Robert Ullmann

Herbstfeuer


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Von frühester Kindheit an hatte Timmrin in der Fabrik gearbeitet, mit seinen kleinen Fingern filigran die Papierpatronen mit Pulver gefüllt. Er war so schnell und gut in dem, was er tat, dass er auch später weiter in der Fabrik arbeiten durfte und nicht an die Front musste. In solchen Fällen zahlten die Fabrikmagnaten geringe Summen an den Staat, um sich Arbeiter, die eigentlich in wehrfähigem Alter und Zustand waren, für die Produktion zu „erkaufen“. Diese Fähigkeit, die beinahe alles war, was er beherrschte oder gelernt hatte, brachte Timmrin jetzt nicht mehr weiter. Was gab es überhaupt noch, an das er sich klammern konnte? Vom Hass allein schien er sich in diesem Augenblick zu ernähren, das wusste er. Doch was würde der ihm nützen? Den Kampf wieder aufnehmen? Wer würde ihm zur Seite stehen? Er wusste ja noch nicht einmal, woher er ein Dach über dem Kopf oder etwas zu essen bekommen sollte. Es gab NICHTS mehr für ihn in dieser kalten, unwirtlichen Welt. Sein Onkel Torek war tot. In die kleine Arbeiterwohnung konnte er nicht zurück. Er teilte sie mit elf anderen. Mehr als die Hälfte von ihnen fehlten jetzt und würden nie wieder zurückkehren. Der Stadtgarde konnte das genügen, um Rückschlüsse zu ziehen. Sicher wurden bereits die Wohnungen hunderter Arbeiter nach Waffen durchwühlt und Verhöre angestellt. Vermutlich wurde der eine oder andere ausgepeitscht, weil er die Ermittlungsarbeiten unzureichend unterstützte oder sich das nicht zur Anzeige bringen geplanter Straftaten nahelegen ließ. Und wenn es Kameraden gab, die überlebt hatten? Vielleicht hatte es außer ihm noch jemand anders geschafft. Aber dies brauchte schon mehr als Glück, dachte Timmrin. Die Wahrscheinlichkeit, einen von ihnen je wieder zu sehen, war mehr als gering. Und wieder überkam ihn tiefe, beißende Trauer. Plötzlich wurde er vom raunenden Gesprächston zweier Männer aus seinen Gedanken gerissen. „Hast du das mitbekommen? Die aus den Gruben und ein paar andere sollen eine Revolte angezettelt haben.“ Timmrin hatte sich von all den lauten Stimmen im Wirtshaus nicht aus seinem inneren Monolog ziehen lassen. Doch gerade der verhaltene Flüsterton des Mannes alarmierte ihn. „Das waren die Schüsse oder, letzte Nacht?“, erkundigte sich der Gesprächspartner. „Ja. Man sagt, die Soldaten haben nur wenige Salven gebraucht. Mich wundert nur ganz gehörig, wie sich die Gardisten so schnell formieren konnten. Immerhin haben die Jungs ja noch nicht mal die Kaserne erreicht. Die wurden alle auf der Brücke erledigt, wie´s scheint.“ „Nun, das ist glasklar. Die wurden erwartet. Irgendeiner hat gequatscht und die Gardeschweine wussten schon vorher, was gespielt wird.“ „Reiß dich mal zusammen“, empörte sich der andere. „Du kannst nicht schwätzen, wie dir das Maul gewachsen ist.“ „Wie ich schwätze bleibt sich gleich, solange ich keinen einfältigen Dung von mir gebe, wie du.“ Sein gegenüber wollte etwas erwidern, hielt aber inne, weil sich seine Aufmerksamkeit plötzlich auf die Tavernentür richtete. Ein Mann trat herein. Er war sehr hoch gewachsen. Sein schulterlanges Haar war vollständig ergraut. In sein Gesicht hatten sich einige Falten gegraben. Auch Timmrin bemerkte ihn sofort. Er schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Der Fremde trug einen langen, grauen Wollumhang mit einer Kapuze, die nach hinten geschlagen war. Unter dem Umhang konnte Timmrin den Griff eines Schwertes hervorragen sehen. Der Alte zog seinen Mantel vor sich zusammen und schritt geradewegs auf den Tisch zu, an dem Timmrin saß. Die übrigen Tische waren voll. Nur Timmrin saß allein an seinem. „Habt Ihr noch Platz für mich?“, erkundigte sich eine raue, gelassene Stimme. „Das fragt man nicht in diesen Vierteln“, entgegnete Timmrin. „Ihr seid nicht von hier, oder? Setzt Euch.“ Dieser Mann war gewiss nicht von hier, oder jedenfalls gehörte er nicht in diese Viertel. Timmrin hatte das beinahe gleich erkannt. Er war hier aufgewachsen und wusste es einem anzusehen, ob er diesem Teil der Stadt entstammte. „Was darf es sein?“, der Wirt war an den Tisch herangetreten. „Ein Becher Wein“, gab der Fremde zur Antwort. „Und du?“, wandte der Wirt sich zu Timmrin, der sich weit über seinen Krug gebeugt hatte, um das leere Trinkgefäß zu verbergen. „Also, ich…“, stammelte er. „Du hast nichts mehr im Krug. Bestell oder sieh zu, dass du hier raus kommst! Wir sind hier keine Schlafstube!“ Timmrin wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu, weil der Fremde sprach: „Gib ihm auch einen Becher.