Kilda Cirus

Liebe, rette mich!


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an, die dort sitzen. Ich mustere sie, versuche zu entdecken, was Grischa plant, aber ich sehe nichts Auffälliges. Alle erscheinen gleich müde, gleich schwach. Nachdem Grischa die Frauen eine Minute begutachtet hat, greift er den Arm einer Frau, die auf der linken Seite des Gangs sitzt und zieht sie hoch. Sie lässt sich mühelos bewegen, sagt keinen Ton, doch in ihren großen, bernsteinfarbenen Augen steht ein unbekannter Schrecken. Ihr ebenmäßiges Gesicht wird von braunen Locken eingerahmt, die mittlerweile zerzaust sind und ihren feinen Zügen seltsam entgegenstehen. Trotz ihrer Schönheit wirkt sie fahl, tiefe Ränder liegen unter ihren Augen, ihre sonst sinnlichen Lippen sind ausgetrocknet und aufgesprungen. Grischa ignoriert sie weitgehend, zerrt sie von dem Sitz in den Gang und bringt sie nach hinten. Dort schiebt er sie auf den Platz, der seit Marys Tod leer ist, dann stürmt er wieder vor und wirkt dabei so, als beanspruche die Angelegenheit ihn über Gebühr. Er greift den Arm der Nachbarin der Frau, die er eben nach hinten versetzt hat. Sie ist nicht so passiv wie ihre Vorgängerin. Gefasst schüttelt sie Grischas Hand ab und läuft freiwillig nach hinten. Würdevoll setzt sie sich hin, dabei streift sie meinen Blick. In ihren Augen sehe ich keine Angst, sie strahlt eine Stärke aus, die mir die Sprache verschlägt. Ich empfinde großen Respekt vor dieser äußerlich unscheinbaren Person, mit einem so unauffälligen Gesicht, dass es immer unerkannt in einer Menschenmenge bleibt. Jetzt jedoch sehe ich sie mir genau an und präge mir ihr flaches Gesicht, ihre harmlosen Augen, ihren kleinen Mund ein. Sie wirkt, als wisse sie, dass sie alle Stürme überlebt. Spontan überflutet mich die Hoffnung, dass sie Recht hat. Dann flackert Angst in mein Bewusstsein, doch ich wende meinen Blick schnell auf Grischa. Das Gefühl der Angst verfliegt. Grischa kommt zurück. Ohne ein Wort packt er mich grob am rechten Arm, zieht mich hoch und schiebt mich zu den eben frei gewordenen Plätzen. Dort drückt er mich nach unten, ich setze mich, sehe zu ihm hoch, er nickt kurz und läuft wieder nach vorn. Ich folge seinen Schritten mit den Augen, will einen Blick von ihm erhaschen, doch er dreht sich nicht um. Als er sich setzt, verschwindet er aus meinem Sichtfeld. Stattdessen erscheint einer der anderen Entführer vor mir, nimmt neben mir Platz und versperrt mir die Sicht. Er grinst gehässig, sagt aber nichts. Ich sehe ihn abwertend an, bemüht darum, keine Angst zu zeigen. Vermutlich liegt Teufelskessel in der Nähe, wenn Grischa diese Veränderungen durchführt. Dann ist es Zeit, dass ich mein verliebtes Wesen verstecke. Ich ignoriere den Mann neben mir, der zu weit auf dem Sitz nach links gerückt ist, so dass seine Beine meine berühren. Wenn ich etwas in mir verändern will, darf mich das jetzt nicht stören. Ich verdränge die Gedanken an Grischa, denke an die bisherige Fahrt zurück und bleibe bei Marys Tod hängen. Ich durchlebe den Moment, als sie starb, noch einmal, trete aus der Toilette, zögere, blicke dann doch um mich und sehe Mary und eine weitere Frau am Boden liegen. Es ist erst vorgestern gewesen, aber in der Erinnerung kommt es mir vor, als wäre es weit in der Vergangenheit geschehen. Grischa überstrahlt alles. Was vorher war, ist nicht mehr von Bedeutung. Trotzdem muss ich die Bilder in mir aufrufen, sonst leuchte ich mit meiner frischen Liebe. Ich muss unauffällig werden, andernfalls gibt es wenig Hoffnung. Wieder gehe ich geistig zu dem Ereignis im Bus vor zwei Tagen, dieses Mal schließe ich die Augen. Mary niedergestreckt, der Blutfleck auf ihrer Brust, das Blut, das sich schnell auf dem Boden ausbreitet. Ihr Gesicht, völlig selbstvergessen. Ein leichtes Ziehen verläuft von der Brust bis hin zu meinem Hals, ich will die Bilder nicht sehen. Mir wird übel. Bisher habe ich alles verdrängt, aber nun zwinge ich mich, sie anzusehen. Marys Gesichtsausdruck steigt erneut wie ein Foto vor meinem geistigen Auge auf. Das Gesicht ist etwas unscharf, aber ich spüre, wie ich die Züge nachahme, als könnte ich mit meinen eigenen Muskeln eine Totenmaske formen. Doch ich bilde es mir nur ein, als ich mit den Fingern über das Gesicht taste, merke ich, dass mein Gesicht straff ist, nicht schlaff wie Marys, dass meine Lippen prall sind, bereit zum Küssen. Könnte ich nur langsamer atmen, dann würde sich auch mein Herz beruhigen. Ich denke an nichts und trotzdem schießt Grischas Bild durch mich, spüre ich seine Berührung, verlangen meine Brüste nach seinen Händen. Je weniger ich an anderes denke, desto deutlicher fordert mein Körper Grischas Nähe. Ich resigniere, atme tief durch, öffne meine Augen. Die letzten Gedanken verfliegen, als ich in düsterer Stimmung dunkle Wolken am Horizont von der Erde aufsteigen sehe. Die Straße verläuft in Richtung dieser Zeichen anderer Menschen. Es sind die ersten Anzeichen von Teufelskessel, dessen bin ich sicher. Die Sonne hat sich durch die Wolken gekämpft und scheint auf die Ebene, die sich vor uns ausbreitet, umso deutlicher steigt der dunkle Rauch gegen den blauen Himmel auf. Was brennt dort?

