sie?“
„Bei uns in den Staaten nehmen die Fälle zu, wo diese Gefahrstoffe aus der Automobilindustrie als Ursache für Gesundheitsschäden angeschuldigt werden. Wir haben beispielsweise mehrere Verfahren, in denen Antimonexpositionen als Auslöser für Lungenkrebs verantwortlich gemacht werden“, erklärte Bockhold.
„In Deutschland haben wir einen ähnlichen Trend“, sagte K.
„Ich denke, uns wird in Zukunft die Arbeit nicht ausgehen. Eines würde mich noch interessieren: Haben sie sich auch schon einmal mit Gehirnschrittmachern befasst?“
„Offen gestanden, nein. Beim Morbus Parkinson verwendet man solche Apparate. Aber viel mehr kann ich ihnen dazu nicht sagen.“
K. wunderte sich über diesen Exkurs Bockholds in die Neurowissenschaften, vergaß den Vorgang aber bald darauf.
12. Oberpfalz im Herbst/Winter 1977
K. kannte das Mädchen nur flüchtig. Er hatte immer mal wieder ein paar Worte mit ihr gewechselt. Sie war Stationshilfe, was weniger war als Stationsschwester. Sie war nur angelernt und durfte die Putzarbeiten machen. Essenaustragen war auch dabei. Sie war sehr schüchtern und hatte wohl Angst vor dem neuen Stationsarzt K., der seinerseits Angst vor der neu übertragenen Aufgabe hatte. Er war erst vor drei Monaten mit seinem Medizinstudium fertig geworden und sollte jetzt bereits eigenverantwortlich eine Station in der Inneren Medizin leiten.
Zur damaligen Zeit - es war Mitte der 1970er Jahre - waren Ärzte absolute Mangelware. Eine kleine Anzeige im Deutschen Ärzteblatt reichte aus und man bekam dutzende von Angeboten. K. wollte möglichst viel in kurzer Zeit lernen. Dazu hätte er eigentlich nach Lambarene gehen müssen. Aber er musste gar nicht so weit reisen. Sein Buschkrankenhaus lag in der Oberpfalz in einem kleinen abgelegenen Ort. Dort befand sich ein kommunales Landkrankenhaus, wie es typisch war für die damalige Kliniklandschaft. Das Kreiskrankenhaus hatte gerade mal 120 Betten in drei Abteilungen, der Inneren Medizin, der Chirurgie und der Geburtshilfe. Die dortige Tätigkeit versprach neben den Lerneffekten reichlich Nacht- und Wochenenddienste, welche gut honoriert wurden. K. war endlich auf den fetten Weiden angekommen.
K. fing bei Dr. Ebel, dem Chefarzt der Inneren Medizin, an. Bereits nach wenigen Wochen hatte K. begriffen, dass es sich bei Ebel um einen Schmalspurinternisten handelte. Der tauchte immer dann ab, wenn es brenzlig, also interessant im medizinischen Sinne wurde.
Damals lernte der noch mit ideellen Vorstellungen beseelte K. allmählich, dass bei der Besetzung von wichtigen Positionen das Wissen und die Leistung das eine und die Beziehungsgeflechte das andere sind. Dr. Ebel war Oberarzt an einem anderen Krankenhaus gewesen, welches ebenfalls zum Landkreis gehörte. Da wurde eines Tages der Landrat mit Verdacht auf Herzinfarkt eingeliefert. Ebel konzentrierte alle seine Energie und Empathie auf diesen einen Erkrankungsfall. Beide, der Doktor und der Landrat hatten Glück. Es war gar kein Herzinfarkt, sondern nur eine Überlastungsreaktion mit Kollaps gewesen. Der Vorgang hatte sich positiv in der Erinnerung des Landrats niedergeschlagen. Als die neue Chefarztstelle ausgeschrieben worden war, da war natürlich Herr Dr. Ebel der unumstrittene Favorit des mächtigen Lokalpolitikers.
Die Spezialität von Chefarzt Ebel waren so genannte Magendarmpassagen, welche schon damals obsolet geworden waren. K. war es schleierhaft, wie man in den wolkigen Röntgenbildern des geschluckten Bariumbreis Magengeschwüre, Zwölffingerdarmgeschwüre oder gar Magenkarzinome entdecken wollte. Zumal es seit wenigen Jahren eine alternative Methode für die Diagnostik derartiger Erkrankungen gab: Die Endoskopie hatte ihren Siegeszug begonnen. Nur hatte es der Chefarzt nie geschafft, sich die erforderliche Untersuchungstechnik anzueignen, obwohl ihm der Landrat eine brandneue endoskopische Untersuchungseinheit spendiert hatte.
Ärzte, die an größeren Zentren die Technik des Gastroskopierens erlernt hatten, waren rar und meist nicht dazu zu bewegen, sich in die Diaspora der Oberpfalz zu begeben. Also blieb es der Eigeninitiative der Assistenten überlassen, den Schlauch zu schieben. Derjenige, der schon länger da war hatte die Endoskopietechnik vom Vorgänger gelernt und gab sein Wissen an die neuen weiter.
