Paul Hartmann Hermann

Das Myzel


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jetzt von der Mittelklasse neu entdeckt und zunehmend in Beschlag genommen. Bockhold berichtete stolz von den ständig steigenden Immobilienpreisen. Auch der Wert seiner Eigentumswohnung in Miami hätte deutlich zugelegt.

      Am nächsten Morgen begann der Weg zur Arbeit mit dem Auto, aber nur bis zur Anlegestelle der Expressfähre. Das dauerte keine fünf Minuten. In dem Schiff saß man wie in einem bequemen Großraumwagen der Bahn und konnte auf Monitoren über CNN die aktuellen Tagesmeldungen verfolgen. Nach einer reichlichen halben Stunde erreichte man die Einfahrt zur New York Bay. Die letzten zehn Minuten verbrachte K. auf dem Oberdeck. Es war ein besonderes Faszinosum, wie rechts Governors Island und links Ellis Island passiert wurden und dann aus dem Morgendunst die Skyline von Lower Manhattan auftauchte, immer höher und mächtiger wurde und das große Schiff angesichts der sich nähernden Wolkenkratzer zusehends schrumpfte. Nach Verlassen der Fähre wurden die Menschen von den Schluchten zwischen diesen Stahl und Stein gewordenen Allmachtsymbolen verschlungen. So saugte sich der Megaschwamm morgens geschäftig mit Menschen voll, um sie abends dann wieder rauszuquetschen. Die hohen Häuser mit der atemberaubenden Skyline wirkten wie eine Reuse, in der sich Größenwahn und Eitelkeiten beim Rein- und Rausfluten der Menschen verfingen.

      Am Hauptsitz der Anwaltskanzlei teilten sich rund 70 Anwälte und noch einmal so viele Mitarbeiter den spärlichen Platz in mehreren Etagen eines 50stöckigen Hochhauses aus den 1930-er Jahren. Damals soll es mal für kurze Zeit das höchste Gebäude in der Stadt gewesen sein, erzählte Bockhold. Die Eingangshalle im Erdgeschoss war marmorn getäfelt, ebenso die Aufzüge, welche innen teilweise zusätzlich großflächig verspiegelt waren. Im 42-sten Stockwerk am Ziel angekommen wurde es dann schon etwas schäbiger. Die Großzügigkeit und Pracht wich einer klein karierten Enge. Die Sekretärinnen saßen in Boxen, verbunden durch schmale Flure, durch die man nicht nebeneinander durchpasste. Die Toiletten waren nur über das innen liegende enge und finstere Treppenhaus zu erreichen. Der Toiletteneingang musste mit einer Codekarte geöffnet werden, die man sich rechtzeitig zu besorgen hatte.

      Dafür war der Ausblick aus dem Besprechungszimmer fantastisch. In der Ferne war die Freiheitsstatue zu sehen. Beim Blick nach links sah man den East River hinauf. Unten an den Piers lief ein Schiffsverkehr ab, wie auf dem Canale Grande, nur dass die Fährschiffe zehnmal so groß waren wie die Vaporettos in Venedig. Auf dem benachbarten Heliport starteten und landeten die Hubschrauber im Minutentakt.

      Und wenn man nach rechts schaute, dann blickte man direkt in die klaffende Lücke von Ground Zero. Am 11. September 2001 hatten sie von hier oben einen Logenplatz gehabt, bis sie evakuiert wurden. Keiner der Angestellten mochte über das Ereignis reden. Die Dramatik und das Grauen dieses Tages waren für K. im fernen Europa kaum fassbar gewesen.

      Jeder auf der Welt konnte sich zurück erinnern, an welchem Ort er sich damals aufhielt, als er von dieser epochalen Katastrophe erfuhr. K. befand sich auf einer Bahnfahrt nach Berlin. Ein Freund rief ihn an und berichtete erschüttert, dass Amerika in Flammen stehe. Er begriff das erst richtig, als er abends im Hotel die qualmenden Twin-Towers im Fernsehen sah.

      Was für eine Apokalypse musste das gewesen sein, als sich die durch die Flammen und den Rauch in die Enge getriebenen Menschen in den Abgrund stürzten und beim Herabfallen ihren eigenen gen Himmel aufsteigenden Seelen begegneten. K. erinnerte sich an seinen ersten Besuch in New York vor einigen Jahren, als er auf der Aussichtsplattform des World Trade Centers über eine in der Mittagssonne strahlende Stadt schaute. Ein makelloses Bild, bis auf die Kotzhaufen zwischen Geländer und den bis zum Boden reichenden Fensterscheiben. Nicht jedes Gleichgewichtsorgan war gegen den sich einstellenden Tiefentaumel gefeit. Was für eine Panik und Verzweiflung musste diejenigen getrieben haben, die gegen diesen Urreflex gehandelt hatten und gesprungen waren.

      Und dann wurde die Physis der im zusammenkrachenden Gebäude Verbliebenen quasi laminiert, ins Erdreich gepresst, auf die Dimension einer Inschrift reduziert. K. musste an die mit Bronze beschichteten Stolpersteine denken, in welche die persönlichen Daten der NS-Opfer eingraviert worden waren und die er erstmals in der Alten Schönhauser Strasse in Berlin-Mitte gesehen hatte, die mittlerweile aber in vielen anderen Städten aufgetaucht waren.