      Als wir uns nähern, erkenne ich, dass Teufelskessel ein großer Platz ist. Es sind Straßensperren errichtet, Fahrzeuge werden von Männern in schwarzen Militäranzügen kontrolliert, die die kurzen Maschinenpistolen mal lässig, mal fest umgriffen und gezielt gestikulierend halten. Unmengen von Fahrzeugen sind auf dem Gelände. Ich habe in der Nacht nicht registriert, dass uns ein Auto überholt hat, aber der Platz vor uns ist voll. Dieses geschäftige Leben lässt mein Herz aus Furcht schneller schlagen. Ich habe nichts erwartet, doch die Anzahl der Autos und bewaffneten Menschen macht mir Angst. Durch die Scheiben sehe ich in alle Richtungen, um einen Weg zu finden, den wir unbehelligt fahren könnten. Sechs Straßen treffen hier aufeinander. Die abgeholzte Ebene ist groß, aber bald schon verschwinden die Straßen im dichten Wald der Taiga. Der Bus nähert sich mit geringer Geschwindigkeit einem Platz, der an der Kreuzung gebaut worden ist. Von dem bizarren Anblick gefesselt, beobachte ich das Geschehen. Aus mehreren Häusern, die selbst im Tageslicht noch bunt beleuchtet sind, torkeln Menschen. Aus den notgedrungen haltenden Fahrzeugen werden die Passagiere herausgezerrt. Eine Gruppe von Männern prügelt sich, sie schlagen mit derartig ausholenden und langsamen Bewegungen, dass sie nur betrunken sein können. Prostituierte stehen an manchen Ecken der Häuser in auffällig bunter und freizügiger Kleidung und bieten sich den Passanten an. Hinter einem der Gebäude steigt die Rauchsäule auf, die ich aus der Entfernung gesehen habe. Das sind die ersten Menschen, die ich seit zwei Tagen außerhalb des Busses sehe. Der Anblick dieser Gestalten lässt mein Herz sinken, eine unbekannte Bedrohung liegt in der Luft. Und es gibt kein Entrinnen. Dieser Platz raubt mir die Sinne. Alles in mir schreit nach Flucht und doch weiß ich, dass hier etwas passieren wird. Ich atme konzentriert, ganz langsam, versuche, mich zu beruhigen. Entschlossen kehre ich den Blick von dem Trubel ab, fokussiere das graue Polster vor mir, denke an Mary und diesmal scheint mir ihr Gesicht Trost zu spenden. Und so blicke ich im Geist in das sterbende Gesicht einer flüchtigen Bekannten und verdränge die Geschehnisse um mich herum. Es ist keine gute Tarnung, wenn überhaupt, aber es ist immerhin ein Versuch. Warum lässt mich Grischa nicht einfach frei? Die Gedanken schießen in mein Gehirn und ich verdamme sie. Es nützt mir gar nichts, darüber nachzusinnen. Sie bringen mich nur von meiner Ruhe ab. Sofort jagt wieder Blut durch die Adern, sofort pulsiert das Leben in mir. Unwillig schüttle ich den Kopf. Entweder sie oder ich. Kurz kommen Schuldgefühle über mich. Im Vergleich zu den anderen Frauen bin ich vorgewarnt, ich habe einen klaren Vorteil. Aber ich kann ihn nicht teilen, ich werde sogar versuchen, ihn zu nutzen. Ich werde mich schützen, indem ich mich ihnen anpasse. Ich will nicht, dass ich es bin, die geholt wird. Ich opfere mich sicher nicht freiwillig.

