Paul Hartmann Hermann

Das Myzel


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eines Dokuments darstellt?“, brachte der Chefarzt gepresst hervor. Ebel war aschfahl im Gesicht geworden. Er wusste nicht, was er machen sollte.

      Normalerweise musste eine derartige Sabotage mit einem Rausschmiss geahndet werden. Doch dazu fehlte ihm die Courage und es hätte Monate dauern können, bis er die dann vakanten Stellen wieder hätte besetzen können. Er stand auf und verließ wortlos den Raum.

      Er verpisst sich mal wieder, dachte sich K., wie immer, wenn es brenzlig wird. Wie einfach es doch sein kann, Menschen krank zu machen. Diesem fiktiven Herrn Meier hätte man dann mitgeteilt, dass dringender Verdacht auf ein chronisches Geschwür bestünde. Bei Therapieresistenz solle er unbedingt beim Chirurgen vorbeischauen und mit dem das weitere Prozedere abstimmen. Nicht selten landeten solche Kandidaten dann auf dem OP-Tisch und wachten nach der Narkose mit einem teilweise resezierten Magen auf. So etwas wie eine Vagotomie wurde damals noch nicht praktiziert.

      Der Streich der beiden Jungärzte war aus einer gewissen Seelenverwandtschaft entstanden, welche zum einen darin bestand, das Tun und Handeln von Autoritäten kritisch zu hinterfragen. Zum anderen stand ein tief sitzenden Drang dahinter, den Dingen auf den Grund zu gehen. Letzteres sollte beide einige Jahre später noch einmal woanders zusammenführen.

      13. Neue Arbeit, Autostadt im Herbst/Winter 2006

      Der Anwalt hatte Vorankündigungen gemacht. Er habe das Literaturarchiv des ermordeten Professor Grosser besichtigt. „Mehrmals 360 Grad“, hatte er gesagt und das mehrfach wiederholt. K. war zunächst nicht klar gewesen, was das zu bedeuten hatte. Als er dann von ca. 100 Metern Aktenordnern sprach, dämmerte es K. Er hatte die Rundumaufstellung von Regalen, voll mit Aktenordnern, in mehreren großen Räumen an allen vier Wänden gemeint. Diesen Fundus hatte der Anwalt den Erben des toten Wissenschaftlers für eine stattliche sechsstellige Eurosumme abgekauft.

      Sie fuhren mit dem Kübelwagen des Anwalts direkt zum etwas abseits gelegenen Archiv. Es befand sich in einer schmucklosen mehrstöckigen Halle, weit weg von aller Geschäftigkeit des Industriekomplexes, der tagtäglich tausende von Autos ausspuckte. Vor dem Eingang zu dem schmucklosen Gebäude hielt der Anwalt. Sie stiegen aus und mussten eine schwere Eisentüre öffnen, um hinein zu kommen. Eine weitere Türe führte in das düstere und speckige Büro des Archivars. Die Einrichtung war herunter gekommen und reif für die Entrümpelung. Der Mann musterte K. neugierig und gleichzeitig misstrauisch. Hierher verirrten sich nur ganz gelegentlich Besucher.

      Bockhold stellte K. vor. Bevor er ging, zog er den Archivar zur Seite. K. bekam mit, wie er ihm zuraunte, dass er ein Auge auf K. haben solle. Aus dem Literaturfundus dürfe kein einziges Blatt mit nach draußen genommen werden.

      Das hätte er mir auch direkt sagen können, dachte sich K.

      Der Archivar war ein sportlicher Endfünfziger. Er schenkte miesen Kaffee in eine abgeschlagene Besuchertasse ein. K. schaute sich um. Der Raum, in dem sie saßen war durch verdreckte Glasscheiben von der Lagerhalle abgetrennt.

      Auf dem Weg zum Fundus liefen sie minutenlang durch die engen Gänge zwischen den Regalen, die kein Ende fanden. Hunderttausende von Papierdokumenten sogen die Luftfeuchtigkeit auf und produzierten eine staubtrockene Atmosphäre. Hier war die Zeit angehalten worden, ganz anders als in den Präsentationsräumen der Autofirma nur ein paar Ecken weiter, in denen die automobile Zukunft zu besichtigen war.

      Sie erklommen den ersten Stock der Archivhalle über eine Stahlleiter. Während der ebenerdige Boden aus einem Betonestrich bestand, war das obere Geschoss eine Metallkonstruktion, deren Lauffläche aus Gitterrosten zusammengesetzt war. Klack, klack, hörte man die Schritte. Die metallischen Schwingungen wurden durch das tonnenweise angehäufte Papier nur teilweise gedämpft und waren deshalb weit zu hören.

      Inzwischen hatten sie den Ort erreicht, wo die Literatursammlung Grossers eingelagert worden war. Der Umfang der Sammlung erschloss sich erst dann vollständig, wenn man sich zwischen die vollen Stahlregale begab. Die Enge des Ganges mit hunderten von Aktenordnern zu beiden Seiten erzeugte Beklemmung. K. beschlich ein eigenartiges Gefühl, eine Mischung aus Ehrfurcht und Neugier. Was musste das für eine Mühe gemacht haben, das alles eigenhändig zusammenzutragen? Allein der Zeitaufwand für das Lochen der hunderttausenden von Seiten!

