Die Cloud
33. Das Geständnis der Girly Girls
34. Videoabend
35. De Kerk
36. Das Ornament
37. Der Opfersaal
38. Requiescat in Pace
39. Epilog
1 - Gar nicht bekloppt!
Tom-Tom hatte einen dieser Freitage erwischt, an denen er sich fragte, warum er überhaupt zur Arbeit gekommen war.
Nein, Tom-Tom hatte natürlich nichts mit dem Unternehmen aus den Niederlanden zu tun, welches seit 2001 seinen Namen okkupiert hatte. Es war sein bester Jugendfreund gewesen, der stotterte, wenn er aufgeregt war. Und weil er eigentlich immer aufgeregt war, blieb es halt bei Tom-Tom. Spätestens seit Tom-Tom sich in der Vorstellungsrunde am ersten Schultag selbst so genannt hatte, war die Nummer durch. Alle Welt nannte ihn seit damals Tom-Tom. So viel Zeit musste sein.
Und nein, nicht dass es Tom-Tom keinen Spaß mehr machte nach all den Jahren. Tom-Tom arbeitete in einer Behindertenwerkstatt. Also schon auf der anderen Seite. Sein Job war es hauptsächlich, für genügend Lohnaufträge und damit Umsatz zu sorgen. Das war durchaus eine spannende Geschichte, die da tagtäglich ablief. Kein Tag glich wirklich dem anderen. Und selbst nach über zwanzig Jahren Werkstatt konnte es vorkommen, dass Tom-Tom eine weitere Methode kennenlernte, wie man ein Fahrrad besser nicht zusammenbaut.
Oder warum es unverzichtbar wichtig ist, dass beim Frühstückskaffee nicht nur die Tasse randvoll sein muss, sondern auch die Untertasse. Selbstverständlich kommen darauf noch fünf Löffel Zucker und reichlich Milch.
Und selbstverständlich macht sich der Gefahrguttransport dann von der Ausgabe quer durch den Pausenraum zum allerentferntesten Tisch auf den Weg. Ohne Zwischenstopp, ohne Ausweichen, ohne Erbarmen. Wäre die Tasse nicht randvoll gewesen, was wäre dann noch am Tisch angekommen? Nichts geschieht ohne tieferen Sinn.
Tom-Tom war an diesen Freitag ausgesprochen pünktlich auf den Hof gefahren. Soweit man das im Zeitalter von Gleitzeit sagen darf.
Jedenfalls war er deutlich früher als sein Chef. Was Wunder. Der hatte bereits nach wenig mehr als einem halben Jahr die Schnauze gestrichen voll. Sagte er jedenfalls schon mal recht nachdrücklich. Ohne wirklich danach gefragt worden zu sein. Schreit nach einem Führungskräfteseminar.
Zumindest darin war Werkstatt wirklich gut. Gibt es ein Problem: Arbeitskreis einberufen und Fortbildung buchen. Hätte an der inneren Kündigung des Chefs zwar nichts geändert. Er hätte sich aber womöglich geschliffener ausgedrückt.
Der Tag ging also alles in allem durchaus gut an. Es lagen drei vielversprechende Anfragen potenzieller Kunden mit einem erklecklichen Gesamtvolumen auf Tom-Toms Schreibtisch.
Für eine Behindertenwerkstatt, die hauptsächlich überschaubare Montageaufträge für mittelständische Unternehmen ausführte, sogar ein ganz besonders erkleckliches Sümmchen. Eine Menge behinderter Menschen wären für eine geraume Weile mit Arbeit versorgt gewesen.
Tom-Tom war dennoch sofort klar: Diese Anfragen waren einfach eine Nummer zu groß, als dass seine Kollegen zu begeistern sein würden. Im Gegenteil. Sie würden wieder unzählige Gründe finden, warum sie genau diese Aufträge nicht, jedenfalls nicht jetzt oder erst nach ausgiebiger Prüfung durchführen könnten.
Unter Einbezug der jeweils zuständigen Sozialpädagogin, versteht sich. Die nach Tom-Toms Einschätzung eine grundsätzliche Abneigung gegen jedwede Arbeit hatte, über die man nicht mindestens fünf Monate diskutieren konnte. Doch was willst du über Konstruktionsvorgaben diskutieren?
Tom-Tom hatte auch das gelernt: Diskutieren geht immer!
Treffen sich zwei Sozialarbeiter am Bahnhof. Fragt der eine: Kannst du mir sagen, wie spät es ist? Sagt der andere: Du, ich habe weder Uhr noch Handy. Aber gut, dass wir darüber gesprochen haben!
