Jan als sehr notwendig. Datenbanken zu füttern, aufzubauen und zu pflegen, das gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Er war ja quasi mit dem modernen technischen Krimskrams aufgewachsen. Jan profitierte dagegen reichlich von Roberts kriminalistischem Spürsinn und seinen manchmal unorthodoxen Ermittlungsmethoden. Einen besseren Vorgesetzten hätte er sich eigentlich nicht wünschen können. Allerdings gehörten Fahrraddiebstähle nicht unbedingt zu den übermäßig verantwortungsvollen Aufgaben, die sie gern gemeinsam aufklären wollten, aber sie arbeiteten dennoch sehr erfolgreich in diesem Bereich. Das Team Rieken/Onken hatte es immerhin binnen weniger Monate geschafft, die Aufklärungsquote dieser Delikte schlagartig nach oben schnellen zu lassen. Sechs von acht Fahrraddiebstählen schafften sie, innerhalb weniger Wochen nach begangener Tat aufzuklären. Dazu gesellten sich neuerdings ganz gewöhnliche Wohnungseinbrüche und Autodiebstähle. Dagegen kamen Mord oder Totschlag in Oldenburg relativ selten vor. Und genau das war einer der Gründe, weshalb Robert seine Versetzung in diese Stadt angestrebt hatte.
Nachdem sie gemeinsam noch einige Partien Backgammon speilten, die allesamt Robert verlor, verließen sie das Café und kehrten ins Polizeirevier zurück.
Im Büro bekam Robert plötzlich Kopfschmerzen. Er trat an den Wasserkocher, um sich eine frische Tasse Tee aufzubrühen. Dann öffnete er beide Fenster, um einen Luftdurchzug zu ermöglichen. Aber es schien aussichtslos zu sein. Draußen bewegte sich kein einziges Blatt an den Bäumen. Jan saß an seinem PC und hackte auf der Tastatur herum. Von einem der beiden Bürofenster aus blickte Robert ins Grüne eines gegenüberliegenden alten Friedhofs, als plötzlich das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Frau Dr. Lin Quan, die Gerichtsmedizinerin, meldete sich. Robert nahm ab:
„Moin Lin. Du hast wahrscheinlich so einiges über die Wasserleiche herausgefunden. Stimmt’s?“
„Eines ist zumindest sicher, da hast du mir einen interessanten Fall auf den Seziertisch gelegt. Wann kannst du rüberkommen?“
Wer Lin Quan nicht kannte, hätte leichtfertig an einen ungewöhnlichen Fall von transnationaler Seelenwanderung glauben können. Sie war zwar Chinesin, aber gebürtige Oldenburgerin. Ihre Eltern waren Kanton-Chinesen und vor über drei Jahrzehnten nach Niedersachsen übergesiedelt. Sie betrieben seither einen Schnellimbiss im Stadtteil Nadorst, in dem Robert schon während seiner Ausbildungszeit häufig verkehrte, da das Essen dort gut und sehr preiswert war. Lin war ihm schon damals im Imbiss über den Weg gelaufen. Jetzt aber war aus dem kleinen chinesischen Mädchen eine attraktive und hochgewachsene Frau geworden. Für Robert war es immer wieder sehr reizvoll, eine Chinesin zwar zu betrachten, aber gleichzeitig eine typische Oldenburgerin zu hören, die alle sprachlichen und mentalen Eigenheiten ihres Geburtsortes bereits quasi mit der Muttermilch in sich aufgenommen hatte und so sprach, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Ihre Physionomie und ihr Idiom passten irgendwie in der Vorstellungskraft der meisten Menschen noch nicht ganz zusammen. Und genau darin lag dieser sonderbare Reiz. Robert hatte im Laufe seines Lebens einmal einen Japaner kennengelernt, der lupenreinen bayerischen Dialekt sprach, weil er in Oberbayern aufgewachsen war. Auch war ihm schon mal ein Schwarzafrikaner über den Weg gelaufen, der einen derart stark ausgeprägten sächsischen Dialekt zu sprechen pflegte, dass selbst die eingefleischtesten Sachsen seine Aussprache nur schwer ertragen konnten. Nun war ihm in der »Zukunftsstadt« Oldenburg eine Chinesin begegnet, die kaum mehr norddeutscher sein konnte. Vielleicht lag darin tatsächlich der erste Schritt für eine nahe Zukunft, in der alle Grenzen und Herkunftsbarrieren keine Rolle mehr spielen würde.
Dr. Lin Quan und Robert waren sich zum ersten Mal seit seiner Rückkehr während einer Theateraufführung im Oldenburgischen Staatstheater begegnet. Sie besaßen beide ein Abonnement und beanspruchten zufälligerweise zwei nebeneinanderliegende Sitzplätze im Parkett 3. Reihe, ziemlich in der Mitte. Gezeigt wurde Charleys Tante, eine Komödie in drei Akten von Brandon Thomas. Eine langweilige Inszenierung. Während der Pause waren sie ins Gespräch gekommen und fanden bald heraus, dass sie auch beruflich für die gleiche Behörde arbeiteten. Bereits kurz nach ihrer ersten Begegnung begannen sie Freunde zu werden und verabredeten sich seither ab und an. Jetzt aber trafen sie eine rein dienstliche Verabredung.
