Hubert Schem

Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn


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und manchmal sogar mit kühlem Kopf. Aber nie konsequent und dauerhaft. Ich weiß nicht, ob ich zutiefst doch zu bürgerlich war oder einfach zu skeptisch, um an den Erfolg zu glauben und dafür zu kämpfen. Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich trotz aller Skepsis und aller Horrormeldungen aus dem kommunistischen Block zutiefst gehofft habe, die im Osten würden schließlich doch eine Alternative zum Kapitalismus zustande bringen, die sich sehen lassen könnte. Ich gehöre auch heute noch nicht zu denen, die eine Gänsehaut vor Ehrfurcht kriegen, wenn das hohe Lied des Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft intoniert wird. Obwohl ich mir immer wieder eingeredet habe, total illusionslos zu sein, ist jetzt irgendwas in mir enttäuscht. Ich bin sogar richtig sauer, dass das Experiment im Osten so mickrig ausgegangen ist. Dabei muss man wirklich froh sein. Keine Atomraketen gezündet, kein einziger Schuss, kein Tropfen Blut. Wer hätte das vor zehn, fünfzehn Jahren gedacht!“

      „Da war ich politisch noch ein Analphabet. Keine Ahnung, was da wirklich los war.“

      „Gut für dich. So musst du dich mit dem Wirrwarr der damaligen Zeit gar nicht mehr befassen. Man war sich nie sicher, auf welcher Seite die Ideologen und Fantasten und auf welcher die Realisten waren. – Wie kamen wir eigentlich darauf? Ach so ... Hanna. Was mich immer wieder auf die Palme gebracht hat, war nicht ihre Überzeugung an sich, sondern die Ignoranz, mit der sie alle negativen Erfahrungen abtat. Die Geschehnisse im Ostblock in den letzten Jahrzehnten hatten gar nichts mit dem echten Sozialismus zu tun. Ein historisch betrachtet kurzer Irrweg unter falscher Flagge. Der Mensch ist und bleibt gut und vernünftig. Egoismus, Korruption und Machtrausch sind keine bedeutsamen Komponenten, die man in der Politik berücksichtigen müsste. Die Millionen Opfer gehen nicht zu Lasten der Idee, sondern sind allein den Führern zuzuschreiben, die die Idee verraten oder nie richtig verstanden haben. Die Wirklichkeit, die wirtschaftlichen, die gesellschaftlichen, die psychischen Realitäten sind nur dann von Bedeutung, wenn sie sich in das Ideengerüst einpassen lassen. Ansonsten sind es krude Tatsachen, die man mit idealistischem Hochmut ignorieren darf. Das Bewusstsein prägt das Sein. Als hätte es Marx und die anderen Materialisten in der europäischen Philosophie nie gegeben. Das ist platonischer Sozialismus, wenn dir das was sagt. Diese von schwäbischen Pfarrern und Lehrerinnen kultivierte Ignoranz kann mich immer wieder zur Weißglut bringen. – Ach, nimm es nur nicht zu ernst, Bernd. Das war mal wieder einer meiner psychischen Brechanfälle, die mich seit einiger Zeit manchmal attackieren. Ich weiß selbst am besten, dass Hanna keineswegs so simpel ist. Halt du ihr nur die Stange. Ich bin der Letzte, der etwas dagegen hätte.“

      Als er aufgelegt hatte, merkte er, dass der kalte Schweiß von seinen Achselhöhlen fast den Gürtel erreicht hatte. Ein freundliches und doch nicht belangloses Gespräch unter Brüdern wie schon lange nicht mehr. Warum nur, verdammt noch mal, dann dieser schwitzige Anfall von Eifer, dachte er. Verständnissuche ausgerechnet beim kleinen Bruder? Oder das Zusammentreffen von Erinnerungen an eine paradiesische Zeit mit dem Bewusstsein für die Verknotungen aus Missverständnissen und fehlgeschlagenen Klärungsversuchen in einer späteren Phase?

      Thomas blickte auf seine Armbanduhr. Zehn vorbei. Zu früh, ins Bett zu gehen, zu spät, noch etwas geistig Anspruchsvolles zu beginnen. Er ging zu seinem Bücherregal und suchte nach dem Schuhkarton mit den Photos, den er bei seinem Auszug aus der Familienwohnung problemlos mitgenommen hatte. Um den Inhalt dieses Kartons konnte es keinen Streit geben. Er hatte sie in den gemeinsamen Hausstand eingebracht, er nahm sie wieder in seine Junggesellenwohnung mit. Die Zwillinge hatten dem angestaubten Karton vor Jahren neues Leben eingehaucht. Immer wieder schleppte einer ihn an und ließ sich erklären, wer genau wer sei, wo, wann und unter welchen Umständen die Bilder entstanden seien. Meistens kam der andere bald hinzu. Es hatte sich eine Art von Ritual daraus entwickelt. Photos anzuschauen war für Kinder eine Entdeckungsreise, verbunden mit dem nie versiegenden Genuss, von der größten Autorität bestätigt zu bekommen, wie gut man sich schon auskannte in der Familie. Thomas selbst hatte es immer vorgezogen, sich seine Erinnerungen unabhängig von Schnappschüssen oder gestellten Photos zu bewahren und zu gestalten. Jetzt fühlte er sich so ausgewrungen, dass kein Einwand seinen Impuls unterdrückte.

