Hubert Schem

Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn


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mit sehr bescheidenen Mitteln bestreiten musste. So etwas stand in keinem Lehrbuch.

      Richard hatte mir erzählt, dass es ihm im Sommer 1990 nur nach hartnäckigen Verhandlungen mit einem pflichtbewussten Pförtner gelungen war, auf das Werftgelände gelassen zu werden. Mit einer Mischung aus prickelnder Neugierde, Erinnerungsfetzen und wachsendem Unbehagen hatte er versucht, das frühere Wiedendom-Grundstück auf dem weitläufigen Gelände zu finden. An einer Verzweigung der Hauptwerkstraße war ihm dann plötzlich klar geworden, dass er nichts mehr von den Merkmalen des Grundstücks, die er noch in Erinnerung hatte, finden würde. Keine Kies- und Sandberge, keine Gleisanlage mit beladenen und leeren Loren, kein Entladekran am betriebseigenen Kai, nichts mehr von der großen Baracke mit einem Büroteil, einem Aufenthaltsraum für die Belegschaft und mit einer kleinen Wohnung. Wie aus einem Traum in die nüchterne Wirklichkeit erwacht, war er umgekehrt, hatte seinen Passierschein wortlos beim Pförtner abgegeben und war zu seinem außerhalb abgestellten Wagen geeilt.

      iIm Frühjahr 1997 konnten Richard und ich problemlos mit dem Wagen auf das Werftgelände fahren. Die Pförtnerloge war unbesetzt. Niemand hielt uns auf. Nichts von dem vage erwarteten Konzert kreischender, dröhnender, zischender, knallender Maschinen, sondern eine unbehagliche Stille. Dämmrige Werkshallen. Und nur hier und da einzelne Arbeiter auf dem Gelände.

      Wir wurden im Verwaltungsgebäude erwartet. Die mächtigen Anlagen des benachbarten Reparaturdocks verwiesen den ansehnlichen Klinkerbau auf einen bescheidenen Rang. Ein einfacher Büroraum war zum Besprechungszimmer umfunktioniert worden. Hier zwang kein ausladender Konferenztisch die Teilnehmer, sich in eine Frontlinie einzuordnen. Nach zurückhaltend-freundlicher Begrüßung glaubte ich sekundenlang bei den Werftvertretern eine Mischung aus Anspannung, Unsicherheit, Bereitschaft zur Interessenvertretung und Resignation zu erkennen. Der Geschäftsführer der Anker Schiffswerft GmbH, die im Mai 1990 aus dem Volkseigenen Betrieb hervorgegangen war, wurde von zwei Abteilungsleitern und einem jungen Rechtsanwalt unterstützt. Das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen war durch drei Juristen vertreten. Von der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) – neuer Name der ehemaligen Treuhandanstalt - war zu meinem Bedauern niemand erschienen. Obwohl der Geschäftsführer diese Tatsache als unwesentlich darzustellen versuchte, war mir sofort klar, dass die auf Initiative des Landesamtes anberaumte Besprechung unter diesen Umständen nicht zu einem schnellen Ergebnis führen konnte. Auch wenn wir mit den Werftvertretern zu einer abschließenden Einigung kamen, konnten wir nicht sicher sein, ob das Verfahren damit beendet wäre. Die BvS als einzige Gesellschafterin der GmbH hatte sich generell vorbehalten, derartige Einigungen zu genehmigen.

      Der Referatsleiter des Landesamtes führte konzentriert und um strikte Neutralität bemüht in den Verhandlungsgegenstand ein. Tatsachen, die den Rückgabeanspruch begründen, andere Tatsachen, die ihm entgegenstehen könnten. Unklarheiten, Zweifelsfragen. Ich bemühte mich, die wichtigsten Daten zu notieren und gleichzeitig die strategischen Konsequenzen für mich als Verfahrensbevollmächtigten Richards zu bedenken.

      Abschließend bat der Referatsleiter den Geschäftsführer der Werft, die wesentlichen Stationen der Entwicklung der Werft seit der Wende darzustellen, eine realistische Prognose für die kommenden Jahre abzugeben und insbesondere darzulegen, inwiefern das zurückverlangte Grundstück betriebsnotwendig war, noch sei und bei wirtschaftlich vernünftiger Betrachtungsweise voraussichtlich auch bleiben werde. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist eine Rückgabe ausgeschlossen, wenn zwar alle Tatsachen erwiesen sind, die den Anspruch auf Rückgabe begründen, wenn jedoch das Grundstück für einen Gewerbebetrieb zum Zeitpunkt der Wende lebensnotwendig war und es seitdem geblieben ist. Auf diese Weise wollte der Gesetzgeber verhindern, dass Arbeitsplätze durch die Rückgabe von Grundstücken an frühere Eigentümer oder deren Erben vernichtet wurden.

