T. F. Wilfried

ATTENTI AL CANE! - e al padrone


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die Zeitschrift hatte seine Schwester gekauft. Jedoch nicht wegen Franz Beckenbauer oder Pierre Brice. Sondern wohl eher wegen Dr. Sommer und den seinerzeit sehr beliebten - und in dieser Zeit wohl auch unverzichtbaren - lila Aufklärungsseiten im Innenteil. Leicht verschämt eingeheftet und gerade dadurch als Loseblattsammlung zur Weitergabe prädestiniert.

      Die Fickipedia-Jugend kann mit derlei Erinnerungen nicht viel anfangen. Er zu dieser Zeit konnte mit den lila Seiten auch noch nicht wirklich viel anfangen. Mit den Starschnitten allerdings schon.

      Dass sich hier die Prioritäten in nicht allzu weiter Zukunft verschieben sollten, lag auf der Hand. In der notwendig anzüglichen Terminologie der Pubertät würde man später gesagt haben: Die Priorität lag in der Hand.

      Doch gegenwärtig war er zufrieden damit, vom Balkon seiner Tante, die eigentlich nicht wirklich seine Tante war, Uwe Seeler sehen zu können. Hätte ihn rufen können, ihm zuwinken. Erkennen konnte er zwar nur kleine schwarze Punkte auf grünem Geläuf, nebenan auf roter Asche. Doch es war ganz sicher Uwe Seeler.

      Dies vor allem deshalb, weil sein Onkel es ihm versichert hatte. Und der war über jeden Zweifel erhaben. Hatte er doch als Erster Steuermann zur See Panama, Ceylon - wie es damals noch hieß -, Buenos Aires und Hongkong angefahren.

      Alles Orte, die in der Tom-Sawyer-Fantasie eines im Ruhrgebiet gestrandeten angehenden Seemannes Freddy-Quinn-Romantik und unendliche Sehnsucht auslösten. Kap Horn und Feuerland umrunden. In jedem Hafen eine Lale Andersen schmachtend zurücklassen. Seinen Original-Panama-Strohhut, den ihm der Steuermann geschenkt hatte, endlich zum Einsatz bringen. Was konnte einem das Leben Besseres bieten?

      Im Alter von fünfzehn, sechzehn Jahren hatte er dann noch einmal ernsthaft über eine Ausbildung an der Seefahrtsschule an der Rainvilleterrasse in Ottensen nachgedacht. Natürlich hätte er für den Anfang bei Tante Jenny wohnen können. Doch zur See fahren hieß auch, mit Mathematik klar kommen.

      Was nun nicht so sein Ding war. Und gute Augen haben. Brillenträger wurden in diesen Jahren nicht zur Ausbildung zugelassen. Auch wenn es kaum mehr üblich war, die Wache an der Reling oder im Mastkorb zu durchstehen und seine Brille gegen die überpeitschende Gischt der Wellen zu beschützen. Was unzweifelhaft zu weniger Aufmerksamkeit, damit Riffkollision und Schiffbruch führen musste.

      Wie auch immer. Sowohl die Mathematik als auch seine vererbte Sehschwäche ließen seine romantischen Träume von einem Leben zur See bei Durchsicht der Aufnahmekriterien zur Nautikschule schlagartig unerfüllbar erscheinen. Schade für die Lale Andersens der Häfen dieser Welt. Schade für seinen pubertären Lebenstraum.

      Seine Liebe zur See, zu Tante Jenny und zu Hamburg blieben dennoch Fixpunkte, die wie der Polarstern das Licht in der Nacht bedeuteten, wenn er Halt und Orientierung oder auch nur Entspannung suchte.

      Segel- und Surfschein hatte Tom-Tom dann später immerhin nachgeholt. Doch die wirklichen Abenteuer sollte er nicht auf See erleben. Die wirklichen Abenteuer warteten im richtigen Leben auf ihn. Und natürlich in Hamburg.

       4 - Erinnerung an Kurt

      Szenenbild: »Kurt, wenn ich dich in den Wald schicke, Schnecken einsammeln. Dann kommst du nach Stunden mit leeren Korb zurück und sagst zu mir: Herr Tom-Tom! Immer, wenn ich mich nach den Schnecken gebückt habe, husch, husch, waren sie weg!«

      Kurt war übrigens der einzige behinderte Mitarbeiter, welcher Tom-Tom mit Herr Tom-Tom angeredet hatte. Er war halt etwas besonders und etwas Besonderes gewesen. Und Tom-Tom hatte seine Bemerkung im gleichen Augenblick bereut, wie zutreffend sie auch gewesen sein mochte. Kurt war eben mit vielen Dingen beschäftigt.

      Auf Schneckensuche hätte er vermutlich zunächst einmal sein Logbuch herausgekramt und notiert, wie der Winkel der Sonneneinstrahlung zur Kriechrichtung der Schnecken zu bemessen war. Ob sich diese Kriechrichtung veränderte, sobald Kurt sich in den Sonnenstrahl stellte und für Schattenwurf sorgte.

