Derby auch noch richtig gut gespielt. Kam ja auch nicht so oft vor.
Das war der Grund, warum der Holländer nicht mehr vorne sitzen durfte. Und das ist auch ganz sicher der Grund, warum wir diese Saison trotz präziser Vorbereitung das Derby dann wieder verloren haben. Die Fußball-Götter nehmen auch kleinste Details sehr genau.
Der Avvocato war, wie der Name schon sagt, im zweiten Leben niedergelassener Rechtsanwalt, und zwar für Arbeitsrecht. Mit anderen Worten: Hauptsächlich mit der Vertretung von Hartz-IV Vorgängen betraut. Ein sicherer Garant für zumindest zwei Dinge: Den Kontakt zur S04-Klientel nicht zu verlieren und ganz sicher nicht zum Arschloch zu konvertieren.
In gewisser Weise war er die männliche Ausgabe von Danny Lowinski, mit allerdings deutlich spektakulärerer Körbchen-Größe.
Dafür ohne Klapptisch, aber mit fester postalischer Adresse und einem Einkommen, welches ihn gelehrt hatte, dass Tempo fünfundneunzig völlig ausreichend war, pünktlich zum Spiel nach Hamburg zu kommen. Wenn man rechtzeitig genug losfuhr. Mit vollem Tank kam man so bis nach Hamburg zum Spiel und noch einen Teil des Rückweges bis Osnabrück-Hafen, wo die Jungs gerne auf einen kraftvollen Fünf-Sterne-Burger einkehrten.
Da der Avvocato und Tom-Tom nie wirklich diese Leidenschaft hatten teilen können, wichen sie meistens in die ordinäre Pommes-Bude direkt nebenan aus oder ließen den Spätimbiss komplett sein.
Nachdem die Jungs dann wieder eingesammelt waren, was sich leichter anhört, als es tatsächlich vonstattenging, wurde die Heimfahrt fortgesetzt.
Von der präzisen Ursache für die aktuelle Niederlage im Derby hatte der Avvocato übrigens erst sehr viel später erfahren, da er die Tour solo über Rotterdam gefahren war.
Dennoch hatte es ihn ungeheuer beruhigt. Er hat dem Holländer auf der nächsten Tour fünf Biere ausgegeben und aus gutem Grund für sich behalten, dass er den Gewinner-Dress der letzten drei siegreichen Derbys - ein ganz besonders ausgefallenes Exemplar von Einteiler in geschmackvollem Leoparden-Muster, welches er sich anlässlich eines ziemlich ausgelassenen Herrenabends verdient hatte - dieses Mal partout nicht hatte finden können.
Es waren natürlich seine Kollegen von der Schalke-Front gewesen, welche ihm dieses ausgesprochen geschmackvolle Dessous kredenzt hatten. »Hör mah! Auf’m Kiez bisse damit der Stier überhaupt. Fär’sse doch sowieso immer hin. Musse anziehn, bisse voll der Gewinner!«
Der Avvocato hatte weder die Geduld noch die sonderpädagogische Ausbildung, einem Schalke-Fan zu erklären, dass man entweder zum Kiez oder zum HSV fährt.
Hätte der sowieso nicht verstanden. Also hatte er brav den geschmackvollen Einteiler in Leopard-Optik angezogen, natürlich den Kumpels einen kurzen Blick vergönnt und war nicht lange danach nach Hause gedackelt.
Irgendwie hatte er dann aber morgens den Wecker überhört und war erst vom Presbyter nach vielen Versuchen per Handy wach geklingelt worden. Der bereits ein halbe Stunde am Treffpunkt auf ihn gewartet hatte. Wasser ins Gesicht, Zähne putzen, Eintrittskarte und Geld am Mann? Okay, dann mal schnell los. So ging der Einteiler mit auf Tour, wurde zum Gewinner-Dress und war damit fortan bei jedem Derby unverzichtbar.
Natürlich wurden nur die engsten Freunde in die Geschichte eingeweiht. Was letztlich nichts anderes bedeutete, als dass im Grunde jeder aus der Fahrgemeinschaft sowieso über Facebook bestens auf dem aktuellen Stand war. Aber auch der größte Teil im Block über den wahren Grund des unerwarteten Derby-Sieges Bescheid wusste.
Allein schon deshalb ließ es dem Avvocato keine Ruhe, wo der Einteiler denn wohl hin abgekommen sein konnte. Das nächste Derby durfte nicht dem Zufall überlassen bleiben.
Sich da nur auf den Holländer und sein Karma verlassen, konnte grob leichtsinnig sein. Besser noch mal in aller Ruhe suchen und Vattern Bescheid geben, der sich in ihrer Zwei-Männer-WG um die Wäsche kümmerte: Dieser Einteiler ist tabu für die Waschmaschine (oder die Putzlappensammlung)! Macht das Karma kaputt (unsere kleine Serie sowieso)!!!
