Hubert Schem

Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn


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und dass keiner eine Chance habe zu überleben. Nach dem Ende des Krieges wurde offen das Gerücht verbreitet, es sei in Wirklichkeit ein Einzeltäter gewesen, der sich im Hafen bestens ausgekannt habe. Er habe unter Wasser eine Mine am Rumpf des geheimnisvollen Schiffs angebracht und sie mit Hilfe eines Drahtes aus der Ferne gezündet. Der Name Wiedendom wurde hinter der vorgehaltenen Hand getuschelt. Großvater selbst hat nie ein Sterbenswörtchen über den Vorgang verloren.“

      „Und woher weißt du, dass er es war.“

      „Ein Geheimnis. Ich weiß es eben, Punktum!“

      Er sah wieder zu ihr hinüber. Sie lächelte in sich hinein, ohne aufzuschauen.

      Am Abend war sie es, die sich ihm zuwandte: „Tut mir übrigens leid, dass ich mich eingemischt habe. Ich weiß nicht, was ich befürchtet hatte. Jedenfalls warst du richtig gut. Die Geschichte ist mir ans Herz gegangen, wenn sie auch vermutlich nicht viel Wahres enthält.“

      „Wahres ...? Wenn ich das wüsste. Ich kann dir nicht einmal genau sagen, woher ich das habe. Es gab Zeiten, da wurde viel erzählt im Hause Wiedendom.“

      „Vor oder nach dem Tod deiner Mutter?“

      „Vorher. Aber Mutter hat solche Geschichten nicht erzählt. Sie kannte die Spandauer Gerüchteküche überhaupt nicht. Sie war ja keine Berlinerin, sondern stammte aus Düsseldorf.“

      „Ich weiß. Also war dein Vater der Geschichtenerzähler?“

      „Nein, nein, der erst recht nicht. An solchen Spekulationen hätte der sich niemals beteiligt. Das waren für ihn Lügengeschichten, solange nicht jede Einzelheit als Tatsache bewiesen war. Und Mutter war in der Beziehung übrigens genau so. Phantastereien lagen ihr nicht, trotz ihres heiteren Gemüts. - Nein, das waren Küchengeschichten im wahrsten Sinne des Wortes. Damals hatten wir noch eine Hilfe. Das heißt, eigentlich die Großeltern. Bei uns hat sie nur gekocht, weil die Großeltern mittags herunterkamen und mit uns zusammen aßen. Und es gab Onkel Pankoke. Ein Ur-Spandauer. Der war nicht viel jünger als Großvater. Aber er kümmerte sich immer noch um den riesigen Garten. Und vormittags schälte er oft in der Küche Kartoffeln oder putzte Gemüse. Er und Sosi – ich weiß nicht, wie sie wirklich hieß - das waren damals meine Haupterzieher, denke ich. Er immer noch drahtig und mit tausend Falten im Gesicht, mit dem Kartoffelkörbchen auf dem Schoß neben dem Spülstein sitzend. Sie rund und rotbackig am Herd hantierend. Onkel Pankoke mit einer supertiefen Stimme – wie aus den tiefsten Tiefen einer Märchenhöhle. Sosi mit einem fast silberhellen Sopran, wenn sie sang. Und sie musste jeden Morgen irgendein Lied singen, deutsch oder polnisch, sonst war sie unglücklich. Oder aber mir fehlte etwas am vollen Tagesglück. Wenn sie sprach, konnte man noch die Überreste ihres östlichen Akzents hören. Sie war 1940 als sogenannte deutschblütige Polin heim ins Reich, wie die Nazis das nannten, verschubt worden. Fünfundzwanzig und mit einem Polen verlobt, der in deutscher Kriegsgefangenschaft war. Kein Grund, sie dort zu lassen, wo sie verwurzelt war. Ab mit der ganzen Großfamilie ins Brandenburgische. Und ich saß in meiner Lieblingsecke auf der Bank hinter dem Tisch. Die Gruselgeschichten von Scheintoten, von Gespenstern. Von einem nach seinem Tod ruhelos an den Stätten seines üblen Wirkens herumgeisternden Werber für die Garde der Langen Kerls, die der kleine preußische König Friedrich Wilhelm I. als persönliche Marotte aufstellen ließ. Ein Werber dessen List und Tücke die aller anderen in die deutschen Lande ausgeschwärmten Werber übertraf. Geschichten über Märtyrer aus Sosis Mund, von Kriegshelden – allerdings nur von 70/71 oder früher - aus dem Mund von Onkel Pankoke. Sosis vermenschlichte Version der Urgeschichte vom Kadavergehorsam. In ihrer Version fand Abraham immer neue Tricks, die ihm befohlene Ermordung seines Sohnes ohne offene Revolte nicht auszuführen. Er wetzte das Messer, prüfte seine Schärfe an einem Zweig, wetzte von neuem, prüfte, ließ sich eine lange Anrufung Gottes einfallen, wetzte noch einmal, prüfte wieder, rief seinen Herrn in anderen verschlungenen Sätzen an, erzählte ihm von den Talenten, der Anmut und der Liebenswürdigkeit seines spätgeborenen Sohnes Isaak, erfand immer neue Geschichten, bis sein Gott sich endlich rühren ließ und einen Bock als Ersatzopfer akzeptierte. Onkel Pankoke, der zahlreiche Strophen eines seltsamen Gedichts über eine Episode mit dem Alten Fritz aufsagte. Wie der König nach einer gewonnenen Schlacht durch die Straßen ritt und die zusammenlaufenden Kinder erzürnt in die Schule schicken wollte, von ihnen aber lauthals ausgelacht wurde. Ich kann die letzten Verse noch auswendig: Der ganze Chor fiel jubelnd ein: Der Alte Fritz will König sein und weiß nicht, dass zu dieser Frist des Mittwochs keine Schule ist! - Ich weiß bis heute nicht, wer und was für eine Absicht hinter diesen Versen steckt. - Na ja, und manchmal erzählte Onkel Pankoke auch etwas von Großvater und Großmutter. Und von dem sagenhaften Onkel Willi. Nichts von meinem Vater. Das war für ihn wohl aus irgendwelchen Gründen ein Tabu. Ob die Geschichten reine Tatsachen oder reine Gerüchte waren, ob Tatsachen oder Gerüchte mehr oder weniger mit den Phantasieprodukten des Erzählers ausgeschmückt wurden oder ob es sich um eine Mischung aus den verschiedensten Quellen handelte - ich konnte es damals nicht beurteilen und weiß es heute so wenig wie damals. Meine späteren Versuche, mit Vater darüber zu sprechen, waren absolut erfolglos. So freundlich und offen er sonst zu mir war, sobald ich diese Themen anschnitt, ging bei ihm der Rollladen runter. – Na ja, ich bin inzwischen aus der Phase heraus, wo es mir so wichtig war, genau zwischen Tatsachen und Fiktion zu unterscheiden. Ich bin nun mal kein Richter. Von meiner Entscheidung, ob eine Behauptung wahr oder unwahr ist, hängt glücklicherweise nicht das Wohl und Wehe eines Menschen ab. Warum nicht einfach ein bisschen spekulieren. Familiengeschichten sind doch immer auch Lügengeschichten.“

