Robert Ullmann

Herbstfeuer


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nach dem Verschluss seines Gewehrs greifend, versuchte der Schütze zunächst, nachzuladen, doch ihm blieb keine Zeit. Im letzten Augenblick fasste er es am Schaft, um schreiend mit dem Gewehrkolben zuzuschlagen.

      Als der Schlag erfolgte, war sein Gegner schon zu nah, als dass er ihn hätte niederstrecken können. Der Heranstürmende blockte den Hieb mit den Armen, packte das Gewehr und riss es mit einem Ruck dem Soldaten aus den Händen. Im nächsten Augenblick rammte er ihm den Lauf zwischen die Rippen, dass dieser nach Luft ringend zusammenbrach.

      Timmrin war mit wenigen Schritten bei dem Angreifer und erkannte sofort die hoch gewachsene Gestalt mit dunklem, zerzausten Haar, dessen silberne Strähnen im Mondlicht glänzten.

      „Torek!“, entfuhr es ihm.

      Doch kaum konnte der Gefährte antworten, waren wieder Stimmen zu hören, dann Schreie: „Dort! Dort drüben!“

      Torek wandte sich von ihm ab und nahm das Gewehr, das er noch immer in Händen hielt, wie eine Keule mit dem Kolben nach oben. Dann wandte er seinen Kopf noch einmal, ein letztes Mal zu Timmrin und brüllte aus vollen Lungen: „Lauf! LAUF!“

      Einen Augenblick später rannte Timmrin, so schnell ihn seine Beine trugen. Er hörte einen Schrei, gefolgt von einem Schuss. Dann konnte er wieder die Rufe der Verfolger vernehmen.

      Wie er sie verfluchte, diese Soldaten und ihre Gewehre! Doch obwohl er glaubte, sicher jeden Augenblick tot umzufallen und wie ein lebloser Sack auf dem Boden aufzuschlagen, obgleich er überzeugt war, dass seine brennenden, keuchenden Lungen ihm jeden Augenblick den Dienst versagen würden, rannte er. Und er rannte so lange, bis er keine Rufe mehr hörte, keine Verfolger. Schließlich sank er an einer Hauswand auf den Pflasterstein nieder, um in einen Schlaf zu fallen, der so tief war, dass wer ihn sah, hätte glauben müssen, er wäre tot.

      -2-

      Als Timmrin schließlich erwachte, dämmerte es bereits. Er schlotterte am ganzen Leib. Seine Zähne begannen zu klappern. Sogleich entledigte er sich seines Obergewandes. Hätte er länger dagelegen, wäre er wohl im Schlaf erfroren. Wollte er diesem Schicksal entgehen, so musste er laufen, sich bewegen.

      Als er sich aufrichtete, musste er laut husten. Seine Brust schmerzte, seine Augen brannten. Sein entkräfteter Körper sehnte sich nur nach einem: Ruhe! Aber er konnte sie ihm nicht gewähren. Timmrin begann langsam zu gehen, sah sich um, doch er wusste nicht, wo er sich genau befand.

      Schließlich konnte er ein Schild an einem Haus erkennen. Er wusste nicht, was darauf stand, weil er nicht richtig lesen konnte. Jedoch konnte er sich denken, dass es sich um eine Taverne handeln musste.

      In den Bettler- und Arbeitervierteln waren solche Schilder aus Holz, dieses aber war ein feiner Kupferstich.

      Das Händlerviertel war das einzige Viertel diesseits des Ghor, das sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen konnte. Dort vermutete er sich.

      Die Wohlhabenden, die Reichen und die Aristokraten wohnten auf der anderen Seite des Flusses, im ersten Bezirk.

      Timmrin war versucht an die Tür zu klopfen, doch erstens würde die Gaststube um diese Uhrzeit nicht geöffnet haben und zweitens lief er Gefahr, sich Menschen zu zeigen, so nass wie er war. Vielleicht konnte man Rückschlüsse darauf ziehen, dass er den Aufständischen angehörte, welche die Festung angegriffen hatten.

      Andererseits, wer konnte zu diesem Zeitpunkt bereits wissen, was sich heute an der Dukorbrücke zugetragen hatte?

      Er entschied sich dennoch, weiter zu gehen. Trottend setzte er einen Fuß vor den anderen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Tag vollends erwachte.

      Leise Schritte auf dem Pflaster rissen Timmrin aus seinen Gedanken. Am Ende der Gasse, in der er sich befand, konnte er Gestalten erkennen, die allerhand schweres Zeug zu tragen hatten – offensichtlich aber keine Soldaten.

      Er lehnte sich gegen eine Hauswand, verhielt sich still und ließ seinen Blick scharf über die herannahende Gruppe gleiten. Sie trugen allerhand große Netzte: Es mussten Fischer sein, die frühmorgens mit dem Bot zum Fang hinaus fuhren.

