Lene Levi

Tödlicher Nordwestwind


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gutgemeinten ärztlichen Ratschläge und Therapien zu befolgen. Mit zunehmendem Alter lernte sie ganz pragmatisch damit umzugehen und irgendwann akzeptierte sie es, mit ihrer Krankheit so gut es eben ging fertig zu werden.

      Robert blieb für einen Moment vor dem Haus stehen und sah hinauf zu ihrem Wohnzimmerfenster. Er war beruhigt, da er die eingeschaltete Zimmerbeleuchtung erkennen konnte und die Bewegungen ihres Schattenbildes, das durch das Licht auf die Zimmerdecke projiziert wurde. Rixte einem trostlosen Altersheim auszuliefern, das hätte er nicht übers Herz gebracht, deshalb kümmerte er sich regelmäßig um sie. Er selbst bewohnte nur wenige Gehminuten entfernt eine Etagenwohnung in einem renovierten Gründerzeithaus. Diese Nähe erwies sich als sehr praktisch, denn wenn Markttage waren, besorgte er alle notwendigen Einkäufe und versorgte seine Mutter gleichzeitig mit dem allerneuesten Stadttratsch.

      Robert mochte dieses Viertel sehr. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Grundsteinlegung des Hauses, in dem er nun selbst wohnte, lies die etwas eigenwillige Hauseigentümerin ein Sandsteinrelief an die Hausfassade anbringen. Das steinerne Kunstwerk stellte eine barbusige junge Frau dar, die ganz verklärt in der einen Hand einen Joint hielt und in der anderen einen Backstein. Manchmal blieben Passanten davor stehen und betrachteten verwundert oder neugierig das Relief. Darunter hatte der Bildhauer eine Hinweistafel angebracht. Darauf stand der eindeutige Titel: Die Kifferin.

      Robert kannte die Hauseigentümerin schon seit vielen Jahren, denn er wohnte früher schon einmal hier in diesem Haus, damals jedoch noch als Polizeischüler und Mitglied einer WG, die zum Teil aus schwer erziehbaren Jugendlichen und zum anderen Teil aus Studenten und schließlich der Vermieterin selbst bestand. Das kiffende Hippiemädchen an der Hauswand war vermutlich deshalb auch eine Art Reminiszenz an längst vergangene Zeiten. Als Robert sich um seine Versetzung nach Oldenburg bemühte und sich bereits abzeichnete, dass seinem Antrag stattgeben würde, war ihm der Gedanke gekommen, seine damalige Vermieterin im Internet ausfindig zu machen. Sie erinnerte sich tatsächlich noch an ihn. Und so war er, nicht ganz zufällig, zu dieser schönen Wohnung gekommen. Mit seinem Einzug schloss sich ein Kreislauf in seinem Leben und dieses Ereignis vermittelte Robert das Gefühl, genau an einem Ort angekommen zu sein, an dem einmal alles begonnen hatte - und wo er jetzt wieder hingehörte. Inzwischen lebten hier längst andere Mieter. Die WG existierte schon lange nicht mehr. Die alten Geschichten waren mit den einstigen Hausbewohnern ausgezogen. Eine Frau, die direkt unter ihm wohnte, besaß einen silbergrauen Jagdhund, der jeden Morgen in den Garten schiss. Robert mochte Hunde. Und über ihm schien ein junges Pärchen zu wohnen, das er zwar schon des Öfteren nachts gehört, aber bisher noch nie persönlich zu Gesicht bekommen hatte.

      Mit den alteingesessenen Oldenburgern war er es dagegen nicht so einfach. Im Grunde hatte anscheinend nur er sich in den vergangenen Jahren verändert, so kam es ihm zumindest vor. Seine ganz persönliche Art, auf die Dinge des Lebens zu sehen und sie zu bewerten, war eine völlig andere geworden, seitdem er die Stadt irgendwann in den 80er Jahren verlassen hatte. Manchmal begegneten ihm in der Fußgängerzone vertraute Gesichter, die er jedoch nicht mehr namentlich zuordnen konnte. Seltsamerweise erkannten ihn selbst aber wesentlich mehr Leute aus früheren Tagen als umgekehrt. Wenn sie ihn fragten, wo er die ganze Zeit gesteckt habe und er dann erzählte, dass er in Berlin und anderswo gelebt und gearbeitet hätte, bekamen sie mitunter seltsam leuchtende Augen, als wäre Berlin das Gelobte Land oder gar die sächsische Elbmetropole Dresden ein exotischer Ort, der auf einer abgelegenen Südseeinsel liegt. So mancher seiner einstigen Weggefährten schien zwar unter der Beschaulichkeit und Trägheit der Stadt zu leiden, aber diesen Ort jemals für längere Zeit zu verlassen, dazu wäre kaum einer von ihnen bereit gewesen.

      Dem Stadtfluidum war irgendein undefinierbarer Klebstoff beigemischt. Und eben diesen Leim spürte Robert nun selbst wieder unter den eigenen Schuhsohlen. Oldenburg war eine Klebestadt. Hier lebten scheinbar friedfertig mit- und nebeneinander Studenten und Bankangestellte, Esoteriker und Verwaltungsbeamte, Arbeitslose und Akademiker, Lehrer und Besserwisser, Fahrradfahrer und Altrocker. Und genauso stellten es die hiesigen Stadtväter auch sehr gern dar, wenn sie über die von ihnen selbst inszenierte »Zukunftsstadt« ins Schwärmen gerieten.

