Andy Klein

19 Tage


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und fragte sich, warum ihm nicht aufgefallen war, dass seine Großmutter in der letzten Zeit schon etwas zerstreut war. Aber es gab auch nicht den leisesten Hinweis darauf. Vielleicht hatte sie sich aber auch einfach nur im Datum geirrt. Sie war körperlich wie auch geistig eigentlich voll auf der Höhe, bis zum letzten Tag. Schließlich konnte sie ja auch noch mit ihren 79 Jahren auf den Dachboden klettern, um das Tagebuch und den Brief mit dem Geld in der Truhe zu deponieren. Vielleicht hätte er die Sachen erst in ein paar Jahren gefunden, wenn er nicht zufällig davon geträumt hätte. Und

      warum legte sie überhaupt das Tagebuch zum Abschiedsbrief, wo nur lediglich ein einziger Eintrag zu lesen war.

      Trotz der vielen Fragen und wirren Gedanken forderte sein Körper Ruhe. Lucas nahm das Geld ohne es zu zählen und steckte es zusammen mit dem Brief zurück in den Umschlag. Den Umschlag legte er dann in das Tagebuch und ging ins Wohnzimmer, um sich auf das Sofa zu legen. Ein letzter Gedanke ließ ihn den Schlaf noch ein paar Minuten besiegen.

      War Sarah wirklich wieder in der Stadt?

      TAG 1

       »Lucas, ich hab’ hier etwas Schönes für dich, mein Junge!« Mimi drückte pausenlos den Knopf der Klingel.

       »Oh Mann! Ja, ja, ich komme ja schon!«

      Schlaftrunken wankte er zur Tür und öffnete sie.

       »Mimi, es ist doch noch mitten in der Nacht.«

       »Ach was, es ist doch schon 10.00 Uhr und schau mal was ich hier für dich habe.«

      Mimi streckte ihm ihren leckeren selbstgebackenen Käsekuchen entgegen und sogleich drängelte sie sich durch die Tür, an ihm vorbei und steuerte geradewegs in die Küche.

       »Du bist doch jetzt ganz alleine und einer muss sich doch jetzt um dich kümmern.«

      Mimi war die beste Freundin seiner Großmutter und wohnte in dem kleinen alten Haus genau gegenüber auf der anderen Seite der Straße. Die beiden alten Damen waren seit vielen, vielen Jahren unzertrennlich, wie zwei sich liebende Schwestern. Mimi begann den Tisch zu decken und Kaffee zu kochen.

       »Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst! Clara fehlt mir so sehr…!«

      Mimi begann zu schluchzen, während sie das Wasser in die Kanne laufen ließ.

       »Mimi, setz dich, ich mach das schon.«

      Lucas, noch immer schlaftrunken, nahm ihr die Kanne aus der zitternden Hand.

       »Was mache ich denn jetzt bloß ohne sie?«

       »Ich weiß was wir jetzt machen, wir essen jetzt erstmal ein leckeres Stück Kuchen.«

      Ein Lächeln huschte über Mimis Gesicht, bevor sie es in ein großes Stofftaschentuch vergrub und sich voller Inbrunst ihres Naseninhaltes entledigte. Lucas setzte sich an den Tisch und strich ihr sanft über den Kopf.

       »Mir fehlt sie auch, Mimi, mir fehlt sie auch…«

       »Hast du auch noch das Gefühl, dass sie noch da ist?«, brachte Mimi schluchzend hervor und Lucas nickte schweigend. So saßen die Beiden beieinander, aßen Kuchen und begannen damit sich alte Geschichten zu erzählen. Das ist immer so, dass trauernde Menschen sich an die schönen und lustigen Momente mit ihren Liebsten erinnern.

      Und als Lucas so überlegte, dann gab es eigentlich auch nur schöne Erinnerungen an seine Großmutter.

       »Huch, es ist ja schon fast halb zwölf. Jetzt muss ich aber rüber! Du weißt ja, wenn Hank nicht pünktlich sein Mittagessen auf dem Tisch stehen hat, dann ist er für den Rest des Tages unausstehlich… Du bist ein guter Junge.«

      Mimi kniff ihm in die linke Wange, verließ das Haus und verschwand schnell im Haus gegenüber.

      Eigentlich wollte Lucas duschen, er hätte es auch mehr als dringend nötig gehabt, aber ihn überkam wieder diese unglaubliche Müdigkeit. Er ließ in der Küche alles stehen und liegen und trottete wieder ins Wohnzimmer auf das Sofa. Irgendwie fühlte er sich dort am wohlsten. Kaum lag er auf dem Sofa, war er auch schon eingeschlafen.