Deshalb: Die Geschichte vom Holländer erfährt Vattern nicht. Der Einteiler musste gefunden werden. Koste es, was es wolle.
6 - Kurt kommt so gar nicht auf die Beine
Der Sozialpädagoge redete und redete. Dabei sprang er nicht nur ständig von einem Bein auf das andere. Auch seine Gedanken sprangen recht munter zwischen den jeweiligen Schauplätzen und zeitlichen Zusammenhängen hin und her.
Tom-Tom kannte den Sozialpädagogen zu lange und zu gut, als dass er versucht hätte, ihn zu unterbrechen. Irgendwie würde er die Geschichte schon zusammenpuzzeln und in eine verständliche Reihenfolge bringen können.
Er konnte sich noch gut erinnern, wie der Sozialpädagoge vor einigen Jahren einen behinderten Mitarbeiter, den sie wegen eines psychotischen Schubes in die Klinik bringen mussten, dadurch beruhigen wollte, dass er ihn auf der Fahrt dorthin weiter rauchen lassen wollte.
Ihr Dienst-Bulli hatte keinen Aschenbecher. Der Mitarbeiter war so von der Rolle, dass er ständig neue Zigaretten anzündete und mindestens immer drei gleichzeitig unterwegs hatte. Also kam der Sozialpädagoge auf die glorreiche Idee, aus der Werkstatt auch drei Aschenbecher mitzunehmen.
Man wollte ja schließlich kein Brandloch im Sitzpolster des Bullis haben. Natürlich nicht die aus Kunststoff, sondern gläserne.
Es kam, wie es kommen musste. Der wibbelige Sozialpädagoge stolperte mit seinen drei Aschenbechern über die Trittstufe des Bullis, flog mit dem Kopf voraus ungebremst in den Fahrgastraum und zerdepperte alle drei Aschenbecher. Neben einer ordentlichen Schnittwunde am Arm zog er sich noch eine recht eindrucksvolle Beule an der Stirn zu. Machte ja nichts, ging 'eh in die Klinik.
Der psychotische Mitarbeiter hörte den lauten Knall, als die Aschenbecher zersprangen. Sah das Blut auf den Boden tropfen. Und reagierte folgerichtig: Er fing an zu schreien, um sich zu schlagen und war nicht mehr zu beruhigen. Also mussten sie jetzt tun, was sie unbedingt hatten vermeiden wollen: Ambulanz und Polizei anrufen. Das ganz große Besteck.
Kliniküberführung mit Blaulicht und in Handschellen. Na super. Brachte geschätzte drei Monate geschlossene Station anstelle Krisenintervention über das Wochenende. Für die behinderten Mitarbeiter wurden Anforderungsprofile und Stressanalysen erstellt. Hätte man mal besser für die Fachkräfte machen sollen.
Doch nun gab es ja keine Aschenbecher mehr zu zerschlagen. In der Werkstatt herrschte schon seit geraumer Zeit Rauchverbot. Tom-Tom merkte, dass er immer ungeduldiger wurde. Der Sozialpädagogen-Kollege war ein netter Kerl. Trotzdem konnte Tom-Tom ihn nur begrenzt lange ertragen. Er war einfach zu wibbelig.
Weghören und an Hamburg denken, was er es sonst immer tat, war dieses Mal nicht möglich. Er wollte ja schließlich wissen, wie Kurt nach Hamburg gekommen war. Nach gefühlten vier Stunden stellte sich der Hergang aus dem Wortgemetzel des Sozialpädagogen wie folgt dar:
Kurt hatte sein Projekt, wie komme ich an eine Frau, mit mehreren Versuchen fortgesetzt. Teile der Geschichte hatte Tom-Tom noch zu Zeiten seines Gruppendienstes miterlebt.
So war Kurt kurzzeitig offiziell mit einer ebenfalls behinderten Mitarbeiterin aus der Werkstatt verlobt. Er brachte ihr regelmäßig Blumen und Zigaretten. Räumte ihre Wohnung auf. Lud sie zum Essen ein. Alles Dinge, die Männer so tun, wenn ihre Lebensplanung im nächsten Abschnitt Ehegatte vorsieht. Jedenfalls dachte sich Kurt, dass es so ablaufen müsste.
Irgendwann hatte es sich dann ausverlobt. Nicht unwesentlichen Anteil an dem Zerwürfnis hatte ein ehemaliger Mitarbeiter der Werkstatt, der Kurts Verlobter zwar weder Blumen noch Zigaretten brachte. Sie dafür aber regelmäßig flachlegte, wie man sich zu der Zeit in Kurts Kreisen auszudrücken pflegte.
Kurt hatte seine Verlobte nie flachgelegt. Das wollte er sich bis nach der Hochzeit aufsparen. Sah das Ablaufschema in seinem