      Wahllos nahm er einen Packen Photos heraus. Die Zwillinge hatten längst jedes System aufgelöst. Thomas starrte auf die Bilder, ohne richtig hinzusehen, ließ sich beeindrucken, ohne wirklich beeindruckt zu sein und hörte nicht auf, als er merkte, wie sein mattes Interesse an seiner eigenen Kindheit überlagert und vermischt wurde von den Stimmen der Zwillinge, die eifrig im Wechsel das Gesehene beschrieben, immer wieder seine eigenen Worte und Sätze benutzend. Die aufkommende Müdigkeit, eine schwache Ausprägung von Nostalgie und die Vorstellung von den Zwillingen in Aktion, die mit wellenartigen Attacken alles andere verdrängte, erzeugten eine behaglich-traurig-rührselige Stimmung. Thomas merkte zwar, dass er in einen Zustand stark verminderter Selbstkontrolle hinüberglitt, ließ sich aber ohne Gegenwehr von dem angenehmen Sog in seine private Zufluchtshöhle ziehen.

      Rückzug aus der vordersten Linie des Bewusstseins. Die Konturen verschwimmen lassen. Darauf verzichten, Vorgänge, Gedanken und Gefühle zu registrieren, zu bewerten und in Systeme einzuordnen. Die genaue Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich auflösen lassen. Tatsachen und Phantasien beliebig vermischen. Die Namen, das Aussehen, den Charakter von Personen nach Lust und Laune verändern, auswechseln, miteinander verbinden. Eigenschaften und Geschehnisse ausschmücken. Das Spiel mit wechselnden Möglichkeiten variieren. Keinen Druck zur Selbstkontrolle und Rechtfertigung spüren. - Thomas liebte diesen Zustand. Ein störungsfreies Milieu in einer streng privaten Zufluchtshöhle. Aber er wusste jederzeit, dass diese Höhle keine wirkliche Zuflucht sein konnte, dass es nur ein Spiel war. Ein Spiel, das ihn für kurze Zeit beherrschte, weil er sich beherrschen lassen wollte.

      War es nicht übertrieben gewesen, was er Bernd über seine berufliche Situation erzählt hatte? fragte sich Thomas jetzt. Hatte er wirklich den Boden unter den Füßen verloren? Wieso hatte er diese dramatische Formulierung gegenüber Bernd gebraucht? Er konnte sich nicht an ein Ereignis erinnern, das sein gelassenes berufliches Engagement radikal in Frage gestellt hätte. An keinen Zusammenstoß mit einem Vorgesetzten oder Kollegen. An keine spektakuläre Information. Auch an keinen außergewöhnlichen Diskussions- oder Denkprozess. Schon gar nicht an eine alles umstürzende plötzliche Gefühlsattacke.

      Thomas erinnerte sich, wie er gelegentlich sein höchst privates Spiel in die berufliche Sphäre zu übertragen versucht hatte. Nachdem er seine Anfangsillusionen über den Sinn seiner Tätigkeit bereits über Bord geworfen und akzeptiert hatte, dass es bei den Führungskräfteschulungen nicht darum ging, den Menschen im Unternehmen in seiner ganzen Tiefe und Breite herauszufordern und zu fördern. Als Diplompsychologe und Soziologe im Personalwesen hatte er schnell und ohne bleibenden Schaden die Feuertaufe der betrieblichen Praxis überstanden. Er hatte akzeptiert, dass sein Beitrag innerhalb der Schulungen nicht darin bestand, Erkenntnisse über das menschliche Zusammenleben zu vermitteln, auch nicht darin, zu lehren wie man seine ganz individuellen Methoden entwickeln kann, das eigene Lebenspotenzial zu mobilisieren und Probleme zu bewältigen. Es ging einzig und allein darum, tüchtige Führungskräfte noch tüchtiger zu machen, damit sie die ihnen gesetzten Teilziele innerhalb des großen Unternehmensziels erreichten.

      Wenn Thomas es gewagt hatte, den Führungskräften sein privates Spiel als Mittel zur beruflichen Motivation zu empfehlen, dann in einem Anfall von Übermut. Ein mäßig riskantes Spiel mit dem Feuer. Die grobschlächtigen Aktivisten unter den Teilnehmern und auch die immer auf der Lauer liegenden Kritiker, denen der Scharfsinn aus den Augen blitzte, hielt er mit dem Schlagwort „schöpferischer Rückzug“ in Schach. Schöpferischer Rückzug - dagegen durfte in einem innovativen Unternehmen niemand ernsthaft argumentieren und agieren. Alle Führungskräfte und Mitarbeiter waren verpflichtet, am nie abgeschlossenen Schöpfungsprozess aktiv teilzunehmen. Das Unternehmen konnte nur überleben, wenn ständig neue Ideen geboren wurden. Und allen Methoden, die der Kreativität förderlich sein konnten, galt es eine Chance der Erprobung zu geben. Hüten Sie sich vor der Fixierung des Tunnelblicks, meine Damen und Herren! Vergewissern Sie sich immer mal wieder, dass Sie noch fähig sind, weit ins Land zu schauen. Vergessen Sie nie, dass aus Träumen etwas sehr Handfestes entstehen kann. Für Thomas war es ein reizvolles Spiel gewesen, die Führungskräfte derartig zu verunsichern, um anschließend zu beobachten, wie schnell und auf welche Weise sie zum Wohlvertrauten zurückkehrten.

      Thomas