Paul Hartmann Hermann

Das Myzel


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tief ein und sagte ohne nähere Erklärungen abzugeben: „Das kommt von den alten Büchern.“ Das wirkte wie eine Autosuggestionsformel: Ich muss nur die Bücher entfernen, damit der Modergeruch weg ist. Aber warum räumte er die Bücher dann nicht einfach weg, fragte sich K. Einerseits diese Irrationalität und andererseits eine tiefgehende Beschäftigung mit wissenschaftlichen Fragestellungen. Das passte nicht zusammen. Diese Ambivalenz trat auch in seiner unverhohlen zur Schau gestellten Begeisterung für Deutschland und der gleichzeitigen Beschäftigung in einer jüdischen Anwaltskanzlei zu Tage.

      Da musste es noch etwas Übergeordnetes geben, etwas, das wichtiger für ihn war, als die Autofirma, sein New York, die Kanzlei, seine Oldtimer und sein Haus, etwas, das sein Verhalten und seine Entscheidungen vor allem anderen dominierte. Vielleicht war Bockhold Mitglied in einem rechtsextremistischen Geheimbund. Überschießende nationale Gesinnungen waren ja in Amerika nichts Außergewöhnliches. K. war mit seinen ausschweifenden Fantasien zur Hintergrundanamnese Bockholds näher an der Wahrheit dran, als er es damals für möglich gehalten hätte.

      Auf Einladung Bockholds landeten beide in einem Restaurant in Long Branch, welches deswegen jeden Abend so voll war, weil leidlich schmackhaftes Essen kredenzt wurde und weil die Showeinlagen der Köche die Herzen der Amerikaner höher schlagen ließen. Bockhold hatte offensichtlich den Status eines Stammgastes, denn der Schlitzäugige hinter dem Kochtresen streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen.

      Es war für K. nicht eindeutig auszumachen, ob das jetzt ein chinesisches, ein japanisches oder ein vietnamesisches Lokal war. Jedenfalls standen hinter Garplatten, die mehrere Quadratmeter groß waren, asiatische Köche mit hohen weißen Kochmützen. Rings um die Kochstelle gruppiert konnten die Gäste den Aktionen des Meisters beiwohnen. Bevor der die Shrimps, Rinderfiletstreifen oder das klein geschnittene Gemüse auf die heiße Platte gleiten ließ, zog er eine alberne Show mit Messern und anderen Kochutensilien ab. Die Teile flogen erst in der Luft herum und landeten dann auf seiner Mütze oder wurden von ihm mit der Hand im Rücken gefangen. Dazu erzeugte der Koch mit diversen Besteckteilen laute Klappergeräusche. Die Gäste waren begeistert.

      Alkoholhaltige Getränke wurden in diesem Lokal nicht ausgeschenkt. Man brachte sich die Spirituosen selber mit. Bockhold hatte eine Weinflasche in einer braunen Packpapiertüte dabei. Er reichte die Tüte an den Schlitzäugigen. Der sollte die Flasche entkorken.

      Alle zehn Minuten ertönte eine Fanfare. Schon wieder hatte einer der Gäste Geburtstag und schon wieder gab es eine mit funkensprühenden Wunderkerzen bestückte Torte, die aufs Haus ging. Es schien so, als wenn alle Einwohner von Long Branch ihren Geburtstag hier und heute feiern würden.

      Während des Essens erlebte K. Bockhold als relativ einsilbig. Die Späßchen des Kochs kamen bei ihm nicht an. Mit seinen Augen verfolgte er aber trotzdem unentwegt den Asiaten hinter der Kochplatte. Todernst und hoch konzentriert schlichtete er erst die Shrimps und dann das Rinderfilet in sich rein. Von dem mitgebrachten Wein trank er jedoch kaum etwas.

      Als Bockhold gezahlt hatte, gab ihm der Schlitzäugige die zusammengefaltete braune Papiertüte zurück, in der sich die Weinflasche befunden hatte. Bockhold steckte sie in die Innentasche seines Sakkos. Der ist wirklich kauzig, dachte sich K., sammelt er jetzt auch noch Einkaufstüten? Jetzt hatte sich Bockholds Stimmung schlagartig gewandelt. Unverständliche Introversion wich unverständlicher Exaltiertheit. „Als wenn ich heute auch Geburtstag hätte“, rief er und lachte laut. Er legte eine Zwanzigdollarnote als Trinkgeld auf den Tresen. Mit einem tiefen Schluck leerte er das vorher kaum angerührte Weinglas. „So ein schöner Tag!“

      Auf der Rückfahrt zeigte sich Bockhold zwar weiter schweigsam, seine gute Laune bestand jedoch fort. K. hörte ihn eine nicht identifizierbare Melodie Summen und Pfeifen. Als sie wieder im Holzhaus am Strand angekommen waren, hatte K. eine bleierne Müdigkeit überfallen, die ihn schnell ins Bett trieb. Bockhold schien auch an keiner weiteren Konversation interessiert zu sein.