      Vor dem Bus taucht auf der Straße eine durch gelbe Baken errichtete Sperre auf. Sie wirkt wenig bedrohlich und überwindbar. Doch der Fahrer macht keine Anstalten auf der Straße zu bleiben, sondern steuert von selbst den Rastplatz an, der sich rechts neben der Straße befindet und auf dem auch die Häuser errichtet sind. Anscheinend ist Teufelskessel ein Punkt, den man nicht umgehen kann.

      Der Mann neben mir steht auf und läuft ans Ende des Busses. Vorn erhebt sich Grischa von seinem Platz und stellt sich vor die Tür, der Fahrer öffnet sie. Etwas raschelt. Von draußen dringen Männerstimmen in den Bus. Ich sitze auf der Seite der Tür. Durch das Fenster sehe ich drei Männer, die sich um Grischa postiert haben. Ihre Gesichter sind geschäftsmäßig unterkühlt und ausdruckslos. Sie tragen Jeans und Armeejacken, Waffen sehe ich keine. Neben Grischa stehen mehrere Plastiksäcke. Es sind die Säcke vom Anfang der Reise, in denen die Pässe, Portemonnaies und Telefone der Frauen liegen. Ein rauer Wortwechsel beginnt, der jedoch abrupt endet, als einer der Männer Grischa ein Bündel Geldscheine in die Hand drückt und ein anderer die Säcke wegschafft. Mein Pass ist weg, ich hatte nicht damit gerechnet, ihn zurückzubekommen, aber jetzt ist er hoffnungslos verloren. Ich ignoriere es, das ist nicht der Grund, weshalb mich Grischa vor diesem Ort gewarnt hat. Grischa blättert die Scheine skeptisch durch und beobachtet gleichzeitig die verbleibenden Männer. Wieder tauschen sie unfreundlich klingende Worte, plötzlich schiebt