      Doch was hatte der Privatgelehrte Grosser denn da so exzessiv gesammelt? Bei einer ersten groben Durchsicht stellte K. fest, dass es offensichtlich ein Großteil der Weltliteratur zur Fasertoxikologie war. Zwei Jahrzehnte zurückliegend war rund um den Globus eine hitzige Diskussion um die Krebsgefährdung künstlicher mineralischer Fasern entbrannt. Den Gesundheitspolitikern, den Präventivmedizinern und den Inhalationstoxikologen steckte noch immer das Desaster der asbestbedingten Lungenfibrosen und Krebserkrankungen in den Gliedern. So etwas durfte sich auf keinen Fall wiederholen. Besonders in Deutschland wurde heftig und intensiv über die Gesundheitsgefährdungen durch sogenannte Man Made Fibers debattiert, weil hier große Produzenten für Isoliermaterialien und andere Faserprodukte ansässig waren. Grosser war damals als Consultant für die Faserindustrie tätig gewesen. Er war einer der wenigen Spezialisten, der die gesamte Pathologie und Toxikologie zu diesem Thema überblickte.

      Grosser hatte binnen kurzer Zeit überdurchschnittlich viele wissenschaftliche Papers zur Fasertoxikologie veröffentlicht. Diese Beiträge waren geprägt durch formale Korrektheit. So konnte man sich mit absoluter Sicherheit darauf verlassen, dass die Literaturzitate in seinen Publikationen auch genau das reflektierten, was in der zitierten Originalarbeit stand. Dieses Qualitätsmerkmal wird in vielen wissenschaftlichen Elaboraten nicht erfüllt. Viele Autoren interpretieren die publizierten Ergebnissen ihrer Kollegen recht großzügig. Im Vordergrund steht eine positive oder negative Erwünschtheit, die man natürlich gerne von außen bestätigt haben möchte. Besonders gerne werden große Namen als Kronzeugen genannt. Bei genauerem Hinsehen haben die dann aber etwas ganz anderes herausgefunden und behauptet, als es der zitierende Autor vorgegeben hatte. Nicht so bei Grosser. In seinem Streben nach inhaltlicher Korrektheit und allumfassender Abhandlung des Themas gerieten ihm die Texte allerdings meist etwas dröge und sperrig. Es war so, als wenn er Worte in Formeln überführte und nicht umgekehrt. Hier machten sich wohl die mechanistischen Denkreflexe aus der jahrzehntelangen Ingenieursausbildung bemerkbar.

      Zu dieser Zeit – man lebte in den 1980-er Jahren - führte Grosser einen militanten Dialog mit einem Inhalationstoxikologen namens Professor Ott. Beide fochten mit verschiedenen Waffen. Grosser setzte vor dem Hintergrund seines immensen Literaturfundus seinen brillanten analytischen Verstand ein. Der Toxikologe hingegen arbeitete mit einer Vielzahl von Tierversuchen, verbrauchte dabei Unmengen weißer Ratten und stellte dem literaturbasierten Wissen Grossers seine beträchtliche empirische tierexperimentelle Erfahrung entgegen. So konnten die beiden natürlich nicht auf eine gemeinsame Linie kommen.

      Der Toxikologe favorisierte einen speziellen Test, bei dem den Tieren eine Faseremulsion direkt in die Bauchhöhle gespritzt wurde. Dann beobachtete man, welche und wie viele Tumore sich bei den Tieren entwickelten. Hier nun setzte die Hauptkritik Grossers an. Erstens sei die Bauchhöhle nicht der Ort, an welchem eingeatmete Fasern wirksam werden könnten, zweitens würden die applizierten Fasermengen nicht den natürlicherweise einwirkenden Fasermengen entsprechen und schließlich, drittens, würden die beobachteten Tumorraten bei den Ratten durch die auch ohne Schadstoffeinwirkung auftretenden Spontantumoren, für welche die eingesetzte Rattenart besonders empfänglich war, überschätzt werden.

      Das Dilemma der Inhalationstoxikologen war bei diesem Thema immanent. Normale Inhalationsversuche mit Ratten funktionierten nicht, weil damit nicht genügend Fasermengen in die Tierlungen gelangten, um ausreichend viele Tumoren zu induzieren. Außerdem handelte es sich bei den vermuteten Faserwirkungen an den Lungen um Langzeiteffekte. Um in kurzer Zeit möglichst viele Lungentumoren zu erhalten, mussten hohe Faserkonzentrationen verabreicht werden, weil die Tiere eine kurze Lebenszeit hatten.

      Diese Auseinandersetzung zog sich in der wissenschaftlichen Literatur und auf zahlreichen Kongressen und Symposien jahrelang hin. Alle waren von der Angst getrieben, mit den künstlichen mineralischen Fasern nicht wieder ein solches Desaster, wie mit dem Asbest zu erleben. Außerdem ging es für die Dämmstoffindustrie, den größten Produzenten künstlicher mineralischer Fasern, um die schiere Existenz. Dabei wurde nicht nur mit Sachargumenten,