können, ein Fehler, der ihn zusätzlich in die Defensive brachte. Denn als er eine neue Beschäftigung suchte, da fehlten ihm die intakten Netzwerke.
Durchschnittlich jeden zweiten Tag war er auf Geschäftsreise. Seine immense Reisetätigkeit mutete wie eine Flucht an. Und was natürlich die ganze Misere noch perpetuierte, das war sein Alter. Er war vor kurzem 55 Jahre alt geworden. Zu alt und dann auch noch überqualifiziert, der passt nicht in unsere Firmenlandschaft, hieß es in den Unternehmen, bei denen er wegen eines neuen Jobs vorgefühlt hatte.
Wenn sich die berufliche Karriere dem Ende zuneigt, dann wünscht man sich keinen Hindernislauf, sondern eine freie Bahn mit einer klaren Ziellinie. Das alles hatte er geplant und gut vorbereitet, doch nun war nicht nur der berufliche Crash passiert, sondern in seiner engsten Umgebung hatte sich auch noch ein Mord ereignet, und er wurde das ungute Gefühl nicht los, dass die Kugel eigentlich ihm gegolten hatte. Er hatte nicht den geringsten Schimmer, wer der Täter gewesen sein könnte, welche Motive ihn und die Hintermänner bewegten. Er wusste nur eins, wenn er das eigentliche Opfer hätte sein sollen, wofür viel sprach, dann befand er sich jetzt in Lebensgefahr. Er hatte das unbestimmte Gefühl, observiert zu werden. Jedes schwarze Auto mit abgedunkelten Scheiben im Fond, jedes Klingeln des Handys ohne Gesprächsvermittlung und jede Gestalt im Trenchcoat, welche Auslagen im Schaufenster betrachtete, waren für ihn diffuse Indizien. Seine ehemals geordnete Existenz war aus heiterem Himmel an mehreren Fronten auf einmal ins Ungewisse, ins Chaos geraten.
Er schnitt sich die Fingernägel mit einem Nagelknipser. All die kleinen Halbmonde im Waschbecken waren ein Teil von ihm. Es tat nicht weh, sich von ihnen zu trennen, ähnlich wie beim Leprakranken, dessen Nerven abgestorben sind und bei dem die verstopften Gefäße zu einem Abfallen der Akren führen. Er hatte das Gefühl, dass er über die Jahre größere Stücke seiner selbst verloren hatte. Die Hülle stand zwar noch, doch sein Inneres war morsch geworden. All das was ihm früher Halt und Orientierung gegeben hatten, war nicht mehr da. Er meinte, dass ihm das Schicksal das alles genommen hätte, doch die Wahrheit war, dass er es nicht geschafft hatte, die Dinge zu halten. Immer wieder hatte er sich in einem Anflug von Großmut und gleichzeitigem Schwachsein von Sachen getrennt, die ihm früher lieb und teuer gewesen waren. Seine alten Armbanduhren hatte er an Freunde verschenkt, nachdem er festgestellt hatte, dass er nur eine Uhr tragen musste, um die Zeit ablesen zu können. Seine Sammlung von Eames-Chairs, einst nicht gerade preiswert zusammengekauft, hatte er viel zu billig verscherbelte, als er dringend Geld brauchte. Nach seinem beruflichen Crash gab es auch keine Verwendung mehr für seine zahlreichen edlen Hemden, Anzüge und Jacketts. Zehn Jahre hatte er sich als weltgewandter Manager verkleidet und bei jeder passenden Gelegenheit Krawatten gekauft. Dann hatte er den ganzen Textilkrempel in mehrere Umzugskartons gestopft und zu einem Second-Hand-Laden geschleppt. Er erhielt einen Bruchteil des ursprünglichen Preises.
Schließlich trennte sich seine Frau von ihm. Sein beruflicher Crash hatte zu einer sozialen Ächtung geführt, die auch nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Beim Metzger und beim Bäcker war Frau K. nicht mehr die Frau Doktor. Außerdem war sie mit seiner depressiven Grundstimmung nicht mehr klar gekommen. Er hatte keine größeren Anstrengungen unternommen, sie zu halten. Die Beziehung war nach 25 Jahren einfach ausgeleiert und Ersatzteile waren keine auf Lager.
Die Trennung machte den Verkauf der gemeinsamen Wohnung erforderlich. Wie hatte er diese Wohnung geliebt. Über vier Meter hohe Räume, alte Holzdecken und Stuck überall, dann das honigfarbene Eichholzparkett und die Kastenfenster mit den alten Fensterflügeln und Scheiben, die nach alter Machart gegossen worden waren und durch die hindurch sich die Außenwelt leicht verzerrt darstellte. Alles noch im Originalzustand, 130 Jahre alt. Ein außergewöhnliches Schmuckstück, was an einen schnöseligen Neureich ging, der sogleich Mauern versetzen und Durchbrüche schaffen wollte.
