T. F. Wilfried

ATTENTI AL CANE! - e al padrone


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innerhalb der Fanszene.

      Damit nicht genug sollten die Buchstaben A und I für Aktionsfront Islam stehen, also bewusst gewählt worden sein. Angeblich war diese Front ein Zusammenschluss diverser rechter Zellen, welcher sich als Bündnispartner der Islamischen Aktionsfront verstand und in einer gewissermaßen konzertierten Aktion den Rechtsstaat von zwei Seiten mit Terror überziehen wollte.

      Wie der Reporter darauf gekommen war, blieb sein Geheimnis. Denn Bilder des Opfers wurden durch die Staatsanwaltschaft nicht veröffentlicht. Der arme Friedhofsgärtner, welcher Kurt an einem nasskalten Morgen gefunden hatte, musste als Zeuge herhalten, obwohl er immer wieder beteuerte, sich an kaum etwas erinnern zu können.

      Und für die Existenz einer Aktionsfront Islam gab es in der einschlägigen Literatur bislang nicht die geringsten Hinweise.

      Natürlich war die Nachricht von Kurts Tod unter spektakulären Umständen auch überregional in Funk und Fernsehen verbreitet worden. Jedoch ohne Namensnennung und nähere Details zum Opfer. Dafür unter direkter Bezugnahme zu den jüngsten Vorgängen, als es HSV-Fans oder solchen, die sich dafür hielten, im Stehblock gelungen war, im Zuge einer Protestaktion gegen ein Verbot von Pyro-Technik beim Abbrennen mehrerer Bengalos die Supporters-Fahne gleich mit abzufackeln. Von Eskalation der Gewaltspirale war die Rede. Von kriminellen Elementen innerhalb der Fanszene und einer Radikalisierung derselben. Die auch vor Totschlag nicht mehr Halt machte.

      So hatte Tom-Tom überhaupt erst von dem Vorfall erfahren. Verstehen konnte er das alles aber nicht. Da die Hamburger Presse ihre reißerischen Berichte mit Überschriften wie Straßenkrieg in Hamburg oder Wann schlagen die Pauli-Fans zurück? titelte, waren sie natürlich direkt betroffen. Denn die Fahrt zum nächsten Heimspiel war gerade in Planung.

      Wenn es denn stattfand. Noch wurde spekuliert, ob der Deutsche Fußballbund das Spiel wegen massiver Sicherheitsbedenken womöglich absetzen würde.

      Gerade hatte Tom-Tom eine Short Message von Mutti beantwortet, der natürlich dafür votierte, auf das Spiel am Wochenende zu verzichten. Jetzt wollte er sich endlich auf das konzentrieren, wofür ihn sein Arbeitgeber bezahlte.

      Da stand plötzlich ein hochgradig aufgelöster Sozialpädagoge in seinem Büro. Aufgeregte Sozialpädagogen waren Tom-Tom hinlänglich bekannt.

      Doch sein Kollege schien ihm noch wibbeliger als sonst.

      »Das ist ja mal ein echt starkes Stück, das mit Kurt!« »Wieso Kurt, welcher Kurt? Wovon redest du?« »Na unser Kurt aus B. Der war doch damals in deiner Gruppe!«, antwortete sein Kollege.

      Natürlich erinnerte sich Tom-Tom an Kurt. Der war nicht nur einer seiner findigsten Betreuten gewesen, sondern beinahe so etwas wie sein persönlicher Sekretär, als er noch im Gruppendienst tätig gewesen war.

      Kurt war allerdings schon seit etlichen Jahren nicht mehr in ihren Werkstätten. Näheres wusste Tom-Tom nicht, da er selbst vom Gruppendienst in eine Funktionsstelle gewechselt war und seine ehemaligen Mitarbeiter nur noch sporadisch sah. Kurt jedenfalls war schon lange nicht mehr dabei. Tom-Tom hatte irgendetwas von langem Klinikaufenthalt auf der Akutstation und Umzug in den Norden gehört. Das lag aber inzwischen auch schon etliche Jahre zurück.

      »Ja, aber ich habe gedacht, du wüsstest Bescheid. Du bist doch HSV-Fan!«, stotterte sein Sozialpädagogen-Kollege und hüpfte von einem Bein auf das andere. »Und was hat das mit Kurt zu tun?« Tom-Tom verstand immer noch nicht, worauf sein Kollege hinaus wollte.

      »Na, das ist doch unser Kurt, den sie in Hamburg totgeschlagen haben!« Treffer, versenkt. Wie bitte sollte Tom-Tom denn darauf kommen können, dass sein ehemaliger Mitarbeiter ein und dieselbe Person war, die gerade unverschuldet dafür sorgte, dass nicht nur in Hamburg so allmählich alles aus den Fugen geriet. In den Berichten tauchten nur Namenskürzel auf. Keine Bilder, keine Hintergrundinformationen durch die Sonderkommission.