      Nachts wachte K. auf und verspürte starken Durst. Er ging zum Kühlschrank in der Küche und holte sich ein Budweiser raus. Den Kronenkork entsorgte er in den Mülleimer. Dort sah er die zusammen geknüllte braune Papiertüte. Da war irgendetwas notiert. Einer inneren Eingebung folgend, zog er die Tüte aus dem Eimer. Er trank einen tiefen Schluck aus der Bierflasche. Dabei musterte er die Tüte und schaute in sie hinein. An der Oberkante innen waren zwei Zahlen mit schwarzem Filzstift hingeschrieben worden. Die eine Zahl war unschwer als Telefonnummer zu identifizieren, die andere schien eine Codenummer zu sein. Darunter stand noch take Brainforce App. K. riss die Notiz heraus und warf die Tüte wieder in den Mülleimer.

      Zurück in seinem Zimmer nahm er sein iPhone zur Hand und installierte die Brainforce App. Dann wählte er die Telefonnummer. Es meldete sich eine synthetische Stimme die sagte: Wellcome to Brainforce, the leading company in neuroenhancement, please insert your Code Number. K. starrte ungläubig auf das Display. Er gab die andere Nummer ein. Da erschien auf dem Display: This is the application for Mr. Bob W. Bockhold. Was ist denn das für ein Zauber, wunderte sich K. Jetzt hatte sich auf dem Display eine Art Desktop aufgetan. Es gab Chanel 1-3, jeweils mit den Funktionen Frequence und Voltage. Symbolisierte Regler konnten mit dem Touchscreen bewegt werden.

      K. drückte Kanal 1 und spielte ein wenig mit den Reglern. Zunächst passierte nichts. Doch dann hörte er Rumpeln in der Küche. Durch einen Türspalt konnte er Bockhold sehen, wie der vor dem Küchentisch kniete und hektisch auf der Tastatur seines Mobile Phones herumdrückte. Das Gerät hatte er wohl vor dem Zubettgehen dort liegen lassen. Er schien völlig derangiert zu sein. Er hielt das Handy beschwörend hoch und schüttelte es. Immer wieder bediente er die Tastatur. Das Handy war auf Mithören gestellt, so dass K. das Besetztzeichen hören konnte. Der Anwalt schien einem Nervenzusammenbruch nahe.

      Instinktiv unterbrach K. die Verbindung. Die Leitung war frei und Bockhold gelang es beim nächsten Einwahlversuch einen Anschluss zu bekommen. Er hatte sich zitternd auf einen Stuhl gesetzt. Das blaue Display hielt er dicht vor seine Augen, wodurch sein Gesicht gespenstisch ausgeleuchtet wurde. Er war jetzt offensichtlich im selben Bedienprogramm, in dem K. herumgedrückt hatte. Er versuchte, die Parameter auf Normalstellung einzuregulieren, was offensichtlich gelang. Denn langsam beruhigte er sich. Er lehnte sich weit zurück und atmete tief durch. Dann erhob er sich schwer und wankte in sein Schlafzimmer zurück.

      K. hatte die gespenstische Szene staunend beobachtet. Ganz hatte er die Bedeutung der Nummern noch nicht begriffen. Doch soviel stand fest, das war der Zugang zu so einer Art Joystick mit dem man Bockhold auf eine recht fiese Art malträtieren konnte. K. schlief nur schwer wieder ein.

      Auch im großen Amerika gibt es Spießer, möglicher weise mehr als bei uns zu Hause, diese Meinung verfestigte sich bei K. in den Tagen, in denen er mit Bockhold zu tun hatte. K. sah sich in dieser Auffassung bestätigt, als Bockhold zu dem Besuch eines Musicals am Broadway einlud. Gespielt wurde Mama mia, eine kitschige Abba-Homage mit einer dünnen Story und mittelmäßig singenden und schauspielernden Akteuren. Der Saal war randvoll, das Publikum tobte. Die Leute standen teilweise auf den Klappsitzen. Bockholds Augen glänzten. Er grölte die Melodien mit, ohne den Text zu kennen. Dabei zuckte sein Körper einen Antitakt zum vorgelegten Rhythmus. K. musste kurzzeitig an seinen ehemaligen Vorstandskollegen Bosse in der Health Care Foundation denken, der bei Songs von DJ Ötzi in Ekstase geraten war.

      K. hatte die Nase voll von der permanenten mittäglichen Futterei von lieblos zusammengeflickten Sandwichs, welche der Cateringservice lieferte. Wieso kriegen die im Land des Ketchups und der deftigen Fertigsaucen keinen Geschmack in diese Dinger rein, wunderte sich K. Aber auch unten auf den Straßen gab es nichts Akzeptables zu essen. Man lief überall in die Ernährungsfalle, in der man von Hamburgern und Hot Dogs bedroht wurde.

      An manchen Tagen kam sich K. beim Gang über die Wallstreet vor, wie in einer Kulisse auf dem Gelände eines Hollywoodstudios. Laufend wurden irgendwelche Filmszenen gedreht. Wenn wieder ein berühmter Schauspieler auf dem Set erschien, ging ein Raunen durch die gaffende Menge. Dabei lief im Verborgenen ein wesentlich interessanterer Streifen mit leibhaftigen Helden, die aber niemals zu Kinoruhm kommen würden. K. war auf dem besten Weg, auch so ein heimlicher Held zu werden.

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