      Aber über eins berichteten die Anwälte in Zusammenhang mit dem Desaster dann doch, weil es zum Arbeitsthema passte. Professor Selikoff von der Mount Sinai School in New York sei in den 1970er Jahren einer der ersten gewesen, der eine valide und aussagekräftige Epidemiologie zu den asbestbedingten Gesundheitsschäden vorlegte. Er habe eindeutige Zusammenhänge zwischen der Einwirkung von Asbestfaserstaub und dem Lungenkrebs sowie dem Brustfellmesotheliom aufgezeigt. Hierzu habe er die Todesursachen der Werftarbeiter von den New Yorker Dock Yards untersucht. Diese hätten zu Kriegs- und Nachkriegszeiten intensiv Spritzasbest verarbeitet, wobei extreme Expositionen gegenüber Amphibolasbestfasern aufgetreten wären. Selikoff sei zum unumstrittenen Asbestpabst avanciert, obwohl er niemals ein Medizinstudium absolviert hatte.

      Als Brandschutz für die tragende Stahlskelettkonstruktion der Twin Towers wollte man ebenfalls den robusten Spritzasbest verwenden. Man habe bereits mit den Isolierungsarbeiten begonnen, da sei der berühmte Selikoff bei den Bauaufsichtsbehörden erschienen und hätte auf das hohe Gesundheitsrisiko für die Spritzasbestarbeiter hingewiesen. Daraufhin hätte man die Verwendung des Spritzasbestes eingestellt und es sei ein teurerer und wesentlich weniger effektiver Brandschutzüberzug verwendet worden. Viele seien nun der Meinung, dass die ursprünglich geplante asbesthaltige Isolierung den Brandtemperaturen am elften September Stand gehalten hätte und die Türme nicht eingestürzt wären. Wenn es aber dennoch zum Crash gekommen wäre, dann hätte ganz Manhattan ein Asbestproblem ungeahnten Ausmaßes gehabt. Die Spritzasbestisolierung wäre durch den Zusammensturz pulverisiert worden und die Asbestfasern hätten ganze Stadtteile kontaminiert.

      K. bemerkte bei Bockhold einen tief sitzenden Stolz auf diese Stadt. Das ist mein New York, sagte er ein paar Mal ergriffen. Das hielt ihn aber nicht davon ab, eine ebensolche Bewunderung für Deutschland zu hegen, was K. merkwürdig fand. Bockhold war Partner in einer Anwaltssozietät, welche jüdisch dominiert war. Wahrscheinlich hielt er sich als Nichtjude gerade wegen seiner deutschen Affinitäten in dieser Sozietät so gut. Er war hervorragend geeignet, die deutschen Klienten der jüdischen Lawfirm zu pflegen.

      Bockhold wollte K. sein New York zeigen. Dazu trieb er K. einen ganzen Tag lang zu Fuß durch die Stadt, wobei sie die üblichen Touristenpfade abliefen. Er kannte sein New York nur von der Seite, die auch den Fremden geläufig ist. K. interessierte aber das andere New York, die Stadt der Kunst, der Mode, der spektakulären Restaurants und der unverschämten Dekadenz und Aufschneiderei. So erwähnte K. den Meatpacking District und das dortige Bistro Pastis. Das hätte er sich gerne mal angesehen.

      Sein New-York-Führer schaute ihn verständnislos an, als K. diese Namen erwähnte. Stattdessen aßen sie bei McDonalds. Als Highlight hingegen empfand K. den Besuch bei Katz`s Deli in der South of Houston Street. Das Pastrami-Sandwich mit Riesenpommes und Salzgurken war eine Wucht. Aber die eigentliche Sensation für Bockhold war der Stuhl im Katz, auf dem Meg Ryan im Film Harry and Sally einen Orgasmus bekommen hatte, so war es jedenfalls auf dem Schild zu lesen, welches über dem Stuhl an der Decke baumelte. Im Skript zum Film sei allerdings gestanden, dass der Höhepunkt nur vorgetäuscht gewesen war, erläuterte Bockhold sachkundig.

      Bockhold zog es in jeden Souvenirladen, den sie passierten. Sein ausschließliches Interesse galt dort Gegenständen, die mit der deutschen Autofirma in Verbindung standen. Da gab es Salz- und Pfefferstreuer, Lätzchen, Serviersets und noch andere mehr oder weniger überflüssige Utensilien in Herbieform oder mit Beetleaufdruck. Vieles davon hatte er schon in seiner Sammlung, aber der Schuhlöffel für 9,99 Dollar, der fehlte noch.

      Sie hatten auf dem Nachhauseweg gerade den Landungssteg in Long Branch hinter sich gelassen und überquerten den Parkplatz. K. sah dort ausnahmslos Fahrzeuge der Kategorie über 50.000 Dollar stehen. Die meisten stammten aus deutscher oder italienischer Produktion.

      „Das ist ein cleveres Konzept“, sagte K., „man spart sich die teuren Mieten in Downtown, braucht, obwohl man weiter weg wohnt, weniger Zeit zur Arbeit und kann sich dann das dickere Auto leisten.“

      „Ganz so ist es nicht“, widersprach Bockhold, „die Leute hier verdienen alle genug, die könnten sich auch Stadtdomizile