wäre, um ein aus den Fugen geratenes inneres Gleichgewicht wieder in den richtigen Einklang zu bringen. Er hatte sich tatsächlich von diesem esoterischen Blödsinn zu einem Selbstversuch verleiten lassen. Und wer weiß, vielleicht stimmt es ja. An irgendetwas muss man doch glauben. Die zweite Empfehlung des Käseblatts, der Besuch eines riesengroßen und vollbesetzten Fußballstadions, wäre sowieso nichts für ihn gewesen. Massentauglichkeit war nicht gerade seine Stärke. Also blieb nur das Angeln.
An solch regnerischen und schwülen Tagen, wie an diesem, würden die Forellen besonders gut beißen. So behauptete es zumindest der Teichwart, als sich Robert heute die Tageskarte kaufte. Erst vor wenigen Tagen hätte ein Petrijünger ein sieben Kilo schweres Prachtexemplar aus diesem See gezogen. Robert konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Bei regnerischem Wetter? Das war ja nun in dieser Gegend ganz bestimmt keine Seltenheit und wäre sicher für den Seepächter ein grandioses Minusgeschäft. Der Mann schien sich nicht so gut mit den hiesigen Wetterverhältnissen auszukennen, dafür umso mehr mit Anglerlatein.
Um den besten Angelplatz am See ausfindig zu machen, verließ sich Robert lieber auf seine eigene analytische Fähigkeit und gab deshalb auf die Ratschläge des Teichwarts nicht sehr viel. Robert wusste ganz genau: 95 Prozent der Fische stehen auf nur 5 Prozent der Fläche eines Sees. So ähnlich verhielt es sich auch in der Kriminologie. Man musste nur ein sicheres Gespür dafür entwickeln, wo sich genau diese 5 Prozent der Fische aufhielten, dann könnte man auch mit etwas Glück und Verstand den Größten von ihnen ködern und an Land ziehen.
Kaum hatte er seine Angelschnur das erste Mal ausgeworfen, spürte er auch schon, wie die Schnur von der Rolle raste. Dann ein kurzer Anschlag, Drill, und schon hing sein erster Fang fest am Haken. Die Forelle blickte ihn mit erschrockenen Augen an, als er sie vom Spinner befreite. So leicht hatte er es sich nicht vorgestellt. Es war fast schon eine Enttäuschung. Ab sofort müsste also seine Work-Life-Balance wieder im richtigen Lot sein. So ein Scheiß aber auch. Robert grinste in sich hinein. Etwas, an das es sich wirklich noch zu glauben lohnte, würde er wahrscheinlich in seinem Leben nicht mehr finden können. Und wenn doch, dann vielleicht nur in der Natur. Er liebte das Licht und die Leute hier oben im Norden, das Rauschen des Schilfs am Seeufer und den modrigen Geruch, der gerade mit einem ganz seichten Luftzug vom Moor herüber wehte. Der feinstaubige Regen machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, er vermisste ihn schon lange Zeit sogar körperlich. Die feuchte und schwüle Hitze des heutigen Tages empfand er dagegen als ziemlich unangenehm. Es war genau diese Klimakonstellation, die am Ende eines solchen Sommertages zu einem Unwetter führen würde. Vermutlich spürten das sogar die Fische im See.
Gerade hatte er die Rute zum zweiten Mal ausgeworfen, als er plötzlich die Vibrationen seines Mobiltelefons spürte, das in einer der vielen Seitentaschen seiner Anglerweste verstaut war. Er tastete nach dem Handy, konnte es aber nicht so einfach herausziehen, weil es sich unter einer Naht verklemmt hatte. Nervös versuchte er es noch einmal, da er wusste, dass es spätestens nach dem dritten Vibrationsintervall lautstark und schrill zu dröhnen anfing. Ein beseelter Petrijünger warf ihm bereits vom Nachbarsteg aus einen wütenden Blick zu. Aber es war bereits zu spät. Das Ding begann zu dröhnen und der unangenehme Ton verbreitete sich über die glatte Wasseroberfläche wie ein nervtötender Schall. Endlich hielt Robert das Mobiltelefon zwischen seinen Fingern. Er warf einen prüfenden Blick auf das Display. Der Name seines Chefs wurde angezeigt. Robert drückte eilig auf die Verbindungstaste.
„Moin Chef. Woher wissen Sie eigentlich, dass ich hier bin?“, witzelte er los.
„Wo sind Sie denn? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo Sie sich aufhalten.“
Das war mal wieder typisch für seinen Chef. Er hatte Roberts kleinen Scherz nicht verstanden.
