Paul Hartmann Hermann

Das Myzel


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ich nicht mehr lange leben werde. Trotzdem, ich schaffe es nicht, ihnen das zu sagen. Dass ich ihnen von meiner eigenen Spionagetätigkeit erzählt habe, war schon ein Fehler“, sagte Kaiser und schaute auf die Uhr.

      K. wusste nicht, was er diesem Judas noch sagen sollte. Alles Gute wäre geheuchelt gewesen, Fahr weiter zur Hölle, das passte angesichts des desolaten Gesundheitszustands auch nicht so recht. Der Mann war mit seinem ausgelatschten Herz schon geschlagen genug.

      „War interessant, sie mal wieder getroffen zu haben. Denken sie daran, auch die besten Ärzte irren manchmal. Ich gebe ihnen noch mindestens zwanzig Jahre“, rief K. seinem einstigen Freund und Widersacher hinterher, und es klang mehr nach Hohn, denn nach Trost. Kaiser war nicht nur für K., sondern auch insgesamt bedeutungslos geworden. Deshalb vergaß K. auch schnell den merkwürdigen Anlauf zu einer weiteren Enthüllung, den Kaiser vorzeitig abgebrochen hatte.

       10. Nackenschlag

      „Hallo Herr K.“, hörte er am Telefon. Der Anrufer, der Geschäftsführer einer großen Versicherung war am anderen Ende der Leitung. Er war jetzt auch Professor geworden. Deswegen ließ er in der Begrüßungsfloskel den sonst im Gespräch mit K. immer ausgesprochenen Herrn Professor weg. Er befand sich jetzt titeltechnisch endlich auf Augenhöhe mit K. und anderen Autoren des von ihm herausgegebenen Handbuchs. Zwar hatte er nur die Discountversion eines Professorentitels, den Fachhochschulprofessor, das machte aber für einen unbedarften Zeitgenossen keinen Unterschied. Auf der Visitenkarte, auf dem Briefpapier und an der Eingangstüre zu seinem Büro, prangte überall Prof. Dr. jur. G. Gollwitz.

      „Wie geht es ihnen?“, fragte er freundlich und unverbindlich.

      „Danke der Nachfrage, ausgezeichnet.“

      „Das freut mich außerordentlich. – Vielleicht können sie sich denken, warum ich anrufe, es geht um die Neuauflage unseres Nachschlagewerks. Mittlerweile ist auch die fünfte Auflage vergriffen und wir müssen eine Neuauflage ins Auge fassen.“

      „Das freut mich nun meinerseits außerordentlich.“

      „Nun“, der Anrufer klang etwas gequält, „sie haben ja immer das Kapitel Atemwegs- und Lungenkrankheiten bearbeitet, eines der wichtigsten Kapitel in dem Werk.“

      „Richtig, das ist ja auch eines meiner Spezialgebiete.“

      „Tja, wir haben uns überlegt, dass die Bearbeitung dieser Thematik in Zukunft in die bewährten Hände von Herrn Nagold übergehen sollte. Sie kennen ihn ja sicherlich. Der ist noch jung, hat an seinem Lehrstuhl eine motivierte Mannschaft und kann gut formulieren. Ich schätze ihn überaus.“

      Bei K. kam dieses Statement so an, als wenn der Anrufer alle die positiven Eigenschaften, die er Nagold zusprach, bei K. vermissen würde. K. hatte diesen Vorstoß erwartet. Nach seinem beruflichen Knock-out war sein Ruf in der Fachöffentlichkeit verblasst. Er war jetzt ein Einzeltäter ohne Apparat im Hintergrund, er war nicht mehr in den maßgeblichen Kommissionen präsent, Kongresse besuchte er auch nicht mehr, er war fachlich so gut wie tot.

      Jedes Ding hat seine Zeit, wohl wahr, aber ein bisschen könnte man die Zeit schon anhalten, dachte sich K. in diesem Moment und erwiderte in betont jovialer Weise: „Herr Gollwitz, dafür habe ich natürlich tiefstes Verständnis. Sie wollen a jour bleiben. Aber ich kann ihnen versichern, dass ich nach wie vor mein Ohr auf der Schiene habe. Ich weiß, was an der Wissenschaftsfront los ist, und meine Publikationen sind eigentlich auf dem neuesten Stand.“

      „Ja, das weiß ich doch, Herr K.“, säuselte Gollwitz, „ihre Qualifikation unterliegt keinerlei Zweifel. Aber ich muss auch an das Morgen denken. Herr Nagold gehört zur nächsten Generation. Wir brauchen für die Zukunftssicherung unseres Standardwerkes jüngere Autoren.“