      „Lass das nicht meine Schülerinnen und Schüler hören. Ich versuche gerade mühsam, ihnen beizubringen, wie wichtig es ist, Tatsachen und Phantasien exakt auseinander zu halten.“

      „Versprochen! Und im übrigen besteht jetzt keine ernsthafte Gefahr mehr.“

      „Ja, leider!“

      „Höre ich gerade ‚leider’?“

      „So war meine Rede. - Und soll ich dir noch etwas sagen?“

      Ihre Stimme verriet ihm, dass ein höchst angenehmer Themenwechsel anstand. „Etwas Wahres oder ...?“

      „Was hältst du von einer multimethodischen Fortsetzung in meinem Bett?“

      Er brauchte nur eine Sekunde für seine Entscheidung. Dann zog sein breites Lächeln über sein Gesicht: „Überredet nicht, nicht im geringsten überzeugt; aus dunklen Gründen aber total überwältigt. Wohlan denn!“

      3

      Richards vertrauensvoller Auftrag ging zu Lasten eines Projekts, das mir schon viele Jahre unscharf vorgeschwebt, das ich aus wechselnden Gründen aber nie in Angriff genommen und schließlich auf die Zeit nach meiner Emeritierung verschoben hatte. Ich wollte mit einer zündenden populärwissenschaftlichen Abhandlung einer breiten Öffentlichkeit vor Augen führen, welche schädlichen Auswirkungen sprachliche Schlamperei auf das Bewusstsein der denkenden und handelnden Bürger und damit auf wirtschaftliche und politische Entscheidungen haben kann. Als Beispiel dafür wollte ich einen Begriff unter die Lupe nehmen, der in den verschiedensten Fach- und Rechtsgebieten sowie im Alltagsleben von Millionen eine höchst bedeutsame Rolle spielt: das Unternehmen.

      Als Student im ersten Semester hatte ich gelernt, die zwei großen Begriffe Rechtssubjekt (oder auch Rechtsinhaber) und Rechtsobjekt (oder auch Rechtsgegenstand) strikt voneinander zu unterscheiden: Wer Rechtssubjekt sein kann, kann niemals Rechtsobjekt sein, und umgekehrt. Ein juristischer Laie, aufgefordert, Gründe für die eindeutige Abgrenzung zu nennen, würde vermutlich spontan die Schwergewichte Sklaverei, Leibeigenschaft und Frauenkauf anführen. Menschen als Objekte im Rechtsverkehr – das ist heute nicht mehr ernsthaft diskutabel. Das wäre eine krasse Verletzung der Würde des Menschen, die im Grundgesetz als unantastbar garantiert wird. Die inzwischen übliche Schreib- und Sprechweise der Sportjournalisten, wenn sie vom sogenannten Spielermarkt berichten oder von einzelnen Fußballprofis, die den Verein wechseln wollen oder sollen, kennt zwar längst keine Anführungszeichen oder ironisierenden Adjektive mehr – Kauf und Verkauf, Anschaffungspreis und Amortisation werden wie bei einem Sachgegenstand verwendet -, aber ich wage nicht zu entscheiden, ob diese Sprachrohheit lediglich eine zur Gewohnheit gewordene Provokation sein soll oder ob den Schreibern das