Er starrte auf die Nagelschnipsel im Becken. Er empfand nichts als innere Leere. So wie er nicht in der Lage gewesen war die materiellen Dinge zusammenzuhalten, ging es ihm auch mit den Menschen. Seine beiden Kinder hatte er schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Wenn sie ihn gelegentlich anriefen, zum Geburtstag oder zu Weihnachten, wusste er nicht, was er erzählen sollte. Das was er erlebte, wollte er nicht berichten und alles andere hielt er für zu belanglos, um mitgeteilt zu werden. Und da er keine Ahnung hatte, was seine Kinder so machten, fielen ihm auch keine Fragen zu deren Leben ein. Dementsprechend kurz und hohl gestalteten sich die Telefongespräche.
Ähnlich ging es ihm mit seinen wenigen Freunden, alles erfolgreiche Typen in leidlich intakten Partnerbeziehungen. Was sollte er bloß mit denen bereden? Gegen deren pralles bürgerliches Leben, war sein privates Dasein derartig uninteressant, dass er Angst vor jedem Anruf aus dieser Richtung hatte. Sollte er erzählen, dass er gestern Abend schon wieder eine Wagner-Pizza in den Ofen geschoben hatte, dass er seit acht Jahren dasselbe Auto fuhr oder dass er schon lange keinen richtigen Urlaub mehr gemacht hatte?
Er nahm die Bürste und schob damit unter laufendem Wasser die abgeschnittenen Nägel in den Abfluss. Er hatte das Gefühl, als wenn er ausliefe, als wenn auch noch der letzte Rest seiner selbst in die Kanalisation hinunter gezogen würde.
Gedankenverloren blieb sein Blick an einem silbern glänzenden Metallkasten hängen. Er hatte die Größe einer halben Zigarettenschachtel. Er nahm den kleinen Kasten in die Hand. Der Kasten wog schwer, nicht nur wegen seines Gewichts, sondern auch, weil es sich um den alten Herzschrittmacher seines Großvaters handelte. Es war ein Schrittmacher der ersten Generation. Deswegen war er etwas sperrig. Dieser Talisman begleitete K. überall hin. Sein Großvater war bis ins hohe Alter ein gesunder, ein zäher Mann gewesen. Dessen nachlassende Kraft und Zuversicht waren durch dieses Metallkästchen noch einmal beflügelt worden. Wenn K. den Schrittmacher nur fest genug umfasste, dann spürte er wie die positiven Energien des Großvaters auf ihn übergingen. Mit diesem Schrittmacher in der Hand würde er immer überleben.
4. Tarifa, Frühjahr 2005
Er hatte nicht nur das Bedürfnis, sondern er sah auch die zwingende Notwendigkeit, den ganzen Schlamassel schnell hinter sich zu lassen. Trotz Ebbe in der Kasse war sein Fluchtreflex übermächtig geworden. Möglichst weit weg, aber vertraut sollte der Fluchtpunkt sein. Da fiel ihm sein alter Freund Endo ein, der sich schon seit Jahrzehnten am südlichsten Punkt Europas niedergelassen hatte und dort ein kleines Hotel für Surfenthusiasten betrieb. Innerhalb eines Tages machte er sich auf den Weg. Er wählte die Landroute um in der anonymen Weite der iberischen Halbinsel seine Spuren verwischen zu können. Er rief nicht vorher an, weil er Angst hatte, dass sein Telefon und sein Handy abgehört werden würden. Von unterwegs könnte er eine öffentliche Telefonzelle benutzen, um seine Ankunft anzukündigen.
Die Gegend war ihm vertraut. Früher war er jeden Frühling hier her gekommen. Reizvoll war die Naturbelassenheit der Region, die jedoch nicht vollständig tourismusresistent geblieben war, kein Wunder, befand sich dort doch einer der schönsten Strände Spaniens. Der Küstenbereich war jedoch militärisches Sperrgebiet. Das hatte die üblichen Sünden der maximalen Erschließung als Ferienregion verhindert. Hochhausbeton und Pauschaltouristen gab es nicht.
K. bog nach Passieren des Hafenstädtchens an der ersten großen Kreuzung nach links in die Küstenstraße ab. Er zog die frische Meeresluft in tiefen Zügen ein. Zehn Jahre zuvor hatte man an dieser Stelle die Luft anhalten müssen, wenn der Levante blies. Damals hatte die nahegelegene Seifenfabrik ekelhaft nach vergammeltem Fisch und Ammoniak riechende Schwaden über die karge Landschaft gen Atlantik entsendet. Gott sei Dank existierte die Fabrik nicht mehr.
Weil hier immer der Wind blies, waren Miriaden von Windrädern auf den küstennahen Anhöhen und auf den Bergen Richtung Osten errichtet worden. Es sah aus wie eine Invasion von Schiffsmasten, als wenn die von Lord Nelson besiegte Armada des französischen Vizeadmirals Villeneuve vom Grund des Atlantiks wieder aufgetaucht wäre. Das Kap Trafalgar befand sich um die Ecke. Frappierend war, wie lautlos diese riesigen Apparate ihr Werk verrichteten. Stand man direkt unter einem sich drehenden Rotor, dann konnte man allerdings das leise rhythmische Fauchen der Flügel vernehmen.
Nach mehreren Kilometern schnurgerader Straße bog K. nach rechts ab. Gegenüber lag der Campingplatz mit Wohnmobilen aus aller Herren Länder. Die Straße verlor sich in einem Feldweg, der wohl mal eine leidlich ausgebaute Fahrbahn gewesen war. Davon kündeten