sein. Pinkelpause inbegriffen.
Immerhin hatten WIR ja Heimspiel, da kommt man nicht gern zu spät.
Wieso man plus minus achthundert Kilometer für ein Heimspiel verfährt und das für völlig normal hält, ist vielleicht nicht jedem und nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Wie sich heraus stellen sollte, für den Schreiner-Kollegen ebenfalls nicht.
Jedenfalls war Tom-Tom um Punkt dreizehn Uhr bei der befreundeten Werkstatt für Behinderte im tiefsten Ruhrgebiet, wie er es dem Kollegen, der heute mal früher Schluss machen wollte, versprochen hatte. Er fand ihn nicht gleich, denn es war Mittagszeit. Und vor der Zeit Feierabend machen heißt ja jetzt nicht, auch vor der Zeit Pausen zu streichen. Nicht in einer Werkstatt für Behinderte. Und schon gar nicht im Ruhrgebiet.
Er fand seinen Kollegen also in der Kantine bei dessen wohlverdienter Mittagspause, die im Grunde bereits das Einläuten des auf dreizehn Uhr dreißig geplanten Wochenendes war.
Wartete geduldig, bis der Kollege seinen Kaffee ausgeschlürft hatte und wollte eigentlich nur noch eben die überlassenen Muster und Zeichnungen einladen, um sich dann auf den Weg zum Treffpunkt zu machen. Doch so schnell gehen die Dinge im Ruhrgebiet nicht. In einer Werkstatt für Behinderte schon mal gar nicht.
Wo waren denn noch gleich diese verdammten Muster? Der Kollege fing an, zu suchen und war sich jedes Mal sicher, hier müssen sie doch sein! Nicht, dass er seit gut zwei Stunden fernmündlich darauf vorbereitet gewesen war. Nicht, dass er etwa zur Unordnung neigte. Nein, er war schlicht und ergreifend nur noch nicht dazu gekommen, die besagten Gegenstände zu suchen.
Übrigens ein unverkennbares Merkmal, sich in einer Werkstatt für Behinderte zu befinden. Und dies gilt nicht nur für das Ruhrgebiet. Im Zweifel wird es der Kollege gewesen sein, welcher die Urlaubszeit des Schreiners missbraucht hatte, das wohlgeordnete Chaos in ein nicht durchschaubares, weil systematisches Ablagesystem zu verwandeln.
Gegen dreizehn Uhr zwanzig, also höchste Zeit für beide, endlich zum Abschluss zu kommen, war dann alles Gesuchte beisammen: Die Muster und die Zeichnungen. Man hatte sich im Grunde nur noch zu verabschieden und beide konnten ihre Termine voraussichtlich gemäß Plan einhalten.
Doch so ist nicht das Ruhrgebiet. Da ist ein klein Pläuschken ein Zeichen des Respekts, also unverzichtbar. Egal, wie sehr die Zeit drängte.
Kollege Schreiner: »Die Verkehrslage ist ja mal wieder ziemlich chaotisch.«
Anmerkung: Es lagen etwa eineinhalb Zentimeter Schnee, denn der Winter hatte erbarmungslos zugeschlagen im Ruhrgebiet!
»Mein Chef, die arme Socke, muss nachher nach Hamburg! Der tut mir richtig leid. Hoffentlich kommt er überhaupt heute noch an.«
Tom-Tom fragte interessiert, denn Hamburg interessierte immer: »Fährt dein Chef auch zum Spiel?« Kollege Schreiner: »Nee, der fährt Verwandtschaft besuchen, bleibt wohl auch das ganze Wochenende. Aber wieso auch, und wieso zum Spiel, zu was für einem Spiel?«
Tom-Tom holte seinen Autoschlüssel aus der Tasche und zeigte auf den Anhänger mit der HSV-Raute: »Na zu dem Spiel natürlich, wohin denn sonst?«
»Wie jetzt?«, fragte der Kollege. »Sag nicht, du fährst für ein Fußballspiel nach Hamburg?«
»Natürlich«, antwortete Tom-Tom. »Ich fahre nicht für ein Fußballspiel nach Hamburg. Ich fahre zu jedem Spiel des HSV.«
Der Kollege: »Dann bleibst du aber über das Wochenende da oben in Hamburg, oder?«
Tom-Tom: »Nein, wir fahren zum Spiel und heute Abend noch zurück.«
Der Schreiner: »Das ist aber ganz schön bekloppt, vierhundert Kilometer zu einem Fußballspiel zu fahren und danach gleich wieder vierhundert Kilometer zurück!?«
Bevor Tom-Tom noch antworten konnte, wobei er schon eine Weile überlegte, wie er denn jetzt eine auch für Außenstehende verständliche Antwort geben sollte, stand weiter hinten in der Werkstatt einer der behinderten Mitarbeiter auf.
