zog den vom Meerwasser verquollenen Sneaker aus seiner Verpackung und drückte ihn Robert in die Hand. „Es sind kaum Kratzspuren auf der Sohle zu erkennen. Ein deutlicher Hinweis, dass der Schuh nur kurze Zeit getragen wurde.“
„Oder er wurde nicht auf einer Straße, sondern vielleicht nur auf Deck eines Schiffes getragen“, entgegnete Robert und sah sich das Exemplar von allen Seiten genauer an.
„Vielleicht. In der Regel zeigen sich die Besitzer solcher Luxusschuhe gern in einer angemessenen Umgebung, etwa auf Partys, genau dort, wo sie damit auffallen. Verstehst du? Die Latschen sollen gesehen werden.“
„Ist das nicht vielleicht eine – verzeih bitte – zu weibliche Sicht?“ Robert stellte den Schuh auf das Edelstahltischchen zurück. Dann dachte er kurz nach. „Könnte dieser Sneaker vielleicht nicht auch als Bordschuh auf einer Yacht benutzt worden sein? Straßenschuhwerk ist ja auf diesen Segelschiffen reichlich verpönt, soviel ich weiß. Sie würden die edlen Holzböden der Decks ruinieren.“
„Durchaus möglich, eine Luxusyacht käme sicher auch infrage. Das könnte auch den fehlenden Abrieb erklären. Aber ich bleibe dennoch bei meiner Eitelkeitstheorie. Dieser Mann hier hatte zu seinen Lebzeiten einen ausgeprägten Hang zu Luxusartikeln. Dies zeigt sich auch bei dem nächsten Gegenstand.“
Jetzt hielt Lin dem Kommissar eine weitere Plastikverpackung hin. Darin befand sich die Armbanduhr. Robert reagierte nüchtern.
„Ja, die Reverso Gran` Sport ist mir auch schon am Fundort auf dem Kutterdeck aufgefallen.“
„Ahhh, da zeigt sich der kriminalistische Fachmann. Kompliment, Robert Rieken.“ Sie blinzelte und konzentrierte sich dann wieder auf die Uhr. „Es ist ein schon etwas älteres Modell, vielleicht aber auch eine Imitation, so genau kenne ich mich da nicht aus. Fakt ist: Diese Armbanduhr ist am 20. Juni um 8 Uhr 35, also vor über einem Monat stehengeblieben. Wie gesagt, es ist eine Automatik, die sich durch Körperbewegungen selbst aufzieht. Allerdings hat das Ding wahrscheinlich einen Schlag abbekommen. Die Automatik funktioniert nicht mehr und das Saphirglas ist zersprungen. Der Hersteller garantiert bis auf 50 Meter absolute Wasserdichtheit. Händlerpreis: ca. 4.900 Euro. Mehr kann ich dir darüber beim besten Willen nicht sagen.“
„Mich würde auch viel mehr die Todesursache interessieren.“
Lin wurde wieder ganz sachlich: „Tod als natürliche Ursache beim Baden oder Schwimmen, negativ. Wer geht schon mit seinen teuren Lederschuhen ins Wasser. Herzinfarkt, epileptischer Anfall, Hirnblutung, rupturierte Aneurysmen, alles negativ. Der Mann war genauso fit wie sein eigener Schuh. Allerdings, einen Selbstmord kann ich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen. Deshalb wollen wir uns die Leiche etwas genauer ansehen. Ich hatte ja bereits angekündigt, der Tote hätte noch so einiges zu erzählen.“
Robert öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann offensichtlich anders und bemerkte stattdessen: „Du erinnerst mich ein wenig an Gottfried Benn, der übrigens ein Kollege von dir war. Du pflegst, genau wie der Dichter, auf eine lyrische Art, durch die Blume zu sprechen.“
Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe.
