war, hatte ihn dazu im letzten gemeinsamen Gespräch animiert. K.s Rausschmiss sei schon kurios verlaufen, das könne man nur in Form eines Romans darlegen, hatte der gesagt. Schon bald hatte K. gemerkt, dass es ihm keine Mühe bereitete, Gedanken und Szenen zu Papier zu bringen. Schreibroutine hatte er zwar schon reichlich durch seine zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen erworben, ihm war aber niemals klar geworden, dass es ihm auch bei der Schilderung seiner Erinnerungen nur so aus der Feder fließen würde.
Er schrieb sich an manchen Tagen in einen regelrechten Rausch hinein. Die Personen, Erlebnisse und Vorkommnisse vergangener Tage, teilweise weit zurückliegend, wurden wieder lebendig. Erinnerungslücken konnten beliebig mit dem, was die Imagination bot, aufgefüllt werden. Gedanken anderer Menschen lagen auf einmal offen. Er konnte neue Personen in die Handlungen einbauen und sich bei den realen Akteuren zusätzliche Charaktermerkmale dazu denken. Ja, er konnte lieben und sterben lassen, er war in seiner Komposition aus Fakten und Fiktionen der Überirdische. Dieses göttliche Agieren produzierte aber nicht nur gelungene Sentenzen, sondern auch absolut blödsinnigen Stuss. Am nächsten Morgen, noch einmal durchgelesen, mussten diese Ausschwitzungen auf der Stelle vernichtet werden.
„Was machst du denn den ganzen lieben langen Tag?“, fragte ihn Endo.
„Ich decke ein Dach“, antwortete K. „Jede Geschichte und jede Szene ist eine Schindel. Und die befestige ich auf den Dachlatten, mal in der Mitte, mal oben, mal unten, gerade so, wie es mir einfällt. “
„Aber ein Dach baut man doch von unten nach oben.“
„Das ist das Problem. Häufig passen die Schindeln nicht richtig übereinander. Dann darf man einen Teil wieder abmontieren. Manchmal glaubt man, dass jetzt eine Passage im Dach gelungen sei, bis man merkt, es regnet rein. Dann muss man isolieren oder neu decken. Bis du den Dachfirst aufsetzen kannst, ist es ein langer Weg. Und du weißt nie, ob du das Dach vollständig dicht bekommst.“
Fast jeden Tag gelang es ihm, eine neue Schindel zu montieren, also eine Episode aus seinem Leben in Worten fest zu halten oder neu dazu zu dichten. Doch wozu das alles? War es die Lust am Formulieren und Fabulieren? Das war sicherlich ein wichtiges Motiv. Es faszinierte ihn, wie sich aus kleinen Geschichten ganze Handlungen ergeben konnten, wie weit entfernte Dinge auf einmal zusammen liefen. Vielleicht würde sich einmal die Nachwelt dafür interessieren? Aber so spannend fand er seine Biographie dann auch wieder nicht.
Das war die offizielle Rechtfertigung, wenn er nach seinen Schreibaktivitäten befragt wurde. Insgeheim jedoch baute sich mit wachsendem Opus immer mehr der Wunsch auf, dass es vielleicht gelingen möge, einen Verlag für eine Veröffentlichung zu gewinnen. Dadurch hätte er endlich einmal eine größere Leserschaft für seine Elaborate erreichen können, nicht nur die kleine Schar der Fachkollegen, die seine wissenschaftlichen Publikationen und seine seltenen Editorials zu Themen, die eigentlich fast niemand interessierten, ganz gerne lasen. Er träumte sich in die Situation hinein, mit seinem famosen Werk auf den Sellerlisten von Woche zu Woche nach oben zu steigen.
Deswegen las er die bereits formulierten Passagen immer wieder kritisch auf kompromittierende Elemente hin durch. Natürlich wimmelte es nur so von charakteristischen Wesenszügen oder Situationsbeschreibungen, aus denen man unumwunden auf bestimmte Personen und Orte schließen konnte, allerdings nur, wenn man sie vorher schon kannte. Wenn er nun hier zu sehr verschleierte, dann verloren die Darstellungen ihre Würze.
Sicherlich war es auch ein Stück Psychotherapie, sich den ganzen erlebten Mist vom Halse zu schreiben. Er hatte zwar schon einmal von diesem Effekt gehört, war aber jetzt aus eigenem Erleben ganz überrascht, dass es tatsächlich funktionierte. Sein beruflicher Supergau, insbesondere wie er zustande gekommen war – auf der Höhe des Erfolgs, aber ausgepowert und dann mit Fußtritt expediert -, hatte in seine Seelenlandschaft tiefe Krater gerissen. Nach einem halben Jahr war er noch lange nicht vollständig aus dem tiefen Tal der Ohnmacht- und Versagensfantasien heraus. Doch durch das Niederschreiben der ursächlichen Erlebnisse und nachträgliche freie Korrekturmöglichkeiten gelang quasi eine Aktenablage mit Neudefinition der Biographie. Das befreite von den Schatten der Vergangenheit und gab Zuversicht.
