Robert Ullmann

Herbstfeuer


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bald hier sein.“

      Sie warteten eine kurze Weile. Bald darauf kamen andere Männer durch eine kleine Gasse auf den großen Platz hinaus. Es waren ihrer etwa fünfzig.

      „Das sind Toreks Männer“, flüstere Timmrin zu dem alten Buckligen. Die Männer stießen leise hinzu, einige begrüßten sich mit gedämpfter Stimme.

      „Wo bleiben die Jungs aus dem Grubenviertel?“, zischte der Alte halb zu sich selbst. Einen Augenblick später tauchten weitere Männer, etwa drei Dutzend, lautlos hinter einer Hausecke auf.

      „Da kommen sie ja, die halben Portionen“, raunte ein hoch gewachsener Kerl.

      „Kann nicht jeder ein Schmied sein und breit wie zwei“, gab einer der Ankömmlinge zurück.

      „Torek?“, der alte Bucklige drehte sich suchend um.

      „Ich bin hier!“, erwiderte eine leise, rauchige Stimme.

      „Es sind alle gekommen, auf die man zählen kann.“

      „Diese paar?“, empörte sich der Bucklige.

      „Es wird reichen müssen“, entgegnete Torek. „Wir legen das Feuer und geben Fersengeld.“

      Torek bekam nur ein missmutiges Knurren zur Antwort.

      „Jetzt im Sturm!“, flüstere Timmrin ungeduldig. „Wir haben nur diese Chance!“

      Da klemmte sich der Alte langsam seinen Stab zwischen die Achsel, hob seine Laterne so hoch er konnte und schritt eilends voran. Die anderen folgten ihm.

      Bald waren die jüngeren, die schnelleren an der Spitze und erreichten die Brücke.

      Als sie das Tor der Festung am Ende des Brückenbogens beinahe erreicht hatten, stoppte Timmrin in vollem Lauf und brüllte: „Halt!“

      Einige hielten, einige liefen weiter. Doch bremsten auch sie und blieben stehen, als sie sahen, dass die Tore der Kaserne sich öffneten.

      Einen Augenblick lang standen sie da wie erstarrt. Eine vorüberziehende Nebelschwarte trübte die Sicht.

      Und dann sahen sie sie, die Soldaten, blickten in die Gewehrläufe zweier starrer Schützenreihen, die sich hinter dem Tor postiert hatten. Und während bereits die ersten der Festung den Rücken kehrten und davon rannten, andere sich zu Boden warfen und wieder andere noch immer regungslos, dem Tor zugewandt wie gefroren stehen blieben, wurde das Feuer eröffnet.

      Etwa ein Dutzend waren es, deren Körper getroffen auf dem Brückenpflaster aufschlugen. Jene, die stehen geblieben und nicht getroffen waren, kehrten um und rannten. Die zweite Salve krachte und sie forderte ihren Tribut. Die meisten Flüchtenden hatten bereits den Bogen der Brücke überschritten und waren den Gewehrkugeln der Soldaten entronnen.

      Timmrin grub seine Fingerspitzen zitternd in die Ritzen im steinernen Pflaster, während er regungslos auf der Brücke lag. Jede Sekunde wurde lang wie ein Menschenleben, in welchem er sich schlagartig nur noch als passiver Zuschauer fühlte.

      Die dritte Salve krachte. Eine Kugel schlug direkt neben seinem Kopf ein. Kleine Steinsplitter schlugen ihm ins Gesicht. Einen Augenblick lang schien alles wie ein Alptraum – die Fähigkeit, selbst zu handeln, oder etwas zu beeinflussen, ihm abhandengekommen.

      Dann öffnete er seine Augen und sah in die des alten, buckligen Mannes, der neben ihm lag. Er zwinkerte, doch schien sein Geist nicht mehr bei ihm zu sein. Sein Mund öffnete sich und ein Blutstrom ran hervor, gesellte sich zu all dem Blut auf dem Brückenpflaster.

      Und dann krachten wieder Schüsse. Aber sie kamen nicht von den Soldaten am Tor, sondern aus der anderen Richtung. Timmrin hörte Schreie, die Schreie seiner Kameraden, die geflohen waren. Als sie verklangen, drang Kampfeslärm an sein Ohr.

      Man hatte sie abgefangen, in eine Falle gelockt. Die Soldaten mussten sich verschanzt haben in einem der Häuser, um rechtzeitig zuzuschlagen und die Flüchtenden von der anderen Seite der Brücke aus unter Feuer zu nehmen.

      Wieder schloss Timmrin die Augen und war gewillt, liegen zu bleiben, aufzugeben. Ein Gefühl des Loslassens mischte sich mit der Angst, in die Hände seiner Feinde zu geraten.

