Hubert Schem

Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn


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der den Vorbeiflanierenden seine Ware aufzudrängen versucht.

      6

      „Wie findest du Richard in der letzten Zeit, Thomas? Kommt er dir nicht auch verändert vor“?

      „Verändert? – Nein, nicht wirklich. Wir telefonieren alle zwei bis drei Wochen miteinander. Jedes Mal bemüht er sich tapfer, mich nicht danach zu fragen, warum ich ausgezogen bin. Ich hätte sogar Verständnis dafür. Wenn ich auch nicht in der Lage wäre, ihm das plausibel zu machen. Also, frag du mich lieber nicht, Bernd. Du bist sowieso noch zu jung dazu.“

      „Alter Witzbold. Ich habe dich nicht gefragt und werde dich auch nicht fragen. Deine Sache.“

      „Danke. Jedenfalls macht Richard einen sehr fitten Eindruck auf mich. Ungewohnt lebhaft, schlagfertig, sogar witzig. Insofern hast du Recht. Ist es seine große neue Liebe? Oder hat ihn die Sache mit dem Grundstück in Rostock so mobilisiert?

      „Vermutlich beides.“

      „ Ich kann das mit dem Grundstück noch gar nicht richtig unterbringen. Für uns hier ist der Osten Deutschlands immer noch so weit weg wie Sibirien. Österreich und die Schweiz vor der Tür, Frankreich und Italien nicht weit, aber Rostock? Ein Punkt auf der Fernseh-Wetterkarte ganz oben im Nordosten, mehr nicht. Übrigens, deine neue Freundin sitzt doch vor Ort. Weiß sie irgendwas über das Grundstück? Können wir uns bald kontemplativ zurücklehnen im Vertrauen auf die große Erbschaft?“

      „Nanu, Bruder, seit wann ist deine berüchtigte Ironie auch noch makaber? Ich versuche das vollkommen zu verdrängen. Hab’ genug im Kopf mit meiner Aufgabe hier. Wir wissen ja von Monat zu Monat nicht, ob es weitergeht mit dem Projekt. Aber vielleicht solltest du direkt mit Barbara sprechen. Richard hat sie letzte Woche besucht, zusammen mit seinem seltsamen Freund Schnippenholz. Barbara war tief beeindruckt von dem. Was das für ein Typ ist, war mir nie klar. Irgendwie schräg. Wenn man es ihm auch nicht ansieht. Du müsstest ihn besser kennen als ich. Wie auch immer. Der ist anscheinend emeritiert und vertritt Richard in dem Rückgabeverfahren. Na ja, weiß nicht recht, ob das so angesagt ist. Aber geht mich auch nichts an. Richard würde ich es natürlich gönnen, wenn er plötzlich Millionär wäre. Ich will mich lieber selber durchschlagen.“

      „Mensch, Bernd, hast du einen personality change hinter dir? Das klingt so musterknabenhaft.“

      „Soll das heißen, ich hätte mich bisher gekonnt durchgeschnorrt, großer Bruder?“

      „Hilfe, nein, das soll es wirklich nicht heißen, Bernd. Vielleicht habe ich mehr an mich gedacht als an dich. Personality change hin, personality change her - ich würde lieber heute als morgen die Brocken hinschmeißen und was Neues anfangen. Wenn ich nur wüsste was und wie. Das wird von Tag zu Tag drängender. Irgendwer oder irgendwas zieht mir den Boden unter den Füßen weg.“

      „Klingt ja richtig dramatisch, Mann. Was ist denn los?“

      „Wenn ich das genau wüsste! - Verstöße gegen Denkverbote. Demotivation des Motivators. Entfremdung, wenn dir das noch was sagt. Ich kann es nicht in eine griffige Formulierung pressen. Ein Sabbatjahr wäre jetzt ein Geschenk des Himmels. Abstand gewinnen. Nachdenken. Dösen. Vielleicht neu entscheiden. Oder auch nicht. Vielleicht auch nur das eine Jahr voll genießen und dann im vertrauten Trott weitermachen. Egal, es ist sowieso nur eine schöne Illusion bei meinen finanziellen Verhältnissen.“

      „Ist das dein Ernst? Bei deinem Einkommen. Was soll ich denn sagen mit meinen mickrigen Mäusen?“

      „Zwei Haushalte für eine Familie sind finanziell einfach ein Desaster. Da kann ich noch so bescheiden leben. Außerdem – bevor ich ein Sabbatjahr mache, ist erst mal Hanna dran. Vierzehn-, fünfzehnjährige Hauptschüler sind harte Brocken. Die schaffen eine engagierte und sensible Lehrerin wie Hanna in wenigen Jahren. Es ist ein Jammer. Also werde ich mit meiner tollen Motivlage weiter unsere Führungskräfte motivieren. Damit komme ich schon zurecht. – Ist es nicht verrückt, Bernd, ich verliere den Boden unter den Füßen und bin nicht wirklich traurig drüber, während du anscheinend alles daran setzt, endlich festen Boden unter die Füße zu bekommen.“