      Die Fußgängerzone in der Innenstadt funktionierte im Grunde wie ein Kettenkarussell, sie war öffentliche Ringelpiezanstalt und zugleich auch die Buschfunkzentrale Oldenburgs. Für einen Kriminalkommissar ein ziemlich ergiebiges Terrain. Robert brauchte sich eigentlich nur eine Weile in eines der Straßencafés zwischen Staulinie und Theaterwall zu setzen, um von diesem Fixpunkt aus die vorüberziehenden Passanten zu beobachten. Nach kurzer Zeit hätte er alle Neuigkeiten erfahren, die diese Stadt derzeit bieten konnte, ohne dabei auch nur einen Fuß vor den anderen setzen zu müssen. Auch das gehörte mit zur Gediegenheit des Oldenburger Stadtlebens.

      ***

      Der Wolkenbruch des gestrigen Abends brachte am Montagmorgen nicht die erhoffte Abkühlung. Es war noch immer heiß und schwül. Die Luft in dem Plattenbau, in dem die Polizeiinspektion untergebracht war, wirkte abgestanden und stickig. Robert wollte nur kurzzeitig sein Büro aufsuchen, um etwas Schreibkram und ein paar Anrufe zu erledigen. Er war noch immer ziemlich sauer auf seinen Chef. Da aber Heribert de Boer noch nicht zum Dienst erschienen war, entschied er sich dafür, die neue Woche möglichst ruhig anzugehen. Nach einer Stunde hielt er es in der Dienststelle nicht mehr aus. Er schwang sich auf sein Fahrrad und radelte in Richtung Innenstadt.

      Kurze Zeit später schlürfte er an einem Glas Latte macchiato in einem der Straßencafés und beobachtete gelangweilt die Leute, als plötzlich sein junger Mitarbeiter auftauchte. Kriminalmeister Jan Onken, mit dem er sich seit einem halben Jahr das kleine Dienstzimmer und sogar den einzigen Schreibtisch darin teilte, legte Robert von hinten seine Hand auf die Schulter.

      „Hab ich´s mir doch gleich gedacht, dass Sie sich hier vor der Arbeit drücken.“

      „Im Gegenteil, Onken, im Gegenteil. Ich behalte die Szene der Kleinkriminalität im Auge. Immerhin werden pro Tag etwa acht Drahtesel hier in der Stadt geklaut. Da muss das Auge des Gesetzes stets wachsam sein. Sogar während der Mittagspause.“

      Robert streute genüsslich braunen Rohrzucker in sein Getränk und beobachtete dabei das verblüffte Gesicht seines jungen Kollegen.

      „Ah, verstehe. Mittagspause um 10 Uhr 30.“

      Er ging auf diese ironische Bemerkung nicht ein. Jan legte das aufklappbare Kästchen mit dem Backgammonspiel auf den Bistrotisch und setzte sich zu Robert.

      „Hat sich inzwischen das Betrugsdezernat gemeldet?“, erkundigte sich Robert.

      „Nein, aber die Gerichtsmedizin hat vor etwa einer halben Stunde angerufen. Sie sollen zurückrufen, sobald Sie wieder im Büro sind.“

      Jan war Ende Zwanzig und erst vor einigen Monaten von der Polizeiakademie Niedersachen direkt ins Oldenburger Kommissariat versetzt worden. Seine Gesichtszüge und sein ganzes Äußeres ähnelten auf merkwürdige Weise dem des englischen Prinzen William. Er kleidete sich überaus korrekt und bevorzugte dabei dunkle Strellson-Anzüge. Sein Haupthaar war für sein Alter bereits sehr dünn, auch darin ähnelte er dem englischen Thronfolger. Dadurch wirkte er viel reifer und gesetzter. Jan hätte sicher auch als smarter Banker eine gute Figur abgegeben. Ansonsten war er ein schlanker, sportlicher Typ, im Gegensatz zu Robert. Der Kommissar und sein junger Kriminalmeister waren schon deshalb rein optisch ein vollkommen ungleiches Paar. Robert wäre es am Beginn seiner eigenen Polizeilaufbahn wahrscheinlich niemals in den Sinn gekommen, mit Schlips und gebügeltem Hemd, geschweige mit einem teuren Anzug, zum Dienst zu erscheinen. Das war damals noch nicht üblich, aber so ändern sich die Zeiten. Ansonsten kam er mit Jan sehr gut zurecht und das war die Hauptsache. Beide hatten es von Anbeginn ihrer Zusammenarbeit geschickt verstanden, die gravierenden Generationsunterschiede und abweichenden Lebenserfahrungen mit allen damit einhergehenden hierarchischen Kompetenzproblemen, die leicht zu Konflikten führen können, in den Hintergrund zu stellen. Für Robert war vor allem eins wichtig: alle beruflichen Probleme effizient und gemeinsam zu lösen. Dienstränge oder Hackordnungen jeglicher Art spielten für ihn nur eine untergeordnete Rolle. Er fühlte sich während seiner Arbeit an keinerlei Konventionen gebunden und Dienstvorschriften interessierten ihn schon gar nicht. Es reichte ihm aus, dass sie auf dem Papier standen. Der Alte konnte von dem Jungen ebenso