      Die Sonne blendete sein Gesicht, als er am Nachmittag wieder aufwachte. Völlig durchschwitzt schleppte er sich in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm die Milch heraus. Er war furchtbar durstig und trank die halbe Plastikflasche leer. Als das Duftgemisch von Schweiß und Bier seine Nase erreichte, war es nun wirklich an der Zeit zu duschen. Er ging hinauf ins Bad und verließ die Dusche erst, als seine Füße und Hände total schrumpelig waren. Irgendwie fühlte er eine innere Übelkeit in sich aufsteigen, als er seine Haare mit dem Handtuch trocken rubbelte. Die eiskalte Milch war wohl doch nicht so der richtige Durstlöscher und so beschloss er sich schnell anzuziehen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Lucas atmete tief durch. Er fühlte sich nach einigen Schritten schon ein kleines bisschen besser und wanderte ziellos durch den kleinen Vorort von Moonville. Ohne es so richtig zu registrieren, stand er plötzlich vor dem Eingang zum Friedhof. Und wo er schon einmal da war, beschloss er auch mal nach dem Rechten zu sehen. Er ging den schmalen Pfad entlang, vorbei an den zum Teil sehr, sehr alten Gräbern. Aus der

      Ferne sah er, dass jemand Blumen auf das Grab seiner Großmutter legte.

       »Sarah!«

      Dort stand sie und hatte einen großen Strauß mit Sonnenblumen auf das Grab gelegt. Unbemerkt ging er auf sie zu.

       »Sarah.«, flüsterte er leise von hinten in ihren Nacken.

      Erschrocken drehte sie sich blitzschnell um.

       »Lucas!«, sie umarmten sich und er ließ ihre Füße in der Luft schweben.

       »Lucas, ich habe es erst heute Morgen erfahren, es tut mir so leid!«

       »Schön dass du wieder da bist.«, flüsterte er ihr ins Ohr.

      Sie hielten sich eine Weile schweigend fest. Zu lange hatten sie sich nicht mehr gesehen. Mehr als zwei Jahre waren mittlerweile verstrichen, aber ihm kam es vor wie eine halbe Ewigkeit. Sarah hatte vor einigen Jahren einen Studienplatz in Kalifornien erhalten, auf der anderen Seite des Kontinents und war in den letzten Jahren, wenn überhaupt nur zu Weihnachten in der Stadt. Auch ihre Familie hatte so einige Probleme und so musste sie sehr hart arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren.

       »Und, meine Schöne, bist du jetzt Veterinärmedizinerin?«

       »Ja, ich hab es geschafft!«

      Er drückte sie noch einmal ganz fest, und ließ sie dann wieder sanft zu Boden.

       »Sis, ich bin so froh, dass du wieder da bist…«, er blickte ihr tief in ihre dunkelbraunen Augen. »…Du glaubst gar nicht, wie sehr wir dich vermisst haben, Nana und ich.«

      Sarahs Augen füllten sich mit Tränen.

       »Ich wünschte, ich hätte mich noch von ihr verabschieden

      können!«

      Lucas legte seine Hände sanft an ihre Wangen, wischte ihre Tränen zärtlich mit seinen Daumen aus dem Gesicht und nahm sie gleich darauf wieder in seine Arme.

       »Jetzt bist du ja da.«

      Sie hielten sich noch eine Weile schweigend fest.

       »Komm, wir gehen ein bisschen.«, sagte Lucas schließlich. Er nahm ihre Hand in seine und sie verließen den Friedhof. Ziellos schlenderten sie durch den kleinen Ort, der wie immer wie ausgestorben wirkte. Sie hatten sich so viel zu erzählen. Und es war plötzlich so, als wäre sie nie fort gewesen. Sie erzählte von ihrem Studium, von ihrer gescheiterten Beziehung, von den Tieren, von ihrem Job als Kellnerin, von ihren Ängsten und er - er hörte einfach nur zu. Schließlich standen sie vor seiner Tür.

       »Komm, geh noch mit rein. Mimi hat mich heute Morgen mit ihrem Käsekuchen überfallen, der möchte auch von dir gegessen werden.«

       »Hmm, Mimis Käsekuchen, nah, wer kann dazu schon nein sagen!«

      Auch Sarah verband mit dem Haus ihre Kindheit, weshalb sie erst mal durch die unteren Zimmer ging. Währenddessen