      Dieses Buch stand bei jedem Sozialrichter und bei jedem Unfallsachbearbeiter, der sich mit der Anerkennung und Entschädigung von Berufskrankheiten zu befassen hatte, im Regal. Es war von Auflage zu Auflage immer wichtiger geworden und bildete eine Brücke zwischen der Medizin und dem immer komplizierter werdenden Recht in der gesetzlichen Unfallversicherung. Damit wurde nicht nur Wissensmanagement, sondern auch Informationspolitik und Sozialpolitik betrieben. In diesem Zweig der deutschen Sozialversicherung wurden mal so ganz nebenbei mehr als fünfzehn Milliarden Euro pro Jahr ausgegeben, ohne dass die Öffentlichkeit viel davon mitbekam. Und dieses Geld war ausschließlich Unternehmergeld. Zwar bestand bei den Unfallversicherungsträgern eine paritätische Mitbestimmung, die Arbeitnehmervertreter hatten aber in den gemeinsamen Gremien immer mehr Präsenz als die Arbeitgebervertreter, ganz einfach deshalb, weil letztere richtig arbeiten mussten und es sich deshalb nicht leisten konnten, ihre Zeit in endlosen Sitzungen zu vertrödeln. Es war natürlich sexy für die Genossen, über die Kohle des Klassenfeindes verfügen zu können. Wenn K. also noch ein wenig in diesem Spiel mitspielen wollte, sei es als Gutachter oder als Berater, dann musste er jetzt dagegen halten; denn die Mitwirkung an diesem Buch stellte auch eine Art Visitenkarte hinsichtlich der eigenen fachmedizinischen Kompetenz dar.

      „Herr Gollwitz, Hand aufs Herz, wie alt sind sie?“ Mit dieser Frage leitete K. seine Gegenoffensive ein.

      „Siebenundsechzig.“

      „Sehen sie, lieber Herr Gollwitz, das sind zehn Jahre mehr, als ich auf dem Buckel habe.“

      Am anderen Ende der Leitung trat nun längeres Schweigen ein. Gollwitz hatte sicherlich nicht mit einer derartigen Hartleibigkeit gerechnet. Er suchte nach einem Ausweg und musste überlegen.

      „Hallo, Herr Gollwitz, sind sie noch dran?“

      „Ja, Herr Professor K., ich höre sie.“ Da war es wieder, das Distanz und Ehrfurcht einflößende Herr Professor. Der Mann befand sich in der Defensive. K. roch Blut.

      „Ich habe einen Vorschlag, lieber Herr Gollwitz. Besprechen sie das doch einfach noch einmal mit Frau Dr. Bachmeier. Sie ist eine subtile Kennerin der Szene und sie ist sehr einfühlsam. Das wissen sie, glaube ich, am allerbesten.“

      K. hatte seinen letzten Trumpf ausgespielt und der stach. Gollwitz und Bachmeier gaben zusammen eine sozialrechtliche Zeitschrift heraus, und das passierte partiell im Liegen. Frau Bachmeier war seit jeher der Wanderpokal bei den Geschäftsführern gewesen, quasi eine Kurtisane der Versicherungswirtschaft. Diese Rolle hatte sie in die Gehaltsdimensionen einer Staatssekretärin befördert, Dienstwagen der gehobenen Mittelklasse inbegriffen. Ihre ehemals steile Karriere war aber in der den letzten Jahren in einen Sinkflug übergegangen. Im Laufe der Jahre hatte sie an Attraktivität verloren. Es wurde immer schwerer, die dahinwelkenden weiblichen Reize gezielt zur Förderung der beruflichen Laufbahn einzusetzen. Und, was wohl das Entscheidende war, ihre Vergangenheit hatte sie eingeholt. Ihre allseits bekannte Promiskuität hatte die sexuellen Fantasien vieler wichtiger Herren angeregt, aber nur wenige hatten davon profitiert. Ihre neueste Liaison, noch dazu relativ offen präsentiert, trieb den anderen aufgegeilten aber verschmähten Herren den Schaum vor den Mund. Die frustrierten Biedermänner entdeckten die Moral: Nun ist sie aber zu weit gegangen, die Hure. Man kann ihr schließlich nicht alles durchgehen lassen. Ihr Aktionsradius wurde mehr und mehr eingeschränkt. Sie wurde Leiterin eines neuen unwichtigen Referats ohne Mitarbeiter. Der Bedeutungsverlust wog schwer. Deswegen klammerte sie sich um so mehr an den älteren Herrn, der die Zügel noch fest in der Hand hielt.

      „Lassen sie mich noch einmal darüber nachdenken, Herr Professor K. Vielleicht können sie das ja mit dem Nagold zusammen machen.“ Bingo, er hatte kapiert.

      Aber das war nur ein kleiner Sieg. Der änderte nichts an der Tatsache, dass K. in der Fachöffentlichkeit schon längst zur Leiche geworden war. Sein akademischer Lehrmeister Litwin hatte vor längerer Zeit zu ihm gesagt, „Herr K., und auch sie werden ein erstaunliches Phänomen beobachten können, wenn sie älter werden. Obwohl sie gerade wegen ihrer Lebenserfahrung nach wie vor hoch kompetent sind, werden sie nicht mehr gebraucht. Sie erhalten keine Einladungen mehr zu Sitzungen von Kommissionen, in denen sie jahrzehntelang Mitglied gewesen sind. Vortragseinladungen bleiben aus. Auf den Kongressen macht man einen Bogen um sie herum. Und wenn sie sich in eine Vortragsdiskussion einmischen, dann hört man ihnen nicht mehr zu und der Vorsitzende weist sie vorzeitig auf die