“ Ungläubig starrte der Wirt ihn an, nahm Timmrins lehren Krug und schlurfte zum Tresen. „Also…vielen Dank, mein Herr“, Timmrin blickte verlegen zum Spender. „Na sieh mal einer an. Ich bezahle dir einen Becher Wein und schon bin ich dein Herr“, der Atle lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „So…so war das nicht gemeint. Ich wollte höflich sein“, rang Timmrin nach Worten. „Vorher klangst du nicht ganz so höflich“, der Alte lächelte ganz unscheinbar. Sie schwiegen eine kleine Weile, bis Timmrin´s Neugier siegte: „Darf ich fragen, woher ihr kommt?“ „Von hier.“ „Das möchte ich bezweifeln.“ „Wer hat dir eigentlich Manieren beigebracht, willst du mich Lügner nennen?“ „Nein.“ „Dann überleg vorher, was du sagst!“ „Es ist nur so, Ihr…wirkt nicht wie einer aus diesem Teil der Stadt, auch nicht wirklich wie jemand aus dem ersten Bezirk.“ Der Fremde schwieg und nippte bedächtig an seinem Wein. Schließlich antwortete er: „Ich bin im Händlerviertel geboren und ich war der Sohn eines Händlers.“ „Verstehe, dass erklärt einiges“, Timmrin hatte sich schon wieder dabei ertappt, aufstachelnd zu werden. „Das erklärt nichts und jetzt trink deinen Wein und frag mir keine Löcher in den Bauch.“ Der Fremde wandte seinen Blick in die Gaststube, weil einige Männer aufgestanden waren. Sie sprachen leise miteinander und spähten auffällig zu dem Tisch, an dem Timmrin und der Fremde saßen. Nach einer Weile kamen die drei langsam auf sie zu. „Sir, das sieht nicht gut aus. Die wittern, dass Ihr etwas besser betucht seid. Ich will nicht unhöflich sein aber---“, der Fremde unterbrach Timmrin: „Habe ich nicht gesagt, du sollst deinen Wein trinken?“ Kaum hatte er zu Ende geredet, waren die Männer herangekommen. Einer ergriff das Wort: „Also das Schwert da, das Ihr versteckt…nun Ihr wisst vielleicht, dass der Besitz von Edelmetallen verboten ist. Sie sind dem Staat zu übereignen und…nun ja, Ihr müsst euch selbstverständlich keine Sorgen machen. Wir sehen gern über solche Kleinigkeiten hinweg: Aber auch wir müssen von etwas leben, versteht Ihr das?“ Der Mann war füllig, groß und breitschultrig. Seine beiden Begleiter weniger. Sein Gesicht hatte harte Kanten, die ein Bart um den Kiefer noch hervorhob. Der Alte erhob sich blitzartig, sodass die anderen unmerklich zusammenzuckten. Als er vor den dreien stand, machte sich bemerkbar, dass er seinen gegenüber in der Größe noch übertrumpfte. „Sieh zu, dass du wegkommst.“ Der bärtige Rowdy sah den Fremden plötzlich mit großen, zornigen Augen an. Sein vorher scheinfreundlicher Gesichtsausdruck verfinsterte sich zu einer böswilligen, überlegenen Grimasse. Einen Augenblick standen sie so gegenüber, schweigend. Plötzlich hob der Kerl den Arm, um zuzuschlagen. Was dann geschah, hätte Timmrin nie gedacht: Der Alte riss reflexartig den linken Arm nach oben, blockte den gewaltigen Fausthieb seines Gegenübers mit scheinbarer Leichtigkeit. Fast gleichzeitig schnellte seine rechte Faust nach vorn, während sein Oberkörper eine leichte Drehung beschrieb. Die Faust des Alten traf das Kinn des Angreifers, der, nach hinten geworfen zurücktaumelte, das Gleichgewicht verlor, stürzte und liegen blieb. Blitzschnell griff der Alte mit der rechten hinter seinen Rücken und riss einen langen Dolch hervor. Als hätte er es gewusst, hatte auch einer der Angreifer zeitgleich nach einem Messer gegriffen – zu spät. Als er zustach, griff der Alte schon mit seiner Linken nach dem Handgelenk des Angreifers und stieß ihm seinen Dolch durch den Oberarm. Ein Blutschwall drang aus der Wunde und besudelte ihm Hals und Wange. Der Getroffene stieß einen Schmerzensschrei aus. Als der Alte den Dolch aus der Wunde riss, brach der Verletzte auf die Knie zusammen. Er war kreidebleich und schien nicht mehr ganz bei sich zu sein. Dann krachte sein Rumpf bewusstlos auf die Dielen des Bodens. Der dritte war schnell zurückgewichen und stand mit dem Rücken zum Tresen. Mit einem Satz sprang er am Fremden vorbei in Richtung Tür. Der aber wandte mit einer Handbewegung den Dolch in seiner Hand, sodass er ihn an der Klinge fasste. Dann sauste die Waffe durch die Luft und traf den Flüchtenden in die Kniekehle. Er stürzte noch im Lauf. Kurz darauf war es still im Raum, nur ein Wimmern war zu vernehmen. Der Verwundete versuchte sich aufzurichten, da stand der Alte auch schon hinter ihm. Er bückte sich und riss den Dolch aus der Wunde. Ein gellender Schrei bohrte sich in die Ohren der Zuschauer. Der Kerl kroch auf dem Boden weiter, schleifte sich in Richtung Tür. Der Alte trat vor ihn hin und öffnete sie weit. Mühsam richtete sich der Verletzte auf, schliff sein Bein nach und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht aus der Taverne. Beinahe alle waren aufgestanden, jeder Blick ruhte jetzt auf dem Fremden. Es war totenstill. Mit langen, schweren Schritten ging der Alte zu seinem Tisch, ergriff sein Glas und trank den Wein in einem Zug leer. Danach zog er seelenruhig fünf Thamen aus einer kleinen Gürteltasche und legte sie,