Das verlief nicht immer reibungslos. Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne. Die eine oder andere Magenwandperforation durch ungeschicktes oder ungestümes Vorwärtsschieben des daumendicken Schlauches war da nicht zu vermeiden.
Es wurden anfänglich viel zu wenige Biopsien aus der Schleimhaut des Magens und des Zwölffingerdarms genommen, wenn man in letzteren mit dem Fiberendoskop überhaupt rein gekommen war. Die Flexibiltät der ersten Gerätegeneration ließ noch zu wünschen übrig. Dadurch lagen zu wenige histologische Ergebnisse vor, man verengte unnötigerweise das diagnostische Fenster und übersah gelegentlich pathologische Befunde.
Die Krankenhausdienste entpuppten sich am Wochenende als höllische 72-Stunden-Schichten. Man war alleine für drei medizinische Abteilungen verantwortlich, mit einem Oberarzt im Hintergrund, der mächtig maulte, wenn er außer der Reihe antreten musste. Durchschlafen für den Diensthabenden ging nicht. Bei reichlich 100 belegten Betten war rund um die Uhr immer was los.
Die wirkungsvollste Entlastungsstrategie war das Gutstellen mit der erfahrenen alt gedienten Stationsschwester. Sie entschied in der Regel, ob der Doktor raus musste. Und wenn er dann aufgestanden war, dann sagte sie ihm, was am besten zu tun sei. K. lernte in wenigen Monaten von den Schwestern mehr als er jemals im Medizinstudium mitbekommen hatte.
Damit der Doktor den Patienten gegenüber als kleiner Halbgott in weiß auftreten durfte, musste der Jungarzt einen Obolus entrichten. Das Mindeste waren Respekt und Nachsicht gegenüber dem Personal. Einer der Assistenzärzte tat zu viel des Guten. Er vögelte die fette Oberschwester auf seiner Station fast täglich im Nachtdienstzimmer. Dafür hielt sie ihm den Rücken frei, auch dann, wenn er wieder einmal alkoholisiert den Dienstantritt verpasst hatte. Die Methode kam für K. weniger infrage, denn ihm war völlig klar, dass so was nur vorübergehend die Spannung aufrecht erhält und bei Verweigerung, die irgendwann unvermeidbar wird, die Geilheit in tief sitzenden Hass umkippt. Dann wird es ganz besonders ungemütlich.
Und jetzt hatte Gott der Allmächtige es zugelassen, dass die harmlose, dienstbeflissene und erzkatholische Stationshilfe schwer erkrankt war und um ihr Leben kämpfen musste. Sie lag auf der Krankenstation, auf der sie schon zwei Jahre Dienst tat. Warum ausgerechnet dieses bescheidene zurückhaltende Wesen? Warum hatte es nicht die dicke nymphomane Oberschwester erwischt?
Unter der transparenten Plastikplane des Sauerstoffzeltes verschwammen die Konturen ihres Gesichts zu einem Madonnenantlitz, so als wenn ein halber Meter Wasser über ihr gewesen wäre. Diese optische Dämpfung milderte das Dunkelblau ihrer Lippen ab und verwischte ihre kraftlosen Bewegungen in ihrem Kampf, den sie noch vor Mitternacht verloren haben würde.
Durch eine heimtückische Virusinfektion war ihre Lunge angeschwollen. Der pulmonale Gasaustausch wurde immer mehr behindert. Seit Tagen versuchte ihr Organismus durch vertiefte Atmung genügend sauerstoffhaltige Luft in die Lungenbläschen zu bringen. Die damit verbundene körperliche Anstrengung laugte sie zusätzlich aus.
Die Engel hatten schon die Leiter an die Wolke gestellt, um dem Erdenkind den Weg nach oben zu weisen. Der Pastor war da, die nächsten und ferneren Anverwandten hatten sich um das Bett geschart. Die Firmungskerzen brannten, sie flackerten rechts und links neben dem Kopfende des Bettes. Der Pastor murmelte das Sakrament der letzten Ölung.
K. war unruhig. Er fürchtete, dass auch noch ein Vertreter der örtlichen Zeitung auftauchen würde. Ihre Familie und sie galten als recht schaffende Glieder der katholischen Gemeinde, welche durch Gottesehrfurcht, Bescheidenheit und CSU-Mitgliedschaft ihre hehre Gesinnung unter Beweis stellten und im Örtchen bestens vernetzt waren.
Ausgerechnet jetzt war eine der Infusionsflaschen leer gelaufen. K. drückte sich als verantwortlicher Arzt – der Chefarzt hatte sich wie immer in solchen Situationen unauffindbar gemacht – in der hintersten dunklen Ecke des Krankenzimmers herum. Ihm fehlte einerseits der Mut sich zu entfernen, andererseits musste er jetzt all seine Courage zusammen nehmen, um nach vorne ins Kerzenlicht zu treten, damit er die leere gegen eine volle Infusionsflasche auswechseln konnte. Es war klar, dass es völlig gleichgültig sein würde, ob da noch etwas Flüssigkeit in diese arme Kreatur hineinlaufen