Tatana Fedorovna

Die Rache der Zarentochter


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höflich.

      Papa nickte anerkennend und Mama lächelte mir zu. Zwar mochten wir unsere jetzigen Bewacher nicht, bemühten uns aber ihnen gegenüber um Höflichkeit. Vater Grigorij hatte uns gelehrt, dass alle Wesen von Gott kämen, und so müssten wir sie respektieren, auch wenn sie uns im Moment negativ gegenüberstanden.

      Man sah, dass der Rotgardist etwas mit sich rang. Medwedew wollte wohl keine Geschenke der „Ausbeuter“ annehmen, andererseits war die Lust auf den seltenen, köstlich duftenden Leckerbissen groß.

      Er trat zum Tisch und griff sich mit seinen schmutzigen Fingern – so als gehörte sie ihm ohnehin – die vor mir liegende Plinse.

      Ein Ungar, der sich auf jüdische Art an der Seite zwei längere Zöpfe hatten wachsen lassen, trat ebenfalls ein. Da die Ungarn zumeist kein Russisch sprachen, redeten wir sie auf Deutsch an. Das beherrschten die meisten von ihnen, da es zudem die erste Amtssprache in ihrem Land war. Ungarn war ein Teil Österreichs.

      Wir Geschwister beherrschten recht gut Deutsch und auch Französisch. Mama gab sich sehr viel Mühe, uns ihre Muttersprache beizubringen. Wir sollten auf diese Weise nicht vergessen, dass wir solche Wurzeln hatten. Scheinbar hoffte sie innerlich immer noch auf ein dortiges Exil. Seit Papas Abdankung hatte sie die freie Zeit für weiteren Sprachunterricht genutzt.

      „Möchten Sie vielleicht auch ein Küchlein?“, wagte ich nun auch den Ungarn trotz Medwedews Unverfrorenheit zu fragen.

      „Aber gern, Madam!“, antwortete der Mann in korrektem Deutsch.

      „Was tuschelt ihr da?“, fuhr der Kommandant der Außenwache uns auf Russisch an. Es war ihm suspekt, dass er unsere Unterhaltung nicht verstand.

      „Wir haben ihm nur ebenfalls eine Plinse angeboten“, versuchte Mama die Situation aufzuklären.

      Der Aufgebrachte knurrte unzufrieden, schritt aber nicht ein, als ich dem Ungarn die Plinse von Alexej reichte. Dieser verspeiste sie dankbar.

      „Schmeckt sehr gut!“ Er ließ es sich für den Moment nicht nehmen, höflich zu sein.

      Medwedew brummelte so etwas wie: „Verfluchtes deutsches Gesindel!“

      Dann wandte er sich an den jüdischen Ungarn:

      „Habe ich dir das erlaubt?“, fuhr er ihn an.

      Doch der verstand scheinbar kein Russisch oder tat listigerweise zumindest so. Er aß unbeeindruckt weiter. Wir mussten unwillkürlich schmunzeln.

      Die Ungarn waren ehemals ungarisch-österreichische Kriegsgefangene, die die Bolschewiken gegen das Geschenk der Freiheit in ihre Garden gelockt hatten. Einige hatten zuvor für das gleiche Versprechen in der früheren Zarenarmee gedient. Unter den Bewachern waren etwa zehn solcher Ungarn. So wollte man sicherstellen, dass nicht etwa russische Bewacher die Seiten wechselten und uns bei einer Flucht halfen. Der neue Kommandant nahm an, dass wir den Ungarn egal und sie deswegen besser für die Bewachung geeignet wären. Dabei hatte Jurowski aber übersehen, dass die Ungarn meist Deutsch sprachen.

      Jurowski selbst unterhielt sich mit den ungarischen Wächtern oftmals auf Jiddisch, da die meisten von diesen und auch er es aufgrund ihrer Herkunft beherrschten. Da viele Revolutionäre wie Lenin, Trotzki und auch Swerdlow ebenfalls solche Wurzeln hatten, glaubten viele unserer Adeligen in der russischen Revolution eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung zu erkennen.

      Der Ungar und sein Hauptmann verließen das Zimmer wieder. Sie hatten nur nach uns sehen wollen. Wir atmeten befreit auf.

      „Lasst uns ein wenig zum Zeitvertreib lesen!“, schlug Mama vor.

      Wir erwiderten nichts. Andere Ablenkungen gab es im Moment nicht. Etwas Trost war immer gut.

      „Außenkommandant Medwedew hat heute besonders böse geschaut“, stellte Aljoscha nachdenklich fest.