Doch an diesem Freitag ging alles besonders schnell. Anstelle einer vorsichtigen Hinhaltetaktik, wie sie sonst Gepflogenheit war, sagten alle Verantwortlichen mit Verweis auf die gute Auslastung, mangelnde Lagerkapazitäten und hohen Krankenstand sofort ab. Das war ungewöhnlich.
Üblicherweise wurde sonst immerhin so getan, als wäre man im Prinzip schon interessiert. Selbst der oberste Chef, der natürlich immer in Carbon Copy gesetzt sein wollte, um sich gleich darauf über sein überquellendes Postfach und die vielen überflüssigen Mails zu beschweren, hatte recht zügig Verständnis für die Kollegen und verzichtete auf mediativen Eingriff. Welcher am Ergebnis ohnehin nichts geändert hätte.
Unter dem Strich hatte Tom-Tom jedenfalls nach der Frühstückspause bereits gestrichen die Nase voll. Meistens hielt er sonst tapfer bis Mittag durch. Also begann er, sein Wochenende zu planen.
Gut. Zuvor mussten noch die Kunden informiert werden. Ihnen eine Absage zu erteilen und sie dennoch so bei Laune zu halten, dass sie nicht zum letzten Mal angefragt hatten, blieb natürlich an ihm hängen. War vielleicht sogar sein wichtigster Job. Nicht immer leicht, aber einer musste es schließlich machen.
Wie hatte es sein Chef auf den Punkt gebracht: »Ich brauche einen Schutzwall für die Kollegen. Das sind sie. Wenn es gut läuft, werden alle gelobt. Wenn es schlecht läuft, bekommen wenigstens nur sie auf die Schnauze. So lange es so bleibt, haben wir alle etwas davon und sie können machen, was sie wollen. Oder wenigstens beinahe.«
Hin und wieder durchbrach der Geschäftsführer dieses unfreiwillige Stillhalteabkommen mit unangenehmen und vor allem unangemessenen Forderungen nach Umsatzsteigerung.
Da dieser aber weder in der Lage war, das System zu verstehen und zu durchschauen, noch bereit, es signifikant zu ändern, blieb alles, wie es war.
Tom-Tom sorgte für Kundenanfragen, die keiner haben wollte. Schrieb Konzepte zur Umsatzsteigerung, Kundenbindung und Erhöhung der Produktivität, allesamt praktikabel und installierbar.
Problem jedoch blieb: Hätte man etwas ändern wollen, hätte man etwas ändern müssen. Und dazu schien niemand bereit. Also verschwanden diese Konzepte schnell wieder in der Schublade, mindestens bis zum nächsten Rundumschlag des Geschäftsführers. Dann wurden diesem die nahezu unveränderten Konzepte erneut vorgelegt.
Der Geschäftsführer fand sie wieder sehr innovativ. Wollte keinesfalls, dass sie in der Schublade vergilbten. Berief Arbeitskreise und Arbeitstreffen ein. Und danach war alles wie zuvor. Die Konzepte lagen in der Schublade bei den anderen und niemanden hat es wirklich interessiert.
Es gab also keinen plausiblen Grund, die Wochenendplanung länger aufzuschieben. Bis auf einige Telefonate, welche noch zu führen waren und einige Mails, die beantwortet sein wollten.
Nachdem er dies erledigt hatte, rief Tom-Tom gegen elf Uhr seinen Kollegen in einer Behindertenwerkstatt im tiefsten Ruhrgebiet an, der dort die Schreinerei leitete. Ihm hatte er vor seinem Urlaub Muster und Zeichnungen überlassen in der Hoffnung, die Ruhrpöttler würden sich an einer Eigenproduktion beteiligen, die Tom-Tom vor kurzem initiiert hatte. Dem war natürlich nicht so.
Auch im Ruhrgebiet stand das Tagesgeschäft einer strategischen Neuausrichtung im Weg. Die überlassenen Muster und Zeichnungen wollte Tom-Tom immerhin nicht ebenso abschreiben wie die erhoffte gedeihliche Zusammenarbeit. Also war ein zweites Treffen unumgänglich.
Es passte ihm an diesem Tage zudem ausgesprochen gut. Für vierzehn Uhr hatte Tom-Tom sich mit dem Avvocato am üblichen Treffpunkt verabredet, keine fünf Kilometer von seinem aktuellen Termin entfernt. Denn WIR hatten das Abendspiel.
Auch unter Berücksichtigung eines erhöhten Verkehrsaufkommens an einem Freitag sollten sechseinhalb Stunden allemal reichen, um aus dem Ruhrgebiet nach Hamburg zu kommen. Einen kostenfreien Parkplatz am Stadion zu finden. Ein paar