„Wie wäre es mit heute Nachmittag? Sagen wir mal gegen 17 Uhr“, bot ihr Robert an.
Sie zögerte nur kurz. Dann sagte sie: „Gut, das passt. Aber ich empfehle, vorher nichts Schwerverdauliches zu dir zu nehmen. Das wird ver …“
Robert unterbrach die Gerichtsmedizinerin, noch bevor sie ihren letzten Satz vollständig aussprechen konnte.
„Oh ja. Genau, das habe ich bereits befürchtet, Lin. Erspare mir aber bitte jetzt am Telefon die allzu genauen Details.“
„Wie soll das funktionieren? Ich werde dir auf jeden Fall das kleine Geheimnis des Toten nicht vorenthalten können. Aber die Leiche besteht darauf es dir selbst zu erzählen. Sie liegt hier direkt vor mir auf dem Tisch und wartet schon auf dich. Also dann, bis nachher.“
Kapitel 5
Robert verspürte auf dem Weg zum Rechtsmedizinischen Institut tatsächlich ein ziemlich undefinierbares Gefühl in seiner Magengegend. So sehr er seinen Job liebte, so sehr hasste er die verdammten Pflichttermine in den kühlen Leichenkellern dieser Einrichtungen. Allein der süßliche Geruch bereitete ihm immer wieder großes Unbehagen, von all den Leichenplastikbehältern, Sektionsinstrumenten und Desinfektionsmittelspendern in den gekachelten Obduktionssälen ganz zu schweigen. In Oldenburg war ihm bisher solch ein Pflichttermin erspart geblieben. Aber nun stand er im Souterrain des Instituts und versuchte den fahlen Geschmack in seinem Mund mit Wasser hinunterzuspülen. Ein in dem Flur aufgestellter Wasserspender wurde offensichtlich häufig benutzt, da es anderen Besuchern wahrscheinlich ebenso erging wie Robert jetzt in diesem Augenblick. Auf Knopfdruck stiegen große und blubbernde Luftblasen an die Oberfläche des Plastikbehälters und ein Wasserstrahl ergoss sich in einen Pappbecher. Ein trostloser Apparat in einer noch trostloseren Umgebung. Er begriff, dass der Schluck Wasser ein Fehler war, denn die Flüssigkeit schmeckte abgestanden und fahl. Endlich öffnete sich eine Tür am Ende des Flurs und Lin Quan kam Robert gutgelaunt entgegen. Ihre Anwesenheit ließ ihn das flaue Magengefühl einen Moment lang vergessen und er warf den halbgeleerten Pappbecher in einen Abfallbehälter. Dennoch nahm er sich vor, den Termin nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Sie gingen zusammen den Flur entlang, dann öffnete die Rechtsmedizinerin eine mit Zahlencode gesicherte Tür und beide betraten den Obduktionssaal.
„Liebe Lin, bringen wir es so schnell wie möglich hinter uns. Was hast du herausgefunden?“
Sie holte tief Luft und sah ihn mit festem Blick an: „Den Feststellungen der Rechtsmedizin zufolge handelt es sich bei dem Toten um einen Mann im Alter zwischen 25 und 35 Jahren, 180 cm groß und 80 kg schwer.“
Der Tote war scheinbar in allem durchschnittlich: durchschnittlich schwer, durchschnittlich groß, mit einem durchschnittlichen Gesicht, das ihm im Dutzend an jeder Straßenecke der Stadt schon begegnet sein könnte. Dies war Roberts erster Eindruck. Allerdings bedurfte es schon etwas Fantasie, um aus der aufgequollenen Masse überhaupt noch ein Gesicht erkennen zu können. Er musste sich überwinden, genauer hinzusehen.
„Konntest du die Identität des Mannes feststellen?“, erkundigte er sich.
„Leider nicht. Ich habe in seiner Kleidung keine personalisierten Dokumente gefunden, wenn du das meinst. Kein Pass, keinen Führerschein, keine Versicherungskarte. Aber es gibt natürlich einige interessante Hinweise, die in eine bestimmte Richtung führen könnten. Sein Schuh beispielsweise, ein Edelsneaker aus feinstem Leder.“ Sie schenkte Robert ein kurzes Lächeln, aber er spürte dennoch, dass sie im Geiste erkennbar ganz woanders war. Dann sprach sie weiter ohne dabei ihren sachlichen Ton zu verändern: „Der Name des Herstellers ist deutlich im Inneren des Schuhs zu erkennen: Dolce & Gabbana. Solch ein Paar kostet schon mal schlappe 350 bis 400 Euro. Zudem werden beispielsweise Edelsneaker aufgrund ihres meist deutlich höheren Ladenpreises vornehmlich von finanziell gut gestellten, modebewussten Erwachsenen in der Altersklasse zwischen 25 und 40 Jahren gekauft.“ Jetzt griff sie nach dem in einer Plastiktüte verpackten Schuh, der auf einem Beistelltisch abgelegt war. „Und betrachte mal die Sohle des Schuhs