      Dann schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: Verrat! Timmrin ballte die Fäuste, erhob sich und hielt sich an der Brückenmauer fest. Schüsse krachten. Eine Kugel schlug unweit seiner Hand in die Mauer ein. Dann sprang er mit einem gewaltigen Satz auf die Mauer, rollte sich ein Stück zur Seite und stürzte im freien Fall in den Ghor.

      Die Wasseroberfläche verschloss sich glucksend über ihm, als der Fluss ihn verschlang.

      Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Auftrieb einsetzte. Schließlich tauchte er wieder auf, japste nach Luft, sich mit wilden Schlägen über Wasser haltend.

      Neben ihm sah er einen Gefährten von der Brücke stürzen: ob tot oder noch am Leben, konnte er nicht erkennen.

      Vereinzelt knallten noch immer Schüsse. Wieder stürzte ein Mann von der Brücke unter einem markerschütternden Schrei ins Wasser. Timmrin wandte sich ab und begann zu schwimmen, mit gleichmäßigen, aber schnellen Bewegungen: so schnell er konnte, soweit er konnte.

      Die Schreie vom Ufer her ebbten nicht ab, wieder knallten Schüsse. Timmrin beschleunigte seine Bewegungen noch weiter und verlangte seinem Körper alles Erdenkliche ab.

      Einen Augenblick lang glaubte er sich im warmen Wasser eines Moorweihers.

      Als Kinder waren sie in einem solchen Gewässer oft um die Wette geschwommen, das von der Sonne heißer Sommertage aufgeheizt war. Und für diesen Moment schien es, als würde er alles hinter sich lassen. Sogar diesem Augenblick würde er entschwinden, diesem eiskalten Spätherbstabend. Und als er sich noch einmal umdrehte, sah er die Brücke nicht mehr. Jetzt wurde ihm schwindlig, ja beinahe schwarz vor Augen. Sein rechter Arm krampfte und es kostete ihn seine letzten Kräfte, sich über Wasser zu halten.

      In einiger Entfernung konnte Timmrin jetzt plötzlich die Lichter eines großen Hauses sehen. Sie stachen wie Speere durch den dichten Ufernebel und die Silhouette begann langsam den Umriss einer Halbinsel zu zeichnen, auf der das Gebäude stand.

      Timmrin schwamm darauf zu. Bald hatte er einen kleinen Strandabschnitt erreicht, an dem es keine Kaimauer gab. Seine Glieder bewegten sich mit letzter Kraft, ihn verzweifelt auf der Wasseroberfläche vorwärts tragend, als er plötzlich feststellte, wieder Boden unter der Füßen zu haben.

      Ungläubig starrte er auf die Wasseroberfläche und wankte langsam in Richtung Ufer. Kaum hatte er das Land erreicht, brach er zusammen, verlor sein Bewusstsein.

      Nach wenigen Augenblicken wachte er auf, zuckte zusammen. Plötzlich hörte er Stimmen. Unweit entfernt war das Licht einer Laterne zu erkennen. Da legte er seinen Kopf mit dem Gesicht zur Erde und auch seine Handflächen. Er atmete kaum, bewegte sich keinen Deut, hatte seinen Herzschlag bis auf das Nötigste gesenkt. Dann hörte er Schritte kommen und eine Stimme sagen: „Er war hier, hab ihn doch planschen hören.“

      „Ich habe gar nichts gehört“, antwortete eine andere Stimme gereizt. „Hier ist nichts.“

      „Vielleicht weil du taub bist! Lass uns den Strand absuchen“, beharrte der erste.

      Sie mochten noch drei oder vier Schritte entfernt gewesen sein. Timmrins Herz pochte so fest, dass er meinte, es durchschlüge ihm die Brust. Schließlich sprang er auf, um zu fliehen.

      „Halt!“, hörte er es brüllen. Als er sich umdrehte, sah er, wie einer der Verfolger - es waren Soldaten - seine Büchse anlegte um zu schießen. Timmrin warf sich noch im Lauf zu Boden.

      Ein Schuss krachte. Mit aller Kraft riss Timmrin seinen Körper hoch, wollte weiter rennen, blieb aber wie erstarrt stehen, als er in die Mündung des Gewehrlaufes des anderen Soldaten blickte.

      „Besser du bewegst dich nicht, oder ich schicke dir eine Kugel durch den Wanst, Rebell!“, der Soldat hatte den Hahn gespannt, legte den Finger an den Abzug.

      „Na los, Herkommen! Wird´s ba---“, er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Der Soldat zuckte plötzlich wie vom Blitz getroffen zusammen, kippte vorn über und stürzte regungslos zu Boden. Aus seinem Rücken ragte ein langes Messer.