So wie sein Abgang gewesen war und wie seine Gegner über den Buschfunk zu vermitteln gewusst hatten, musste er Dreck am Stecken gehabt haben, sonst hätte er den Kündigungsprozess vor dem Landgericht weiter getrieben und sich nicht mit einer Abfindung abspeisen lassen. K. stellte sich vor, wie sich alle seine damaligen Mitarbeiter und Geschäftspartner hochgradig verärgert oder genüsslich, je nach dem, wie sie sich im Roman wieder fanden, durch die Seiten pflügten, wie ihnen die Lichter angingen bei der Lektüre darüber, wie es wirklich gewesen war oder wie es K. empfunden hatte.
Da las K. in der Zeitung, dass Maxim Biller seinen neuen Roman Esra zurückziehen musste, weil in diesem Liebesdrama Autobiographie und Autofiktion eine Mischung ergeben hatten, welche nach Meinung der Hauptfigur und ihrer Mutter eine Einschränkung der Persönlichkeitsrechte darstellte. Ähnliches passierte einige Monate später. Die bereits ausgelieferte Biographie des Havemann-Sohnes Florian wurde aus dem Handel zurückgerufen. In diesem Buch begeht der Sohn Vatermord und bespiegelt manisch sich selbst. Einige Personen der Zeitgeschichte kommen gar nicht gut weg. Aber die monierten nicht, sondern eine Person aus einer amourösen Randepisode begehrte auf. Mehrere Kapitel im Manuskript mussten entfernt werden. Eine Neuauflage wurde erforderlich. K. verunsicherten diese Rohrkrepierer, aber er war nach mehreren Überarbeitungen seines Textes dann nicht bereit, noch mehr Authentizität über Bord zu werfen und seine zu Buchstaben geronnenen fiktiven Gemeinheiten noch mehr zu entschärfen.
7. Rückkehr
Es waren jetzt über vier Monate vergangen. Die Versuchung war groß, alles hinter sich zu lassen und irgendwo anders neu anzufangen. Nicht, dass er ein großes Verlangen nach der Heimat verspürt hätte, aber da waren sicherlich einige Dinge aufgelaufen, die bearbeitet werden mussten. Wahrscheinlich lag da auch ein großer Haufen Rechnungen. Es war an der Zeit, sich nach neuen Erwerbsquellen umzuschauen. Hier im Süden Spaniens hatte allerdings keiner auf so einen wie K. gewartet. Seine Ängste hinsichtlich einer Wiederholung eines Anschlags auf ihn waren durch den unbeschwerten Alltag der letzten Monate verdrängt worden. Das erleichterte den Entschluss zur Rückkehr.
Zu Hause angekommen, sah es aus, wie erwartet. Hinter der Wohnungstür unter dem Briefkastenschlitz befand sich ein riesiger ungefähr einen halben Meter hoher Haufen Papier, bestehend aus Werbung, Briefen und Tageszeitungen. Er hatte es vor seiner überstürzten Abreise versäumt, die FAZ abzubestellen. Der Blick in den Kühlschrank war grauenvoll. Sein Inneres war von einem grüngrauen Pilzrasen überwuchert. Das Gerät war nicht mehr zu retten.
Um etwas Struktur in die Wildnis zu bekommen, mistete er zunächst die Post aus. Dazu bildete er drei Unterhaufen: sofort wegschmeißen, muss bearbeitet werden, aber kann warten und dringend zu erledigen. Der Haufen dringend zu erledigen war klein aber mit überwiegend schmerzlichem Inhalt. Die zu begleichenden Rechnungen und Mahnungen addierten sich zu einem fünfstelligen Eurobetrag. Das würde eine weitere tiefe Lücke in sein schmelzendes Budget reißen.
Einen Tag später ging er an den mittleren Haufen heran. Er öffnete einen Brief, welcher vom Studiendekan gekommen war. Er sei als assoziiertes Mitglied der Medizinischen Fakultät verpflichtet, regelmäßig Vorlesungen zu halten. So sehe das die Habilitationsordnung vor. Andernfalls könne ihm der Titel außerplanmäßiger Professor aberkannt werden. Wegen der angespannten Haushaltslage wäre man nicht in der Lage, Vorlesungsgeld wie bisher zu bezahlen und die Fahrtkosten zu übernehmen.
Fuck you, dachte er sich, hier sollte sein geistiges Eigentum zum Nulltarif angezapft werden. Und außerdem: Während er die Hauptvorlesung hielt, konnte sein lieber Kollege, welcher unkündbar verbeamtet auf einem Lehrstuhl saß, in aller Ruhe seiner Gutachtertätigkeit nachgehen, welche ihm neben seiner üppigen C 4-Besoldung auch noch schöne Nebeneinkünfte einbrachte. Ein krankes System.
Die Zeiten, in denen er den Professorentitel zur Aufpolsterung seines Egos gebraucht hatte, waren schon lange vorbei. Unter dem Strich hatte der Titel mehr Nachteile als Vorteile gebracht. Während seiner Zeit als aufstrebender Manager war er häufig als Exot betrachtet worden. Etliche Vorgesetzte hatten Probleme mit dem jungen