      Der Geschäftsführer sprach präzise und emotionslos. Totaler Verlust aller Auftraggeber mit dem Zusammenbruch der Staatswirtschaft in den Ländern des Ostblocks. Schnellste Orientierung am freien Markt. Notwendigkeit, sich in die gegebenen Strukturen des Westens einzufügen. Verzicht auf den Bau von neuen Schiffen. Statt dessen Spezialisierung auf Schiffsreparaturen und -wartung. Zwei Ansätze zur Privatisierung gescheitert, weil die Investoren den Mund zu voll genommen hatten. Jetzt brandneue Kontakte zum Kapitaleigner einer renommierten westdeutschen Werft. Im Moment mäßige Auslastung, aber durchaus Chancen für die Erhaltung von etwa fünfhundert Arbeitsplätzen von einstmals über zweitausend. Mehrere hundert Mitarbeiter in einer Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaft „geparkt“. Es wäre wirtschaftlich fatal, diese qualifizierten und spezialisierten Mitarbeiter auf Nimmerwiedersehen zu entlassen. Insofern absolute Betriebsnotwendigkeit der Halle, die von dieser Gesellschaft genutzt wird. Nutzung einer weiteren Halle derzeit für betriebsinterne Reparaturarbeiten, zugegebenermaßen nicht sehr intensiv. Aber schweres Hemmnis bei den Privatisierungsverhandlungen, wenn ein derartig wertvoller Teil aus dem Gelände herausgeschnitten werden müsste. Im übrigen Nutzung für die jeweiligen Produktionszwecke der Werft seit der Wende.

      Auf eine Frage des Referatsleiters, wie die beiden Hallen technisch mit dem übrigen Grundstück verflochten seien, kam der Vorschlag, sich dies im Gelände anzusehen. Vor Ort machten wir eine banale Erfahrung: Was auf der Flurkarte vollkommen klar erschien, hatte im Gelände keine Entsprechung. Die exakt bestimmten Grenzen in den Katastern Deutschlands, die das Land zu einem riesigen Flickenteppich aus Hunderttausenden von Flurstücken macht, finden sich in der Natur nicht vor. Wir versuchten uns anhand der auf der Flurkarte eingezeichneten Strassen und der Wassergrenze zu orientieren, konnten aber trotzdem nicht genau bestimmen, wo die Flurstücksgrenzen verliefen. Der technische Leiter der Werft hob hervor, dass die gesamte sichtbare und unsichtbare Infrastruktur des Werftgeländes eine technische Gesamtheit sei, die keine Flurstücksgrenzen kenne. Auf meine Rückfrage räumte er jedoch ein, über kurz oder lang, müssten sowohl die Versorgungsleitungen als auch die Abwasserkanäle erneuert werden. Und auf mein weiteres Insistieren bestätigte er meine Vermutung, dass auch die Werkstraßen in absehbarer Zeit zum Teil neu geführt werden müssten.

      Der anschließende Meinungsaustausch war geprägt von Hypothesen. Wie wäre die Rechtslage, wenn ...? Welche Rechtsfolgen träten zwangsläufig ein, wenn diese oder jene Annahme sich als richtig oder als falsch erwiese? Mich erstaunte das hohe Maß an Sachlichkeit bei allen Anwesenden. Keiner versuchte, die Interessen der anderen Seite als fragwürdig darzustellen oder die Tatsachen für die von ihm vertretenen Interessen zu verbiegen. Von Richard hatte ich nichts anderes erwartet. Meine Sorge war eher gewesen, dass er taktische Fehler machen könnte, weil er die wirtschaftliche Entwicklung in Rostock keinesfalls behindern wollte. Er beschränkte sich jedoch zunächst darauf, zu begründen, warum die Nazis seinen Vater als Gegner betrachten mussten. Er habe keinen Zweifel, dass seinem Vater das Grundstück mittelbar verfolgungsbedingt entzogen worden sei. Dies lasse sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus den Gründen des Volksgerichtshofurteils entnehmen. Die seinerzeit für die Rückgabe des Unternehmens in Spandau zuständige Behörde habe überhaupt keine Zweifel daran gehabt, dass der Verlust des Unternehmens eine Folge des Volksgerichtshofurteils war, obwohl das Urteil selbst auch ihr nicht vorgelegen habe. Unabhängig von den Bemühungen des Amtes lasse er seit einigen Monaten in allen auch nur entfernt in Frage kommenden Archiven nach der Prozessakte des Volksgerichtshofes und nach anderen Unterlagen suchen. Zu der Frage, ob die Rückgabe des Grundstücks ausschlaggebend für die weitere Entwicklung der Werft sein könne, meinte er dann etwas sybillinisch: „Wissen Sie, Prognosen über die Unternehmensentwicklung für einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren sind nach meiner eigenen unternehmerischen Erfahrung so hoch spekulativ, dass ich darauf nicht einmal eine Baracke bauen würde.“ Eine typische Richard-Bemerkung. Ohne jede Rücksicht auf die Wirkung für oder gegen seine eigenen Interessen.

      Der Geschäftsführer schmunzelte flüchtig, und ich meinte, etwas wie Respekt und Dankbarkeit für die unerwartete Unterstützung aus seinen Zügen lesen zu können. Dann fing er den Ball auf und führte mit großem Ernst aus, er könne nur nach bestem Wissen und Gewissen handeln und planen. Luftschlösser dürfe und wolle er allerdings auch nicht bauen. Man müsse aber berücksichtigen, dass es in der Wirtschaftsgeschichte noch keine vergleichbare Situation gegeben habe. Deshalb müsse man in den neuen Bundesländern den Horizont der Optionen viel weiter ausdehnen als in den alten Bundesländern, wo die Unternehmer auf ihre langjährige Erfahrung zurückgreifen könnten.

      Als