Robert Ullmann

Herbstfeuer


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auf den andere Teil der Brücke und aufs andere Ufer des Ghor, sofern die Wachen dies zuließen.

      Zu beiden Ufern schienen auch dort mindestens drei Soldaten den Durchgang zu überwachen.

      Die Dukorbrücke war die einzige, die nachts passierbar war. Tore, die abends geschlossen wurden, so, wie an den anderen Brücken, gab es an der Dukorbrücke keine. Nur die Kaserne hatte zwei Tore, die jedoch nur bei Bedarf geöffnet wurden.

      Warum waren keine Wachen da gewesen in jener Nacht? Das hätte ihn und die anderen misstrauisch machen müssen.

      Timmrin rief sich das Gefecht, oder vielmehr die Hinrichtung, wieder genau ins Gedächtnis, versuchte aber seine Gefühle dabei zu unterdrücken.

      Die unterste Fensterreihe der Kaserne war niedrig genug, aber verglast und vergittert. Sie hätten die Fenster zunächst einschlagen müssen, danach die Fackeln hindurchschieben.

      Hineinschleudern hätte man sie nicht können, wegen der Gatter.

      Vermutlich wären die Fackeln auf dem Boden gelandet, die Soldaten hätten bestenfalls einen Schreck bekommen, wären aus ihren Betten aufgesprungen und hätten sie dann ausgetreten…

      Aber wie es auch ausgegangen wäre, unmöglich hätten die Mannschaften schnell genug reagieren können, um einen Gegenschlag zu organisieren. Wie Gespenster wären Timmrin und seine Freunde gekommen und wieder verschwunden.

      Doch nun waren sie alle tot. Und das konnte nur das Werk des Verrates sein.

      Timmrin wandte sich wieder dem Ufer zu und ging durch das zweite Tor hinein in den Bezirk.

      Auch dieses wurde von drei Soldaten bewacht, die allerdings weitaus nachlässiger wirkten.

      Als Timmrin das Viertel betrat, viel ihm zuerst eine außergewöhnliche Sauberkeit auf, wie er sie nicht gewohnt war.

      Auf den Straßen herrschte reges Treiben. Die Leute waren in elegante Kleider gehüllt. Beinahe jeder hier trug einen Hut, oft einen Zylinder, hier und da tauchte ein Zweispitz auf.

      Was Timmrin aber an den Leuten auf seinem Weg durch die Hauptstraße am meisten verwunderte, war, in welcher Geschwindigkeit sie alles taten.

      Sie gingen langsamer, hielten langen, ausgiebigen Plausch inmitten der Straße. Timmrin kannte so etwas nicht.

      Schließlich blieb er stehen, atmete tief durch. Wieder sah er an sich herunter. Er versuchte sich vorzustellen, einer von ihnen zu sein, ein Adliger, Ein Fabrikant, ein Erfinder, eben ein edler Herr. Was musste das für ein Leben sein, ohne all die Arbeit. Wie musste es sich anfühlen, jederzeit stehen bleiben zu können, jeder Zeit nachdenken zu können.

      Freilich, es war Sonntag – auch die Arbeiter hatten heute frei. Aber sie mussten die Zeit meist damit zubringen, ihre Kleider zu waschen oder sich auszuruhen für eine neue, harte Arbeitswoche. Sie hatten ihre Unterkünfte zu säubern, nach Möglichkeit ein Bad zu nehmen und wenn etwas Zeit übriglieb, wurde sie meist in einer der Trinkhallen zugebracht.

      Es war alles so…ungleich! Eines Tages würden die Zeiten sich ändern, sie mussten sich ändern!

      Timmrins Gedanken wurden gebremst durch die visuellen Eindrücke, die sich ihm aufdrängten: Die Häuser waren viel höher hier, nicht so eng aneinander gebaut. Es gab zahlreiche Fachwerkhäuser, aber auch andersartige, weitaus größere Gebäude, wie man sie auf der anderen Seite nur sehr selten sah. Es waren hohe Häuser mit stumpfwinkligen Dächern und zahllosen Fenstern in Rundbogenform, von kunstvollen Rähmen umspielt. Überhaupt wurde Glas hier sehr viel weniger sparsam eingesetzt. Auch farbiges sah man hier und dort.

      Je tiefer er in den Bezirk kam, desto höher schienen die Gebäude in den Himmel zu wachsen, die oft von kleinen Türmen und gewaltigen Balkonen erweitert wurden.

      Anders als in den Arbeitervierteln gab es hier zahlreiche kunstvoll gearbeitete Straßenlaternen.

      Die Straßen waren breit. Eine edel anmutende blaue Kutsche kreuzte Timmrins Weg, die von zwei Grauschimmeln gezogen wurde.