      Solche und unzählige andere Einflussgrößen wären notiert worden, um ein Muster zu erhalten, an dem man sich orientieren konnte. Derartige Orientierungsmuster bedeuteten Kurt sehr viel. Und als ehemaliger Mathematikstudent besaß er das nötige Rüstzeug, die Welt zu vermessen.

      In seinem Logbuch war alles aufgezeichnet. Genützt hat es ihm dennoch nichts. Zu leicht verlor Kurt seine Orientierung. Weshalb er letztlich in einer Werkstatt für Behinderte gelandet war.

      Zudem litt Kurt an Kontrollzwängen. Es konnte vorkommen, dass er Tom-Tom noch nach Feierabend mehrmals anrief, um sich zu vergewissern, dass er den Wasserhahn in der Umkleidekabine wieder zugedreht hatte, den er insbesondere in Krisenzeiten arg strapazierte. Denn unter Waschzwang litt Kurt ebenfalls.

      Kurt entschuldigte sich für jeden Anruf. Er wusste, dass er den Wasserhahn zugedreht hatte. Kontrolliert hatte er natürlich auch. Vermutlich mehrmals.

      Wie auch immer. Tom-Tom hätte sich für seine unüberlegte Anmache wirklich ohrfeigen können. Er hätte Kurt niemals auf Schneckensuche geschickt. Aufgabenstellungen ohne konkret planbare Abläufe bargen zu viele Gefahren. Dann verlor sich Kurt in der Welt. Es war nicht nur unprofessionell. Es war regelrecht eine persönliche Schikane an Kurt gewesen. Für Dinge, die Kurt gar nicht beeinflussen konnte. Darum war er ja bei ihnen in der Werkstatt gelandet.

      Kurt hatte es nie leicht gehabt. Er kam aus einer Familie, die ziemlich ab vom Weg war. Kurts Vater hatte sich bei erstbester Gelegenheit von der Ruhrtalbrücke zwischen Mülheim an der Ruhr und Essen-Kettwig gestürzt. Tom-Tom konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass diese Wahl immer noch besser gewesen war, als sich mit Kurts Mutter jedes Wochenende die Rudi Carell Show ansehen zu müssen.

      Tom-Toms erste Begegnung mit Kurts Mutter sollte eine einzige Katastrophe bleiben. Nervös nestelte diese zunächst an der Tischdecke, dann an den Servietten und fiel ihm bei mindestens jedem zweiten Satz ins Wort. Kurt, du arme Sau, hätte er schreien mögen. Doch wer hätte es hören wollen?

      Immerhin hatte Kurts Vater der Familie ein abbezahltes Einfamilienhaus hinterlassen.

      Dazu eine stolze Betriebsrente und eine unanfechtbar fällige Lebensversicherungs-Police. Denn der Risikovorbehalt war pünktlich vor Suizid abgelaufen. Auch Kurts Vater überließ die Dinge nicht gern dem Zufall.

      Er hatte sich exakt am Folgetag des ersten Jahres seit Abschluss von der Brücke gestürzt. Die Versicherung muckte zwar eine Zeitlang. Konnte die Auszahlung aber nicht verhindern. Zusammen mit einem kleinen Aktienpaket und Grundstücken im Norden Deutschlands, die Kurts Vater von einer alleinstehenden Tante geerbt hatte, war die Familie im herkömmlichen Sinne unabhängig. Man hätte auch sagen können: wohlhabend.

      Was aber nichts am bescheidenen Lebensstil änderte. Kurt benötigte nicht viel. Und seine Mutter war von Statur klein, in ihrer Geisteshaltung kleinlich und hielt auch ihre Ausgaben auf kleinster Flamme. Mit anderen Worten: Sie war geizig wie ein Schotte und ein Schwabe zusammen.

      Tom-Tom hatte damals nicht wirklich verstanden, was Kurt damit meinte, als dieser ihm en passant sagte: »Herr Tom-Tom. Wenn Sie einmal eine Überschwemmung im Keller haben. Stellen Sie die Möbel auf Erasco-Konserven. Das sind die besten. Die halten mindesten fünfzehn Jahre. Alle anderen Sorten, die wir ausprobiert haben, waren spätestens nach acht Jahren hinüber.«

      Als Tom-Tom dann das erste Mal bei Kurt im Keller stand, wusste er sofort, was Kurt gemeint hatte. Zwei Kellerräume wirkten aufgeräumt. Die Regale und Kommoden standen ordentlich in Reih und Glied. Aufgebockt auf Konservendosen. Natürlich Erasco, wie sich Tom-Tom mit bücken und in Augenschein nehmen versicherte.

      Der Rest des Kellers war weniger gut in Schuss. Kommoden, die mit zwei Regalfüßen schief im knöcheltiefen Wasser standen.

      Geborstene Konservendosen und verrostete Überreste. Den ehemaligen Inhalt mochten Ratten weggeholt haben. Da Kurts Familienbesitz in Überschwemmungsgebiet stand, hatte schon sein Vater Vorsorge