„Das erklärt sich durch meine asiatische Herkunft fast von selbst. Aber glaube mir, mit Benns Dichtkunst hat das leider nur sehr wenig zu tun. Dieser Mann hier auf dem Seziertisch war zu seinen Lebzeiten bestimmt kein Bierkutscher. Dieser Mann wollte immer obenauf schwimmen. Tja, jedenfalls bis zu seinem letzten Atemzug ist ihm das ja auch geglückt.“
„Selbstmord ist also immerhin doch möglich. Todesursache? Todesart? Was hast du herausgefunden?“
„Es gibt eindeutige Hinweise auf Gewalteinwirkung. Als da wären: eine Bruchstelle des Schädelknochens am Hinterkopf und eine deutliche Abschürfung an der linken Hüftseite. Außerdem geringe Abschürfungen auf Brust und Rücken. Als Todesursache kommt das jedoch alles nicht in Betracht. Dazu später mehr.“
„Könnten diese Verletzungen vielleicht auch bei der Bergung der Leiche verursacht worden sein?“
„Gute Frage! Bergungsverletzungen kann ich natürlich nicht ausschließen, bis auf zwei kleine Flecken auf seinem Gesicht, die erst lange Zeit nach seinem Todeszeitpunkt entstanden sind. Tierfraß ist zwar nachzuweisen, habe ich bereits auch lokalisiert und protokolliert. Da dieser jedoch in Bezug der Todesursache keine Relevanz hat, können wir das gleich vergessen.“
Lin ging einige Schritte auf und ab, bevor sie weitersprach. „Dann wären noch Treibverletzungen in Betracht zu ziehen. Die Abschürfungen auf Brust und Rücken könnten hierfür ein mögliches Indiz sein. Sie könnten jedoch dem Mann genauso gut auch bei einer vorausgehenden Kampfhandlung zugefügt worden sein. Schiffsschraubenverletzungen kann ich übrigens vollkommen ausschließen, da wäre von dem Körper nur noch Hackfleisch übrig. Aber alle diese Verletzungsarten haben unmöglich etwas mit der Bruchstelle seines Schädelknochens am Hinterkopf zu tun. Der Mann wurde mit hundertprozentiger Sicherheit mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen, ist daran aber nicht gestorben.“
Robert hielt sich nun doch ein Taschentuch vor den Mund, da sein Teint langsam begann, die Farbe einer durchsichtigen Wachskerze anzunehmen. Leise und widerstrebend sagte er: „Ich hatte gehofft, er ist ein Unfallopfer und die Sache wäre dann für mich schnell erledigt gewesen. – Entschuldige bitte.“
Robert räusperte sich und wandte sich dabei etwas ab.
„Ich habe da einen guten Cognac in meinem Büro. Vergiss für einen Moment, dass du im Dienst bist.“
„Nein, vielen Dank, Lin. Das ist sehr freundlich von dir.“
„Das wär´s fürs Erste.“ Lin deckte die Leiche mit einem grünen Tuch ab und schob sie in das Kühlfach zurück.
Anschließend zogen beide ihre Schutzkleidung aus, streiften sich die Latexhandschuhe von den Händen und warfen die Sachen in einen Behälter. Im Büro schenkte Lin einen kräftigen Schluck Cognac in ein Pernodglas und hielt es Robert unter die Nase.
„Hier, riech mal.“
Er konzentrierte sich, kämpfte gegen diese eisige, kriechende Panik an, die ihn schon minutenlang im Griff hatte. In seinem Kopf war nichts als Leere. Dann nahm er ihr das Glas mit dem Cognac aus der Hand und fing sich allmählich wieder.
„Wie geht es übrigens deiner Mutter, Robert?“
„Danke. Es geht ihr den Umständen entsprechend, wie man so schön sagt. Aber es ist immer mal wieder mit einem plötzlichen Anfall zu rechnen.“ Jetzt roch er an dem Cognac. „Oh, er hat wirklich ein verführerisches Bukett.“
„Ich habe da noch etwas für deine Mutter. Ein ausgezeichnetes Mittel gegen Migräne.“
Lin zog aus einer der Schreibtischschubladen eine dekorlose Aluminiumdose hervor und übergab sie Robert.
„Was ist das?“ Er drehte den Behälter leicht hin und her und vernahm aus dem Inneren ein leises Rascheln. „Ich fürchte, ein Mittel gegen Migräne könnte ich jetzt selbst ganz gut vertragen.“
Ihr Lächeln traf ihn erneut. „Dann probiere einfach den Cognac.“
„Also gut. Als Bulle ist man ja sowieso immer im Dienst. Also wäre es ein Frevel, wenn man sich so was nicht auch mal gönnen würde.“
Er betrachte sie und überlegte, wie so oft in den vergangenen Wochen, ob er es sich nur einbildete, dass sie ihn manchmal aus den Augenwinkeln heimlich beobachtete.
„Es ist ein zwölf Jahre alter Courvoisier, der hier schon so manchen nützlichen Dienst geleistet hat. Das kannst du mir glauben.“
„Und was soll das hier sein?“ Robert studierte die Aluminiumdose etwas genauer. Sie ähnelte einer alten Verpackung, in der früher Filme für Fotokameras verkauft wurden, bevor die digitale Revolution all diese Gegenstände überflüssig werden ließ.
„Darin befinden sich Kekse. Sag deiner Mutter, sie soll jeden Abend, bevor sie zu Bett geht, einen halben Keks zu sich nehmen und dazu ein Glas Tee trinken. Das wird ihr ganz bestimmt helfen.“
„Ich