Schlurfte gemächlich nach vorne. Zog umständlich mit etwas ungeschickter Bewegung aus seiner Hosentasche einen Schlüsselbund, an dem ein zwar recht abgenutzter, aber unverkennbar ebensolcher HSV-Anhänger prangte, wie Tom-Tom ihn eben noch stolz dem Kollegen gezeigt hatte.
Gab Tom-Tom kumpelhaft die obligatorische Fünf und sprach laut und selbstverständlich in aller Ruhe aus, was sowieso jeder weiß: »Gar nicht bekloppt!!!«
Das breite Grinsen des behinderten Mitarbeiters, die völlige Verblüffung des Kollegen, die Absurdität der Situation, welche der behinderte Mitarbeiter so pointiert als schlichte Normalität auf den Punkt gebracht hatte.
Noch im selben Augenblick wusste Tom-Tom: Vielleicht hatte er nicht immer einen leichten Job. Aber Momente wie diesen erlebst du nicht mal eben so, nicht einmal im Ruhrgebiet.
Alles, was morgens noch geschehen war, spielte jetzt keine Rolle mehr. Tom-Tom war sehr stolz, mit behinderten Menschen arbeiten zu dürfen. Er war froh, erleben zu dürfen, wie es seinem Kollegen die Sprache verschlug. Im Ruhrgebiet wohl gemerkt!
Und Tom-Tom war mit einem Schlag in der Stimmung, sich jetzt mit guter Laune auf den Weg zum Treffpunkt und dann nach Hamburg zum Spiel machen zu dürfen.
Besser hätte man es nicht auf den Punkt bringen können: Sich an einem Freitag vierhundert Kilometer gen Norden auf die Autobahn zu schmeißen, um ein vermutlich (nein, ganz sicher!) grottenschlechtes Spiel zu sehen und zu beklatschen. Danach nochmals vierhundert Kilometer zurück.
Sich womöglich je nach Spielausgang der Häme von Nachbarn und Freunden ausgesetzt sehen. Was zum Teufel ist das???
Es ist jedenfalls eines: Gar nicht bekloppt!!!
2 - So etwas geschieht doch nicht
Gestern haben sie Kurt erschlagen. Dass es Kurt war, sollte Tom-Tom erst später erfahren. Gefunden wurde Kurt mit eingeschlagenem Schädel auf dem Hauptfriedhof Altona in unmittelbarer Sichtweite zur Arena.
An Spieltagen eine beliebte Abkürzung Richtung Luruper Hauptstraße zu den Haltestellen oder zu den Parkplätzen entlang der Stadionstraße.
Pikant daran war, dass Kurt im nordöstlichen Bereich des Friedhofs gefunden worden war, also in dem Bereich, der HSV-Fans zur Beisetzung vorbehalten ist. Pikant deshalb, weil Kurt ein St. Pauli Trikot trug. Auf dieses Trikot und damit natürlich auch auf Kurt war im Brustbereich ein Pappschild getackert worden mit der Aufschrift: Schaiss St. Pauli. Schlachtgesang mit Bolzenschussgerät verewigt.
Allerdings war hier wohl ein Legastheniker am Werk gewesen, denn die Schreibweise Schaiss entsprach nun nicht üblicher Konvention.
Tom-Tom hatte diese Schreibweise schon einmal gesehen. Das war gewesen, als die damalige Freundin seines Sohnes - wie sagt man so schön - Schluss gemacht und einen Zettel zurückgelassen hatte, auf dem DU SCHAISS WICKSER stand.
Bis auf das DU war also alles nicht so ganz rechtschreibkonform. Darauf wird es der Freundin damals allerdings erstens nicht angekommen sein. Und zweitens kam sie als Tatverdächtige wohl kaum in Betracht.
Die in Hamburg ansässigen Printmedien, die ja auch ansonsten nicht gerade für Zurückhaltung und seriöse Berichterstattung bekannt sind, machten aus dem Fall eine ganz große Nummer. Es war sehr schnell die Rede von Krieg zwischen den verfeindeten Anhängern der beiden Traditionsvereine und einer gezielten Provokation. Die Staatsanwaltschaft tat das einzig Richtige und hielt sich mit Verlautbarungen dezent zurück. Womit wildesten Spekulationen Tür und Tor geöffnet wurden.
Recht schnell kam ein findiger Reporter auf die Idee, dass der doppelte