      Sie waren nur noch wenige Schritte entfernt, als Timmrin mit einem Satz auf die Mitte der Straße sprang.

      Die Schlaftrunkenen erschraken sichtlich. Einer wich mehrere Schritte zurück, riss seine Pfeife aus dem Mund und rief: „Donnerwetter! Was wollt Ihr denn?“

      „Ich…ich bin in den Ghor gestoßen worden“ stammelte Timmrin hervor.

      „Was?“, der Fischer mit der Pfeife, es war ein älterer Mann mit einem dichten, grauen Bart, ließ seine Netzte zu Boden fallen und musterte den Fremden.

      „In Ghor reingefallen!“, mischte sich ein jüngerer ein, der ein wenig zurückgeblieben wirkte. „Reingefallen in Ghor! Hihihi, bin auch schon mal reingefallen!“

      „Ruhe, Vater redet jetzt!“, unterbrach ihn der Alte schroff. „Soll mich der Frogger holen! Wer hat dich in den Fluss gestoßen?“

      „Es waren Männer…Männer, die…das Ufer entlang rannten, als ob sie verfolgt würden“, stotterte Timmrin. „Ich hörte auch Schüsse. Ich blieb erschrocken stehen, wusste ja nicht, was los war. Dann plötzlich rempelte mich einer von ihnen im vollen Lauf an. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Fluss!“

      „Du wurdest also angerempelt. Dann bist du in den Fluss gefallen, schön. Dann mach doch, dass du ins Warme kommst, oder willst du dir den Tod holen?“, die Mine des Fischers formte sich zu einer verständnislosen Grimasse. Sein Sohn sah zu ihm herüber und versuchte seine Gesichtszüge grotesk nachzuahmen.

      „Nun“, gab Timmrin zur Antwort, „die Sache ist die: Ich komme aus dem Grubenviertel und ich habe kein richtiges zuhause. Es ist schwierig genug, bei dieser Kälte draußen zu überleben, doch wenn man so nass wie ein Fisch ist, wird’s unmöglich.“

      Der alte Fischer lachte kurz, aber beherzt.

      „Nun gut, scheinst mir ja heute wirklich kein Glück gehabt zu haben. Aber was zum Henker treibst du denn hier unten am Ghor und nicht in den Gruben, hä? Vor allem nachts.“

      „Ich wollte meine Angel ins Wasser werfen, ich hatte Hunger, ich dachte ich könnte---“

      Timmrins Worte wurden von einem mehrstimmigen Gelächter unterbrochen.

      „Angeln im Kanal!“, der Fischer beugte sich vor Lachen nach vorn, biss fest auf seine Pfeife und stammelte amüsiert: „Hast du viele Fische gefangen?“, wieder lachten alle, bis auf der Dümmliche, der offensichtlich nicht ganz begriff, worüber sich die anderen derart amüsierten.

      „Junge, du bist hier draußen wahrlich nicht sicher. Meinem Sohn hier würde ich mehr Verstand zugestehen als dir. Lurz, du bringst ihn nachhause zu uns und kümmerst dich drum, dass er es warm hat, bis wir heute Nachmittag wieder kommen. Hast du das begriffen?“

      Der Dumme sah ihn mit weiten Augen an. „Bringe ihn zu uns heim! Dann machen ich ihm warm!“

      „Du bringst ihn nur heim und sagst Mutter, sie soll dafür sorgen, dass er trocken wird. Er kann sich bis heute Abend aufwärmen“, der Fischer klopfte seinem Sohn auf die Schulter, hob das Netz auf und schritt unbeirrt weiter, die anderen musterten Timmrin noch eine kurze Weile. Einer fuhr ihn an: „Hast verdammtes Glück gehabt! Mach ja keine langen Finger zuhause beim alten Peat, sonst werfen wir dich morgen als Köder aus! In Stücken!“

      Dann trottete er den anderen nach.

      „Komm, wir gehen wieder heim, wo warm ist“, hörte Timmrin den Dummen hinter sich sagen und folgte ihm ohne zu zögern.

      Timmrin hatte in den letzten Minuten mehr Lügen erzählt, als in seinem ganzen Leben zuvor.

      Er blickte den Fischern noch einmal nach, dann folgte er Lurz weiter in dessen Heim.

      Nach wenigen Minuten fand sich Timmrin in einer kleinen verkümmerten Wohnung im zweiten Geschoss eines uralten Hauses wieder. Im Vergleich zu seiner Arbeiterbaracke, die er sich mit einigen Leuten teilen musste, wirkte es auf ihn sehr gemütlich. Eine kleine, betagte Frau brachte ihm einige Decken und ein altes, schmutziges Lammfell. Sie gebot ihm, sich auszuziehen