      Mein Bruder wirkte noch sehr mitgenommen von den Entbehrungen der letzten Monate. In Tobolsk war er beim Schlittern auf dem Eis gestürzt und musste seitdem im Rollstuhl sitzen. Die Gefahr, dass er an einem Hämatom starb war zu groß.

      Die Angst, seine kürzlich Erkrankung und die Belastungen der letzen Monate erschwerten seine Genesung zusätzlich. Wie sollte ein Vierzehnjähriger diese Bedrohungen alle verarbeiten?

      „Das bildest du dir nur ein“, lenkte Papa ihn ab. „Er ist immer etwas übellaunig und mag uns einfach nicht!“

      „Ich lese heute freiwillig“, bot Tatjana sich an.

      Sie wollte sich immer etwas vor Mama hervortun. Ich hatte mich damit abgefunden. Es gab heutzutage wahrlich Wichtigeres als die Rangordnung unter Geschwistern.

      Papa hatte mich als Älteste ohnehin immer etwas bevorzugt. Da brauchte ich nicht eifersüchtig sein. Außerdem gab es zwischen mir und ihm ein ganz besonderes Band. Wir waren so etwas wie Seelenverwandte und verstanden uns auch ohne Worte. Mama hielt mir deswegen manchmal vor, ich liebe ihn mehr als sie. Das war aber nicht so. Es war eine andere Liebe.

      Oft schauten er und ich uns nur an und wir sahen die Gedanken im Gesicht des anderen. Das bedurfte keiner Worte mehr. Die Traurigkeit in unseren Augen verbargen wir jedoch so gut wie möglich vor den anderen.

      Tatjana ging in ihr Zimmer, um die Bücher zu holen. Unsere kleine Gruppe saß wortlos und wartete.

      Plötzlich hörten wir dumpfen Kanonendonner, dann pfiff entfernt ein schneidender Ton durch die Luft. Die Scheiben klirrten leicht, als versuchten sie ein Lied zu singen. Unsere Blicke wanderten automatisch zu den weiß getünchten Fenstern. Allerdings konnte man durch diese nicht hinaussehen.

      Mama wirkte aufgeregt, ein Hoffnungsschimmer belebte ihr Antlitz. In Papas Gesicht spiegelten sich dagegen Sorgen wider.

      „Was bedeutet das?“, wagte Anastasia zu fragen. Sie war meine jüngste und auch aufgeweckteste Schwester.

      „Die Front rückt näher“, erklärte Papa. „Still!“

      Weiterer Donner drang an unser Ohr.

      „Kam das von der anderen Seite?“, fragte Mama mit großen Augen.

      Papa wirkte nervös. Dies übertrug sich natürlich auf uns.

      „Ich glaube, ja“, murmelte er auf weitere Böller lauschend.

      „Es kommt von drei Seiten. Sie schließen die Stadt ein!“, erklärte er.

      Die Röte des Gesichtes zeigte seine Erregung.

      Tatjana trat ein. Sie hatte mehrere Bücher dabei. Ich erkannte die Buchrücken.

      Die Werke hatte uns Mama geschenkt. Es waren „Das Leben und die Wunder des Heiligen Gerechten Symeon von Werknjaja Tura“ und „Der Trost im Tode derer, die unseren Herzen nahe sind.“

      Zum Glück hatte sie nicht das langweilige Buch „Die Wohltaten der Gottesmutter an die Menschheit durch ihre heiligen Ikonen“ mitgebracht. Das war eines der besten Schlafmittel und passte nicht zur jetzigen Stimmung.

      „Habt ihr das auch gehört?“, stieß sie beim Eintreten aufgeregt hervor.

      Tatjana ging barfuß, da Schuhe sie wegen ihrer Spreizfüße drückten. Mama sah das nicht so gern. Sie fand solches Benehmen für eine Zarentochter unwürdig. Hier im Ipatjew-Haus hatte sie ihren Protest jedoch aufgegeben und sich mit unserem Niedergang abgefunden.

      „Wir sind doch nicht taub!“, erklärte Aljoscha stolz.

      Alle lachten bis auf Papa. So ausgelassen war die Stimmung schon lange nicht gewesen. Hoffnung erfüllte endlich wieder unsere Herzen.

      „Radola Gajda kommt“, flüsterte ich.

      Niemand von uns durfte diesen Namen laut aussprechen. Die Eltern erröteten und sahen vorsichtig zur Tür.

      Der junge General war der erfolgreiche charismatische Führer der Tschechischen Legion und jetzt unsere letzte Hoffnung. Die Tschechische Legion war auf die Seite der Weißgardisten übergelaufen und nun deren schlagkräftigste Einheit. Der