      „O Mann, Thomas, das klingt gar nicht gut. Wir sollten uns wirklich bald sehen. Vielleicht kann ausnahmsweise der jüngere Bruder mal Aufbauhilfe leisten. Ich bin tatsächlich so gut drauf wie noch nie – trotz der unsicheren Berufssituation.“

      „Na klar, frisch verliebt wie du bist.“

      „Das auch. Aber das ist noch nicht alles. Meine Arbeit macht Spaß. Sinnvoll, neuartig, viel Gestaltungsfreiheit, eine Menge Kontakte. Und ich bin so gesund wie seit Jahren nicht mehr. In jeder Beziehung.“

      „Ich gönn es dir von Herzen. Und glaub ja nicht, ich wäre total am Boden. Ich muss mich nur neu orientieren. Im Beruf und in der Familie. Nur. So was kommt leider immer zur Unzeit. Und meistens gleichzeitig. Nicht schön der Reihe nach zum Abarbeiten. Aber diese Übergangszeit hat auch ihre Reize. Die Zwillinge sind in einer wunderbaren Phase. Womöglich die schönste ihres ganzen Lebens. Mit Hanna geht es immer besser. Seit ich ausgezogen bin. Oder weil ich ausgezogen bin. Wir sehen beide wieder mehr das Positive in unserer Beziehung. Keine täglichen Reibereien. Wir reden wieder lange und vernünftig miteinander, wenn es notwendig ist oder sich ergibt. Ich habe meine Techniken, bestimmte Themen zu vermeiden. Sie hat wahrscheinlich ihre. So läuft es viel besser als nur erträglich, manchmal sogar sehr gut. Mal abwarten, wie sich das entwickelt.“

      „Schade, dass wir fast tausend Kilometer zwischen uns haben.“

      „Ja, finde ich auch, Brüderlein. – Wie geht es deiner Mutter?“

      „Else? Unser Kontakt ist ziemlich spärlich geworden. Habe ich dir schon erzählt, dass sie nicht mehr allein lebt?“

      „Nein, hast du nicht. Hat sie endlich ihre große Liebe gefunden?“

      „Das kann ich kaum glauben. Stell dir vor, er ist ein passionierter Golfer. Das genügt mir schon. Ich verstehe nicht, wie ausgerechnet Else mit einem solchen Typen zusammenziehen kann. Bei ihrer politischen Einstellung. Keine Ahnung, womit der ihr den Kopf verdreht hat. Vielleicht ist sie einfach kampfesmüde geworden, hat alle ihre Grundsätze über Bord geworfen und versucht, sich in einem sorgenfreien bürgerlichen Leben einzukuscheln. Nach allem was sie durchgemacht hat, bedingt verständlich. Aber ich glaube nicht, dass es ihr gelungen ist oder je gelingen wird. Und es steht ihr einfach nicht. Es steht ihr wirklich und wahrhaftig überhaupt nicht. Es macht mich nur traurig, wenn ich daran denke.“

      „Das wäre was für Hanna. Schick deine Mutter mal zu ihr. Hanna dreht sie wieder um und macht eine Latenz-Sozialistin aus ihr.“

      „Eine was?“

      „Hanna träumt immer noch von ihren alten Ideen. Niemand darf verhungern. Niemand darf sich rücksichtslos bereichern. Niemand darf andere ausbeuten. Die lebenswichtigen Güter müssen weltweit so gesteuert werden, dass sie immer rechtzeitig dort sind, wo sie wirklich gebraucht werden. Kapitalismus und Marktwirtschaft schaffen das nicht. Sie sind irrational und ungerecht. Unzählige Hungernde, Obdachlose, Ausgebeutete ohne ein Fünkchen Hoffnung – von den Verhungerten, Erfrorenen und auf andere Weise vorzeitig Verreckten ganz zu schweigen. Wer das nicht akzeptieren will, muss für ein anderes Verteilungssystem kämpfen, ein im Kern gerechtes Verteilungssystem, weil von der Vernunft gesteuert. Und das ist nun mal einzig und allein der Sozialismus. Wer behauptet, der Sozialismus sei mausetot, weiß nichts von der Überlebensfähigkeit der großen Menschheitsideen. Er mag zwar seit einigen Jahren nahezu ohne Wirkungsmacht sein. Aber das ist aus der Sicht eines zukünftigen Historikers lediglich eine Art Latenzperiode. Irgendwann ist er wieder voll vital und wird mit der überlegenen Kraft der menschlichen Vernunft zur Macht drängen. Dann wird die große Zeit der Menschheit anbrechen. Die Vernunft wird regieren. Das Streben nach Gerechtigkeit wird nicht wie heute als Ausdruck niedriger Neidinstinkte gelten, sondern als die für das menschliche Zusammenleben notwendigste Voraussetzung. – So etwa die Latenzsozialistin Hanna Wiedendom-Wagner.“

      „Ein weiterer Grund, dass wir uns mal wieder sehen müssen. Und zwar unbedingt mit Hanna. Findest du das denn alles Schrott, Thomas?“

      „Wenn ich es könnte,