peu a peu fortschreitenden Sanierungsarbeiten hatten sie Kinderskelette im Bereich der Fundamente gefunden. Es war also tatsächlich ein Frauenkloster gewesen.
Damals vor zwanzig Jahren war das Experiment losgegangen. K. war sich sicher, dass der gute Freund scheitern würde und allenfalls eine aufgeräumte Schutthalde zustande käme. Er wohnte damals im einzigen Hotel direkt am Strand, dem Dos Mares, errichtet auf Weltkrieg-II-Bunkern. Endo hingegen hauste mit einigen Freunden in der Ruine. Er hatte eine provisorische Dusche im Patio installiert. Ohne Türe, ohne Vorhang konnte hier geduscht werden. Endo nannte es die Bärenshow, wenn die Damen im lauwarmen Strahl des Duschprovisoriums ihrer Körperpflege huldigten. Niemand konnte sich auch nur im Entferntesten vorstellen, wie aus diesem Arrangement jemals eine geordnete häusliche Infrastruktur entstehen sollte.
Jahre später existierten vier Etagen. Das Patio war mit einer Glaskuppel überdacht und unten, am Ort der einstmaligen Bärenshow, stand eine Kutsche aus mittelfränkischer Produktion - mittlerweile fast hundert Jahre alt - auf einer mit Ziegelfliesen belegten Grundfläche. Darüber baumelte ein wunderschöner Leuchter, ganz aus graublauem Glas gefertigt, mit einem Durchmesser, so groß wie ein Wagenrad, viel zu schade für die rustikale Umgebung. Der Lüster – K. konnte seine Historie nicht genau nachempfinden, irgendetwas zwischen Biedermeier und frühem Art Deco war es wohl - hätte sich prächtig als Lichtquelle in einem Berliner Loft gemacht. Oben auf der Dachterrasse flatterten Carmens Dessous zwischen der Bettwäsche im unablässigen Wind.
Wer hätte das gedacht: Das Gebäude war reanimiert worden. Keine Frage, es gab größere Projekte, es gab woanders mehr Glamour, mehr Chichi, mehr Architektur. Aber es gab nur wenige Gebäude, denen man anmerkte, dass sie durch den Willen und die Kraft eines Einzelnen entstanden waren.
Mehrmals in der Woche begab sich K. nachmittags in die Stadt. Er kaufte das Nötigste ein, viel brauchte er nicht zum Leben. Immer schaute er im Kloster am Engelsplatz vorbei. Häufig blieb er bis abends. Ganz selten, wenn der Fino zu reichlich geflossen war, fiel er zu später Stunde in das Bett eines leeren Appartements, um dann am nächsten Morgen mit Endo und Carmen zu frühstücken.
Der bevorzugte Platz am Abend war eine Sitzgruppe auf der Dachterrasse. Nach dem heißen Tag spendete der ablandige Poniente angenehme Kühlung.
K. bemerkte eine auf dem Tisch liegende Visitenkarte. Er nahm sie beiläufig in die Hand. Jerry Gibson, Chief Executive Officer DELPHI, stand auf der Karte.
„Wie kommst du denn an den?“, fragte er Endo erstaunt.
„Der war heute Vormittag hier. Er will nächstes und übernächstes Jahr das Kloster für mehrere Monate mieten und zwar das ganze Kloster.“
„Du weist schon, wer das ist?“
„Klar, der drittreichste Mann auf der Welt.“
„Der hat eine Yacht, die ist fünfmal so groß wie dein Kloster. Was will er hier?“
„Nicht er, sondern seine Jungs sollen hier wohnen. Es ist noch nicht offiziell, aber der nächste Americas Cup wird in Tarifa stattfinden.“
5. Surfen
Von weitem sah es so aus, als wenn fragiler bunter Klatschmohn im Wind wanken würde. Kam man näher, wurde deutlich, dass an den Blüten Menschen hingen, die sich weit draußen parallel zur Küste mit hoher Geschwindigkeit auf kleinen Brettern bewegten. Ihr Tempo kontrastierte auffällig mit den behäbigen Bewegungen des Zugdrachens über ihnen. Das Wasser vor dem langen breiten Sandstrand wimmelte nur so von Kitesurfern. Es war ein Sport für junge Arrivierte mit Muskeln an der richtigen Stelle und mit einem gewissen Bewegungstalent. Wenn Geschwindigkeit und Wellendynamik passten, dann hoben die Routiniers ab und schwangen sich bis zu zehn Meter in die Luft.
„Die machen Faxen da oben“, sagte Endo dann.
Für einen traditionellen Windsurfer der ersten Stunde, wie ihn, war das Kitesurfen Pippifax. Ganz einfach deshalb, weil er mit den Jünglingen nicht mehr mithalten konnte.
