Robert Ullmann

Herbstfeuer


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Kugel getroffen, die seinen Oberarm durchschlug und sich in die Dielen der Tribüne bohrte. Der Gardist ließ das Gewehr fallen, taumelte und fiel. Die Gefangen ergriffen beinahe gleichzeitig ihre Chance, sprangen von der Tribüne und rannten. Fast reflexartig rissen einige Soldaten die Gewehre herum und schossen, trafen zwei flüchtende in den Rücken, die im vollen Lauf zu Boden stürzten. Timmrin war nicht getroffen. Er war stehen geblieben und versuchte Torek aufzuhelfen, der ebenfalls gestürzt war. Seine Beinverletzung hinderte ihn daran, richtig zu gehen, geschweige denn zu rennen. In dieser Hektik der Situation hatte Tarjeff übersehen, dass nicht alle Zuschauer geflüchtet waren. Skhat, der sich verstört und desorientiert zu geben versuchte, stand nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Tarjeff zog seine Pistole, richtete sie auf Timmrin und öffnete den Mund, um einen Befehl zu brüllen. Im gleichen Augenblick warf Skhat Mantel und Krücke weg, packte den Anführer der Garde mit der Linken von hinten am Kragen, riss ihn mit unbändiger Kraft zu sich und schlug ihm mit der rechten die Pistole aus der Hand. Sein linker Arm legte sich blitzschnell um Tarjeffs Hals, während seine Rechte einen Dolch hervorzog, welchen er seinem Opfer an die Kehle setzte. „LAUF!“, konnte man Torek durch das Geschehen hindurch brüllen hören, so laut ein Mensch zu brüllen vermag. „Das ist deine einzige Chance! ICH KANN NiCHT, LAUF!“ Drei Soldaten hatten ihre angelegten Gewehre auf Timmrin gerichtet, als eine andere Stimme beinahe noch lauter brüllte: „WAFFEN WEG!“ Tarjeff wollte einen Befehl schreien, aber Skhat ließ ihm nicht genügend Luft, presste seinen Arm noch fester gegen dessen Hals, sodass er kaum noch zu atmen vermochte. „Ich töte ihn! Werft die Waffen weg! Bei drei stirbt er! Eins, zwei…“ Die Soldaten ließen die Gewehre sinken, warfen sie schließlich zu Boden. „Ich flehe dich an, Timmrin, es hat keinen Sinn!“ Timmrin war bewusst, dass Torek Recht hatte, der seine Worte mit letzter Kraft an ihn richtete. Und so wandte er sich ein zweites Mal von seinem Onkel ab und rannte so schnell er konnte. Vor sich sah er, wie eine schwarz gekleidete Gestalt an einer Hauswand hinunterglitt: schnell, aber doch nicht so schnell, als würde sie fallen. Jetzt konnte Timmrin sehen, dass es ein Mann mit einem kurzen geschulterten Gewehr war, der sich an einem Seil vom Dach des Gebäudes hinunterließ. Einmal noch wandte Timmrin sich um. Torek lag da und regte sich nicht. Gerade noch konnte Timmrin erkennen, wie Skhat Tarjeff, den er einige Schritte rückwärts geführt hatte, losließ und ihn mit dem Knauf seines Dolches niederschlug. Dann floh der Alte und die Soldaten griffen eilends nach ihren Gewehren. Timmrin rannte weiter, hörte hinter sich Schüsse krachen. Die Gestalt in schwarz war wenige Schritte vor ihm leichtfüßig wie ein Akrobat am Boden aufgekommen und bedeute Timmrin jetzt mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Er rannte ihm nach, so schnell er konnte, doch er hatte große Mühe, ihn nicht zu verlieren. Sie rannten durch Gassen, änderten die Richtung, überquerten Hauptstraßen. Dann wurde es steil. Timmrin keuchte, jeder Meter schmerzte in seinen Lungen. Er blickte nach vorn und sah die schwarze Gestalt, die stehen geblieben war, um auf ihn zu warten. Es war ein hagerer Mann mittlerer Größe, der eng anliegende Kleidung trug und sein Gesicht unter einer weiten Kapuze verbarg. Als Timmrin ihn halbwegs eingeholt hatte, rannten er weiter. Sie folgten ein kurzes Stück einer breiten Straße, bogen dann in eine schmale Gasse ab. Dieser Teil der Stadt war auf einem Hügel gebaut, dessen Kuppe sie erreichten, als der Mann in schwarz erneut stehen blieb und an eine schwere Holztür pochte. Einen Augenblick geschah gar nichts. Timmrin duckte sich, weil er laute Rufe hörte. Dann öffnete sich die Tür und der Scharfschütze huschte hinein. Timmrin konnte gerade noch sehen, wie sich einige Soldaten im Laufschritt an der Gasse vorbei die Hauptstraße entlangbewegten, als auch er im Haus verschwand und die Türe zuflog. Timmrin ging zwei Schritte zur Seite, lehnte sich gegen die Wand und rutschte an ihr hinab. Er japste nach Luft. Sein Retter schlug jetzt die Kapuze zurück. Er atmete schneller, schien aber nicht annähernd so erschöpft wie Timmrin zu sein. Als nächstes fiel Timmrins Blick auf einen alten Mann mit Rauschebart und gütigem Blick, der kaum noch Haupthaar besaß und in anmutige, aber nicht prunkvolle Kleider in schlichtem Anthrazit gehüllt war. Nur die Knopfleiste seines Rocks, dessen Manschetten und der Kragen waren in einem Königsblauton gehalten. „Wo ist Skhator?“, wollte er wissen. Timmrin wollte antworten, da pochte es an der Tür, die sogleich geöffnet wurde. Skhat stürzte hinein, viel auf die Knie und stützte sich mit den Händen am Boden auf. Dann viel die Tür zu und der Alte begann zu würgen. „Bist du verletzt?“, wollte der Unterschlupfgewährende wissen. Skhat aber konnte nicht antworten, weil er im selben Augenblick, offensichtlich vor Anstrengung, erbrechen musste. Er keuchte und verdrehte die Augen. „Erlaubt mir, mich euch vorzustellen“, meinte der kahlköpfige Alte. „Ich bin Skhat´s Bruder: Skholopan Corion. Ich heiße euch herzlich willkommen in---“ „Halte hier keine Reden! Versteck uns!“, wurde er von Skhat unsanft unterbrochen. Skholopan wandte sich um und bedeutete den dreien mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Dann versuchte er, einen schweren Schrank zu verschieben. Skhat ging ihm hastig zur Hand. Darunter war eine kleine Bodenklappe. Sie wurde geöffnet und Timmrin, Skhat und der Fremde in schwarz verschwanden in einem kleinen, extrem flachen Lagerkeller. Keiner von ihnen konnte darin stehen. Die Anspannung stieg. Skholopan schien draußen nach irgendetwas zu kramen, bis er schließlich eine Öllampe und einige Streichhölzer nach unten reichte. Dann schloss sich die Luke und die Gesuchten konnten hören, wie sich langsam das schwere Regal darüber schob.