      Auch dass es sich um einen behinderten Menschen gehandelt hatte, war noch nicht an die Presse gelangt. Vermutlich wollte die Staatsanwaltschaft verhindern, dass die sowieso schon überbordenden Spekulationen weitere Nahrung erhielten. Lediglich Alter und Geschlecht männlich blieben unwidersprochen.

      Und natürlich die Aussage des Friedhofsgärtners, das Opfer habe ein St. Pauli Trikot getragen, auf das eben jene unselige Aufschrift auf unkonventionell brutale Weise aufgebracht worden war.

      Tom-Tom merkte, wie ihm leicht schwindelig wurde. Schemenhaft tauchten Bilder aus seiner Erinnerung auf, die ihn an Erlebnisse mit Kurt erinnerten. Und davon gab es eine Menge.

      Nur ein Bild tauchte nirgendwo auf: Kurt im St. Pauli Trikot. Kurt hatte sich nicht die Bohne für Sport interessiert. Und Tom-Tom hegte berechtigte Zweifel, ob Kurt Fußball überhaupt unter Sport eingeordnet hätte. Er meinte, sich an eine Äußerung erinnern zu können, in der Kurt den Sportunterricht seiner Schulzeit als persönlichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit bezeichnet hatte. Wie so vieles, was ihm damals und später das Leben oft genug zur Hölle gemacht und ihn letztlich in die Psychose getrieben hatte.

      »Jetzt erzähl mal in aller Ruhe und möglichst zusammenhängend: Was weißt du darüber? Woher weißt du, dass es Kurt war? Und wie zum Teufel kommt Kurt nach Hamburg?«, forderte Tom-Tom seinen Kollegen auf. Der ließ sich nicht ein zweites Mal bitten und legte los.

       3 - Warum es Hamburg sein musste

      Jeder Mensch benötigt in seinem Leben einen Fixpunkt. Andere sagen auch Heimat, ein Lebensziel, eine Identifikation. Jedenfalls einen Punkt im Leben, an dem du deinen Anker fallen lässt und sagst: Hier bin ich zu Haus, hier gehöre ich hin.

      Wenn man bedenkt, dass Tom-Tom im Grunde im Ruhrgebiet aufgewachsen war, seinen späteren Lebensmittelpunkt mitsamt Familie in das Rheinland verlegt hatte und sich dort wohl fühlte, muss man erst einmal darauf kommen, wieso jetzt Hamburg nicht nur seine gefühlte, sondern seine authentische Identität sein konnte. Gut, er war in Hamburg geboren. Einer genaueren Überprüfung hätte diese Angabe allerdings kaum standgehalten. Denn bereits in seinen ersten Lebensjahren wurde er zunächst nach Kiel und dann auf Dauer in das Ruhrgebiet verschleppt.

      Noch mal gut. In den Nachkriegsjahren waren die Dinge eben, wie sie waren. Seine Eltern werden froh gewesen sein, im Ruhrgebiet einen neuen Anfang gemacht haben zu dürfen. Zumal ihr eigener Lebensmittelpunkt nicht Hamburg, sondern das großartige Berlin gewesen war.

      Was jetzt an Berlin so großartig sein sollte, hatte Tom-Tom zwar nach etlichen Berlin-Reisen noch immer nicht herausfinden können. Aber gut. Die Eltern hatten halt ihren eigenen Ankerplatz. Hamburg war für sie letztlich nur Zwischenstopp gewesen. Ausreichend, um sich vom alten Leben abzukoppeln, ein Kind zur Welt zu bringen und von hier aus eine hoffentlich und endlich freundlichere Zukunft zu planen.

      Tom-Tom hatte das nie etwas ausgemacht. Nicht, dass er im Ruhrgebiet keine schöne und behütete Kindheit gehabt hätte. Doch Hamburg blieb für ihn immer das Maß aller Dinge. Vom Balkon seiner Lieblingstante Jenny, die eigentlich nicht wirklich seine Tante war, die er aber mochte wie keine andere, und die sie mindestens immer dann besuchten, wenn die Familie zu seiner Großmutter nach Kiel fuhr, konnte er - weit über das Balkongeländer gebeugt - das Trainingsgelände am Rothenbaum einsehen.

      Sein Onkel, genauer der Sohn seiner Tante, die nicht wirklich seine Tante war, hatte irgendwann die entscheidenden Worte gesagt. Damals mochte Tom-Tom vielleicht sechs Jahre alt gewesen sein:

      »Sieh nur genau hin. Wenn du gute Augen hast, wirst du Uwe Seeler sehen können. Wenn du ein wenig älter bist und ich länger im Hafen liege, nehme ich dich einmal mit.«

      Das war noch vor Bundesliga. Aber Uwe Seeler, die beiden Dörfels, Willi Schulz und alle, die danach kamen, das waren seine Idole. Später sollten Willi Schulz und Uwe Seeler seine ersten Starschnitte aus der BRAVO werden.

      Zugegeben, Franz Beckenbauer und Winnetou/Pierre Brice lagen genau dazwischen. Die hatte er