„Erst letzte Woche hat es hier einen Franzosen zerbröselt. Eine Böe hat ihn fortgetragen. Der grandiose Flug endete an der Mauer des Bunkers vom Dos Mares. Er sah übel aus. Er musste mit dem Sanka in die Klinik gebracht werden“, sagte Endo ohne wesentliche Anteilnahme.
„Armer Kerl. Faszinierend aber ist doch, dass du deine Heldentaten direkt vor dem Publikum am Strand präsentieren kannst“, sagte K.
„Klar, die Mädels können dir zugucken. Die tun zwar so, als wenn es sie nicht interessieren würde, trotzdem kriegen die alles mit“, ergänzte Endo.
Man sah nur junge, schlanke und von der Sommersonne bronzen eingetönte Hardbodies in knappen Bikinis.
„Das alles sieht mir nach aufwendigen Anbahnungen für die nächste Nacht aus. Die Mätzchen sind einfach nur Balzgehabe, Übungen um die Hormonpumpen auf Touren zu bringen“, seufzte K., „früher war das anders.“
„Stimmt. Als wir in der Surfsteinzeit dicht vor dem Wind den großen Schlag nach draußen gemacht haben, da waren wir einfach weg. Und einige wurden nie wieder gesehen. Das Material war noch nicht so gut und die Jungs waren leichtsinnig. Bei Windstärke sieben bis acht waren einige schlicht überfordert. Sie trieben ab und wurden durch die Oberflächenströmung ins Mittelmeer hinein gezogen. Eine Coastguard gab es damals wie heute nicht“, sagte Endo versonnen.
„Sag mal, bist du wirklich bis nach Marokko rübergesurft?“
„Klar, das geht bei Poniente mit sechs Beaufort ganz gut. Es sind ja gerade mal fünfzehn Kilometer. Wir sind dann meist am Stadtstrand von Tanger gelandet. Dort warteten schon die Dealer, um uns besten Shit billig zu verkaufen. Sie hatten uns bereits lange vorher mit dem Fernglas ausgemacht. Die Miliz erschien auch gelegentlich. Die Jungs nahmen ihre Kalaschnikows in Anschlag, hielten sich aber ansonsten zurück. An den Hängen des Rif-Gebirges leben viele Bauern nur vom Haschischanbau. Wir haben uns die in Kunststoff eingeschweißten Haschischbarren dann unter den Neoprenanzug gesteckt und sind zurückgedüst. Anfänglich waren das Mengen für Family and Friends. Doch einige bekamen den Kanal nicht voll genug und tappten damit in die Schrebergärten der Herren von der organisierten Kriminalität. Das waren überwiegend Exilmarokkaner und Typen von der CIA, die da den Ton angaben.“
„Wieso CIA?“
„Auch die wollten sich was dazu verdienen.“
Beim Schlendern am Strand kamen sie an den Resten eines großen grauen Gummibootes vorbei.
„Aha, die Hinterlassenschaften der Boat People“, bemerkte K.
„Irrtum, das waren Rauschgiftschmuggler. Sie bringen das Zeug von Tanger aus mit schnellen Booten nachts rüber. Die Schiffe der Boat People sehen anders aus. Viele Boote zerlegen sich bereits weit vor dem Ziel. Die sind oft so marode, dass sie den Bedingungen auf dem offenen Meer nicht mehr standhalten. Dann kommen hier nur noch die Leichen an, aber nur wenn der Poniente bläst. Wegen der Illegalen ist die Guardia Civil bei uns besonders stark vertreten und wir haben täglich Straßenkontrollen.“
6. Der Roman
K. nahm Papier und Bleistift zur Hand, setzte sich auf den Meditationsfelsen und fing an zu schreiben. Zunächst wagte er sich noch nicht an die Geschehnisse der jüngeren Vergangenheit heran. Er kreiste sie ein, indem er Szenen seiner Kindheit und Jugend aufscheinen ließ. Er war immer davon ausgegangen, dass er ein schlechtes Langzeitgedächtnis habe. Dem war aber nicht so. War das Licht im alten Erlebnis angeknipst, dann entwickelte sich die Szene wie von selbst und sogar Namen, die er für immer vergessen zu haben geglaubt hatte, wurden wieder präsent. Er hatte gar kein so schlechtes Gedächtnis, nur seine Zugriffszeiten auf die Fakten und Stimmungen von damals waren etwas länger. Durch die Entschleunigung im Campo wurde der Vorhang des Vergessens beiseite geschoben und die alten Figuren und vergangene Situationen wurden wieder lebendig. Er genoss diese frisch ausgegrabenen Erinnerungen wie einen Film, in dem er die Hauptrolle spielte und gleichzeitig Regie führen konnte.
Der Umfang seines Manuskripts wuchs. K. traute sich jetzt immer mehr an die literarische Aufarbeitung seiner jüngeren