      -7-

      Es waren mehrere Stunden vergangen. Bald würde es Abend werden. Sie hatten nicht viel geredet, obgleich sie dort unten kaum jemand hätte hören können.

      „Ich danke dir, Skhat, dir und deinem Freund“, begann Timmrin leise eine Unterhaltung.

      „Sie hätten mich geköpft…“

      „Hätten“, betonte Skhat. „Ich war verantwortlich für dein Dilemma. Also war es auch an mir, dich da wieder rauszuholen. Danke nicht mir, Timm, danke Drahesk.“ „Nun. Ich danke euch beiden. Was wohl mit Torek geschehen ist? Vermutlich ist er tot, wie auch die anderen beiden.“ „Torek?“, fragte Skhat. „Der mit der Beinverletzung. Er war mein Onkel.“ „Das tut mir leid“, hörte Timmrin jetzt eine klare, beinahe zarte Stimme mit starkem Akzent sagen, die dem Scharfschützen gehörte. „Danke“, gab Timm zurück. „Verzeih mir die Frage, aber dein Name…er klingt…du bist nicht von hier?“ „Ich komme aus dem Skaltenreich, vom Stamm der Kalgonen“, entgegnete der Gefragte. „Du bist Skalte? Ist es nicht so, dass sie Teil der Südwestallianz sind? Dein Land steht im Krieg mit dem unsrigen. Es ist gefährlich hier für dich!“ „Nicht gefährlicher, als an der Front“, warf Skhat ein, worauf sich Timmrin weiter erkundigte: „Verzeih mir die Neugier, Drahesk, aber was tust du hier in Thamhall?“ „Nicht so laut!“, zischte Skhat. „Ich diene dem Meister“, flüsterte Drahesk. „Dem Meister?“ „So wird Skhat von den seinigen genannt. Auch viele aus meinem Folk nennen ihn so.“ „Wieso Meister?“, wollte Timm wissen. „Weißt du überhaupt nicht, wen du vor dir hast? Kennst du die Reiter der Eisenhand nicht, die schweren Ulanen von Thamhall? Den letzten Orden?“ Timmrin konnte nur grob ahnen, wovon der Fremdländer sprach. Er hatte gehört, dass es bei der Kavallerie noch Überbleibsel alter Ritterorden gab. Doch er wusste nur wenig vom großen Ruhm, den Drahesk diesen Reitern noch heute zuschrieb. „Skhat war einer der fünf Ordensmeister und Anwärter auf das Amt des Großmeisters. Schon in alter Zeit waren die Ritter der Eisenhand die gefürchtetsten unter unseren Feinden. Heute hat sich das Gewicht im Kriege zugunsten der Infanterie und Artillerie verschoben. Dennoch zählen die Reiter der Eisenhand bei uns zu den gefürchtetsten Kämpfern Thamhalls“, fuhr Drahesk fort. „Wieso seid ihr beiden überhaupt hier?“, wollte Timm wissen. „Wie ich schon sagte, ich diene Skhat. Er hat mir das Leben gerettet und die Freiheit geschenkt. Ich stehe in seiner Schuld. Ich begleiche diese Schuld, wie der Meister es fordert. Aber ich tue dies nicht widerwillig.“ Timmrin wandte sich zu Skhat um, der regungslos dasaß, die Augen geschlossen und mit dem Rücken gegen die Kellerwand gelehnt. „Du bist mit einem Skalten aus dem Krieg zurückgekehrt, der dir die Freiheit verdankt, der ein Meisterschützte ist. Du willst wissen, wer der Kommandant der Garde ist, scheust dich aber, selbst Nachforschungen im Reichenviertel anzustellen? Du trägst einen schweren Degen mit dir herum und einen Dolch---“ „Und bringe dich gleich damit zum Schweigen“,