„Sie werden es nicht glauben, aber ich sitze im Augenblick auf einem Anglersteg mitten im Ammerland und habe vor wenigen Minuten meine Abendmahlzeit aus dem Wasser gezogen.“
Die Stimme seines Chefs klang etwas gehetzt, er benutzte wieder mal diesen dienstlichen Beamtenton: „Herr Rieken. Ich weiß, dass heute Sonntag ist und ich weiß auch, dass Sie an diesem Wochenende keinen Bereitschaftsdienst haben. Aber hören Sie trotzdem gut zu. Sie werden umgehend etwas ganz anderes aus dem Wasser ziehen. Vergessen Sie also Ihr Abendessen und fahren Sie so schnell wie möglich zum Dangaster Hafen. Ich habe vor etwa zehn Minuten einen Anruf von der Küstenwache erhalten. Einer der einheimischen Fischer hat da einen ganz merkwürdigen Fang gemacht. Da wartet ein toter Mann auf Sie. Wo, sagten Sie, stecken Sie im Augenblick?“
Robert war nicht gerade begeistert von der Aussicht, seinen dienstfreien Sonntag mit einer Wasserleiche zu teilen: „An einem Anglersee in der Nähe von Westerstede.“
„Gut. Wenn Sie also die A 29 nehmen, könnten Sie es sogar in einer halben Stunde schaffen. Es tut mir leid, Sie in Ihrer Freizeit belästigt zu haben, aber ich kann selbst nicht weg. Sie wissen ja, einer muss hier im Büro die Stellung halten. Also verlieren Sie keine Zeit und fahren Sie los!“ Er räusperte sich kurz. – „Ach, übrigens, der Mann, der die Leiche herausgefischt hat, heißt Enno Fedder. Er wird im Hafen auf Sie warten.“
Robert antwortete nicht gleich, sondern wartete einige Sekunden darauf, ob sein Chef noch etwas von ihm verlangen würde. Dann hörte er wieder dessen gehetzte Stimme: „Rieken, sind Sie noch dran?“
“Ja, Chef. - Sagen Sie, warum schicken Sie nicht Kriminalmeister Onken zum Hafen? Ich kann mir gut vorstellen, dass er in seiner bisher noch nicht sehr erfahrungsreichen Polizistenlaufbahn kaum Erlebnisse mit einer Wasserleiche hatte. Ich finde, diese Bildungslücke könnte er gleich heute schließen. Das wäre doch jetzt eine passende Gelegenheit …“
Doch Kriminaldirektor Heribert de Boer fuhr Robert ins Wort: „Geht nicht. Weil ich ihn telefonisch nicht erreichen kann.“
Robert bereute in diesem Moment, den Anruf seines Chefs überhaupt entgegengenommen zu haben. „Ist sonst noch was?“, fragte er ziemlich genervt.
„Nein, nein, nichts weiter. Ich wollte Ihnen nur noch sagen, dass Sie die Angelegenheit schon schaukeln werden, Rieken. Machen Sie mir Meldung, wenn Sie herausgefunden haben, was an der Sache dran ist.“ Dann legte er auf.
Robert entnahm aus dem Kescher die gefangene Forelle und schenkte ihr die Freiheit zurück. Dieser Fang war für seinen Geschmack ohnehin etwas zu schnell und viel zu leicht an den Haken gegangen. Ja, es kam ihm jetzt sogar so vor, als hätte der Fisch auf Bestellung angebissen, als wäre er darauf trainiert, so kompromisslos wie möglich seinen Lebensfunken auszuhauchen. Was für ein merkwürdiger Gedanke. Robert schüttelte den Kopf, packte den Anglerkram zusammen und ging zurück zu seinem Wagen. Hinter ihm schimpften einige Angler am Seeufer, denen wahrscheinlich gerade die eigene Work-Life-Balance aus dem Gleichgewicht geraten war.
Kapitel 3
Als Robert mit seinem alten, roten Volvo Kombi 740 direkt am Dangaster Sielhafen eintraf, entdeckte er sofort die beiden Fischer, die gerade damit beschäftigt waren, eine Menge neugieriger Touristen und schaulustiger Wochenendbesucher von ihrem Krabbenkutter fernzuhalten. Denn es hatte sich bereits auf dem angrenzenden Campingplatz und damit auch in Windeseile bis zum nahegelegenen Alten Kurhaus herumgesprochen, dass die beiden einheimischen Fischer diesmal keinen fangfrischen Granat in den Hafen mitbrachten, sondern einen mysteriösen Fund, der nicht für die Augen der Öffentlichkeit, geschweige denn für die Bratpfannen der Camper, bestimmt war. Genaueres aber wusste keiner, deshalb zog es viele sensationsgierige Menschen hin zum Anlegerkai. Der Kommissar stieg aus seinem Wagen und ging auf einen der beiden Männer zu:
„Sind Sie es, der die Leiche gefunden hat?“
Robert hielt ihnen seinen Dienstausweis unter die Nase.
„Nicht direkt, Herr Wachtmeister“, antwortete Hauke Schortens.
„Ich bin Kriminalhauptkommissar Rieken. Und wie heißen Sie?“
Hauke Schortens war körperlich ein eher schmächtiger Typ mit blauer Bommelmütze und runzliger Gesichtshaut. Wie ein Seebär sah er nicht gerade aus, eher wie eine Figur aus einem dieser Walter-Moers-Comics. Hauke blickte etwas hilflos in