nannte er nach einer kurzen taktischen Pause endlich die Zahl, auf die wir alle gewartet hatten: 2,7 Millionen Deutsche Mark. Sein Vorschlag laute also: Die Anker Schiffswerft GmbH zahlt innerhalb eines Monats nach Abschluss der Vereinbarung 2,7 Millionen Deutsche Mark an den Berechtigten. Der Berechtigte erklärt alle Ansprüche hinsichtlich des Grundstücks für abgegolten.

      Ich war so mit meinen Notizen beschäftigt, dass ich nicht beobachten konnte, was sich in Richards Gesicht abspielte. Für mich überraschend, versuchten die Vertreter der Werft nicht, die Summe herunterzudrücken. Der Geschäftsführer schien beeindruckt von dem virtuosen Zahlenspiel des Referatsleiters und erklärte sofort sein Einverständnis. Wie zu erwarten, wies er jedoch darauf hin, dass er nur eine Empfehlung im vorgeschlagenen Sinne gegenüber der BvS abgeben könne. Die Entscheidung werde einzig und allein dort getroffen, zumal die Werft den Betrag nicht aus eigenen Mitteln aufbringen könne, da sie ohnehin schon tief bei der BvS in der Kreide stehe. Der Mitarbeiter des Landesamtes setzte nach und bot an, die Einigung sofort schriftlich zu fixieren. Um die BvS ins Boot zu holen, könne der Werft ein Widerrufsrecht von vier Wochen eingeräumt werden. Ich berief mich ohne Absprache mit Richard auf den Grundsatz der Waffengleichheit und verlangte für ihn ebenfalls ein Widerrufsrecht. Ein kurzes Nachhutgeplänkel ohne ernsthafte Gefahr. Nachdem der Geschäftsführer versprochen hatte, den Vorschlag des Landesamtes noch am gleichen Tag der BvS zu unterbreiten, beließen wir es schließlich bei den gegenseitigen mündlichen Absichtserklärungen.

      4

      Richard parkte in der Nähe eines wuchtigen Denkmals, auf dessen Besichtigung wir zunächst verzichteten. Wir schlenderten zu Fuß einige hundert Meter an der Kaimauer der Warnow entlang, bevor wir die Bundesstraße überquerten und uns zum Patriotischen Weg durchfragten. Ich wusste nicht, wie ich den von Richard anscheinend spontan vorgeschlagenen Besuch einzuordnen hatte und welche Rolle ich dabei spielen sollte. Ging es ihm darum, meine Meinung zu seiner möglichen Schwiegertochter oder Quasischwiegertochter zu hören? Oder sollte ich mit meiner Anwesenheit lediglich eine gewisse Verlegenheit verhindern, die sich bei einer Begegnung zwischen ihm und der Freundin seines Sohnes einstellen könnte? Als wir an einem grob strukturierten Gebäudekomplex einen Hinweis fanden, dass es sich um die Spielstätte des Rostocker Volkstheaters handelte, wechselten wir auf die andere Straßenseite und kehrten um. Nach wenigen Minuten fanden wir die gesuchte Adresse. Ich las den Text auf dem matten Messingschild und merkte sofort, wie meine verhaltene Stimmung umschlug. – Aus nichtigem Anlass, das räume ich gerne ein. Aber ich bin schon lange ein Genießer der kleinen Überraschungen und Herausforderungen, die dem Leben im großen Spannungsfeld die notwendigen Nebenspannungen geben, um das Interesse an der nächsten Minute, der nächsten Stunde, dem nächsten Tag wach zu halten. Für mich sind diese Nebenspannungen inzwischen sogar das Eigentliche geworden. Der Reiz der großen Spannung zwischen Leben und NichtIeben ist entweder verflogen oder war für mich immer nur ein Papierkonstrukt. Nach der Theorie soll dieser große Reiz ja hauptsächlich von der Verwunderung gespeist werden, auf der Welt zu sein und all die unendlich vielen Chancen wahrnehmen zu können. Ich muss gestehen, dass ich mich nicht erinnern kann, die Tatsache meiner Geburt jemals als besonders erregend empfunden zu haben. Dass ich auf der Welt bin, stand für mich nicht in Frage. Und zu fragen, warum ich es bin, wäre mir intellektuell gekünstelt vorgekommen. Ich lebe, will leben und hatte nie die Einstellung, irgendwer müsse mir mit einem Zaubergerät meine Zukunft präsentieren. Also habe ich versucht mitzuspielen. Dass ich mich immer mehr vom Stürmer zum Defensivspieler entwickelt habe, kann und will ich nicht bedauern. So ist der natürliche Verlauf, denke ich. Ohne die dicken Bretter der Philosophie zu bohren, ist mir allerdings eines deutlich geworden: Gegen den unfairsten aller Spieler, diesen hässlichen Spielverderber mit seiner absoluten Gewalt und dem daraus erwachsenden Drohungspotential habe ich letztlich keine Chance. Zu oft wurde mir in den letzten Jahren vor Augen geführt, wie ernst seine Drohgebärden zu nehmen sind. Ich hoffe nur, dass ich keine kindischen Kapriolen machen und den Rest des Spiels ohne Regelverletzungen durchstehen werde, wenn eines unschönen Tages das Signal AUS! nicht mehr zu übersehen ist. Aber ich habe nicht die Absicht, mich auf dieses unabwendbare Finale in langen Jahren vorzubereiten. Lieber versuche ich, den Tag und die Stunden auszukosten. -

      Noch einmal las ich die vier Zeilen auf dem Praxisschild:

      Dr. oec. Barbara Hanselow

       Unternehmensberatung

       Start-up-Hilfe

       Unabhängiger Ideenpool

      Für einen Beratungsberuf, dessen Profil weder gesetzlich festgeschrieben noch in vielen Jahren durch die Praxis eingeschliffen wurde, ist das Praxisschild ein wichtiger Werbeträger. Potentielle Klienten sollen aufmerken, wenn ihnen das Schild ins Blickfeld gerät, dürfen aber keinesfalls den Eindruck unseriöser Anpreiserei bekommen. Die junge Frau schien diese Kunst zu beherrschen. Wäre ich zufällig vorbeigekommen, hätte sich spätestens an der letzten Zeile meine Neugierde entzündet. Und was mich neugierig macht, das hat was - meine ich.

      Obwohl die Haustür weit offen stand, drückte Richard auf den Klingelknopf. Er ist nicht der Mann, der plötzlich vergnügt in der Tür steht, und meint, sein Überraschungscoup könne nur Anlass zu reiner Freude sein. Wenigstens einige Minuten musste er ihr zur Vorbereitung lassen. Ihre tiefe Altstimme hatte durch die Sprechanlage einen metallisch-hellen Beiklang. Sofort korrigierte ich das Bild, das ich mir nach Richards knapper Charakterisierung entworfen hatte. Als wir den Lift im Dachgeschoss verließen,