      Timmrins Blick folgte ihr, viel dann aber auf einen riesigen Balkon. Dort saßen einige Männer, welche der Kälte trotzend lange Pfeifen schmauchten, während sie auf die Straße hinab blickten.

      Am Straßenrand stand ein Mann mit einem Stativ, der die Szene überflüssiger Weise zu porträtierten schien.

      Ein riesiges rotes Holzschild mit einem weißen, merkwürdig geschwungenen Schriftzug, das auf Timmrin einen grotesken Eindruck machte, ließ eine Taverne vermuten.

      Als er aber hinging und einen Blick rein warf, stellte er fest, dass es sich um einen Friseursalon handelte. So etwas gab es auf der anderen Seite nur im Händlerviertel – auch dort nur einen. Timmrin folgte weiter der Hauptgasse.

      Schließlich ließ ihn die Abbildung eines Kruges auf dem Schild über einer Tür eine Trinkstube vermuten. Als er eintrat, wurde dies bestätigt.

      Es war eine kleine Gastwirtschaft mit wenigen Tischen und langem Tresen, der aus einem edlen, dunklen Holz gearbeitet war. Die Kneipe war kein eigenes Gebäude, sondern Teil eines größeren Baus, der mehrere Lokalitäten, wie auch den Friseursalon, beherbergte.

      Timmrin ging hinein und sprach den Mann hinterm Tresen an, der Gläser putzte: „Ein Glas Wein, bitte.“

      „Gern, Sir! Welcher darf es sein, rot oder weiß? Lieblich oder trocken?“

      Timmrin war überfragt und begann sich bereits jetzt sehr fremd in seiner Haut zu fühlen.

      „Welchen du empfiehlst“, antwortete er zaghaft.

      „Heldenblut! Lieblich, Spätlese – wird hier sehr gern getrunken!“

      „Gern.“

      Schon stand er da, ein Weinkelch aus grünem Glas. Timmrin betrachtete zunächst das Trinkgefäß, hob es und trank in einem Zug halb leer.

      Neben ihm stand noch ein Mann an der Theke. Er wirkte nicht besonders wohlhabend. Seine Kleidung war einfach, aber sauber. Er hatte seinen kurzen Zylinder auf der Theke neben seinem Weinkelch abgelegt. Auch er schien Rotwein zu trinken. Neben seinem Glas jedoch stand noch eine große Glaskaraffe, aus der er seinen Becher gerade neu füllte.

      „Ein kühler Tag, nicht wahr?“, versuchte Timmrin unbeholfen ein Gespräch zu beginnen.

      „Herbst eben“, entgegnete der Angesprochene.

      „Habt Ihr von den Unruhen an der Brücke gehört?“

      „Allerdings!“, polterte der Gefragte, „was für eine Schande!“

      „In der Tat“, warf Timmrin ein, der über seine Art, sich zu artikulieren, selbst staunen musste.

      Das musste er von seinem Großvater haben, der ihm als Kind oft Geschichten erzählt hatte. Er hatte ihm eine Menge erklärt und beigebracht, so auch, sich einigermaßen gewählt auszudrücken.

      „Was der Kommandant wohl dazu zu sagen hat?“, versuchte Timmrin das Gespräch weiter in eine Richtung zu lenken.

      „Was soll er dazu sagen, Sir? Er hat die notwendigen Konsequenzen gezogen. Die Gefangenen sollen heute in einer Woche hingerichtet werden!“

      „Gefangene?“, fragte Timmrin.

      „Na die vier oder fünf, die es noch sind. Ein paar sind ja bereits an ihren Wunden verreckt“, der Mann lachte kurz und dreckig, trank dann wieder einen Schluck.

      Timmrin war beinahe versucht, nach dem Messer zu greifen, nippte dann an seinem Wein, atmete tief durch und setzte die Konversation fort: „Ich bin nicht im Bilde, Sir! Werden sie hier hingerichtet werden, im ersten Bezirk?“

      „Selbstverständlich! Drüben wäre es nicht sicher. Sie werden am Troil-Brewek-Platz ihrer gerechten Strafe zugeführt. Stand heute Morgen im Bezirkskurier. Ein schnelles Urteil, keine Frage, aber die Verhandlungsergebnisse waren eindeutig.“

      „Eine Verhandlung bereits gestern, zum Samstag und schon ein Urteil?“, Timmrin kannte sich wirklich nicht mit solchen Dingen aus. Dennoch erschien es ihm merkwürdig, dass solcherlei Angelegenheiten in so kurzer Zeit abgehandelt werden konnten.

      „Tja, das geht schneller als