Kilda Cirus

Liebe, rette mich!


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Bus, jetzt eine nach der anderen. Sie alle stellen sich wie freiwillig zu der ersten Frau. Grischa befiehlt:

      „Alle hinlegen!“

      Die Frauen sehen ihn fragend an. Ich bleibe stehen. Grischa fasst das Gewehr mit beiden Händen.

      „Hinlegen!“, zischt er.

      Drei Frauen lassen sich sofort fallen, legen sich mit dem Rücken auf die Erde. Die anderen folgen ohne Eile. Ich bleibe stehen. Was immer Grischa zu den Frauen sagt, ich bin keine mehr von ihnen. Ich kenne ihn zwar nur einen halben Tag, trotzdem habe ich keine Schranke mehr in meinem Wesen. Ich gehöre zu ihm, zu den Entführern.

      Als alle Frauen den Bus verlassen haben, bietet sich mir ein bizarres Bild. In einer riesigen Ebene parkt ein Bus mit offenen Türen, in denen jeweils ein Mann steht, der mit einer Pistole auf die vor dem Bus liegenden Frauen zielt. Die mehr als zwanzig Frauen liegen meist flach am Boden, wenige haben sich auf die Ellenbogen gestützt. Alle kauen und sehen dabei paradoxerweise glücklich aus. Hinter den Frauen stehen wieder zwei Männer, diesmal mit Maschinenpistolen, die auf die Entführten zielen. Und ich stehe da, neben dem Anführer, ebenfalls kauend, nur glücklicher, weil niemand auf mich zielt. Ich könnte fliehen. Der Gedanke taucht in mein Bewusstsein ein. Fliehen. Weg aus dem Bus. Weg von dieser ungewissen Zukunft. Hinein in eine andere. Fliehen. Fliehen. Ich denke nicht schnell, vielmehr fühle ich nach einer Möglichkeit, die mir etwas verspricht. Was soll ich allein in dieser Gegend? Ich weiß nicht einmal, wo wir sind. Russland. Mehr nicht. Weder Süd noch West, Osten oder Norden. Ich habe keine Orientierung. Ich spreche die Sprache nicht. Ich kann die Schrift nicht lesen. Ich habe ein Stück Brot und Käse, ein T-Shirt, einen Rock, eine kaputte Strumpfhose und Schuhe. Aus welchem Grund hatte ich mich so unpraktisch gekleidet? Ich wusste doch, dass ich in die Wildnis fahre. Die sinnlosen Gedanken überspülen meinen Geist. Ich muss nicht extra nachdenken, damit mir die unangenehme Situation bewusst wird. Ich will nicht wirklich fliehen. Aber ich muss es trotzdem probieren. Vielleicht bin ich ja frei und weiß es nur nicht. Vielleicht interessiert es niemanden, wenn ich mich absetze. Langsam bewege ich mich rückwärts, weg aus Grischas Augenwinkeln. Er rührt sich nicht. Auch der Mann gegenüber sieht mich nicht an. Ich könnte fliehen!

      „Du weißt, dass es sinnlos ist. Bleib bei mir!“, säuselt Grischa neben mir. Fast höre ich das Lächeln aus seinen Worten, mit so markanter Stimme bestimmt er über mich.

      „Bleib bei mir, Miriam“, spricht er weiter.

      Diese Worte waren rau und voller Leidenschaft gesprochen, dass mein Herz sofort heftig schlägt. Ich bin nicht nur in ihn verliebt, weil ich mich aus dieser Situation retten will. Nein, auch wenn das eine leichte Erklärung ist für etwas, das unfassbar ist. Viel mehr als das, viel vordergründiger in meinem Bewusstsein, ist das reine sexuelle Verlangen, das in mir aufglüht, wann immer Grischa mit mir flirtet. Egal, ob er seine Augen, die Stimme, seine Hände oder den Mund nutzt, das winzigste Zeichen genügt, um mich in eine Parallelwelt zu versetzen, in der nur wir beide existieren. Wie ein Nebel ist die Umgebung außerhalb von uns verschleiert. Nur Grischa und ich sind klar in meinem Kopf. Alles andere fällt in die Dunkelheit zurück, in den Nebel. In einem Sog nehme ich Grischa wahr, jedes Detail an ihm fließt auf mich ein. Von der Seite betrachte ich ihn, während er weiter die am Boden liegenden Frauen beobachtet. Er lächelt leicht und auf der Wange entstehen Grübchen, um die Augen zeichnen sich die Falten seines Frohsinns ab. Ich starre ihn an, als sei er die Beute, auf die ich mich bei nächster Gelegenheit stürze. Ich will mich an ihn schmiegen, nein, ich will auf ihn fallen, mich auf ihn werfen, ihn besitzen mit allem, was ich habe, ich will ihn mir einverleiben, ihn besessen machen, willenlos und schwach. Ich will ihn in mir haben, an mir und um mich herum, will an allen Stellen seines Körpers riechen und seinen Duft in mir aufschlüsseln, um ihn immer bei mir zu tragen. Ich will mich verlieren in seiner Wärme, in seinem Blut, bis ich vergesse, wer ich bin. Grischa, Grischa. Der Sog hält mich mit eiserner Hand. Alles um mich herum ist egal. Ich sehe nur Grischa und spüre meine Gefühle in meinem Blut, in meinen Hormonen, die ausnahmslos meinen Kopf bestimmen. Ich will zu ihm gehen, mich an ihn schmiegen, ihn küssen. Aber was sagt das den anderen? Nein. Nein, es wäre nicht gut. Es würde alle nur wieder aufrütteln, also muss ich warten, zumindest bis es dunkel wird. Der Sog lässt ein wenig nach. Ich nehme den Bus hinter Grischa wahr. Der eine Entführer, der das Essen verteilte, ist nun auch aus dem Bus herausgetreten und steht lässig an die Karosserie gelehnt, die Pistole hält er auf die Frauen zielend fast beiläufig in der rechten Hand, er kaut genüsslich ein Stück Brot, das er in der linken hält. Seine Augen sind nur halb auf die Frauen gerichtet, sehr oft schielen sie nach oben und sehen in den Himmel. Ich folge seinem Blick und nehme zum ersten Mal das Wetter wahr. Der Nebel hat sich in die oberen Wolkenschichten verlagert. Durch die dünne Schicht strahlt eine blasse Sonne. Ein hoher Himmel, ein leichter Sommertag. Noch bricht die Hitze nicht auf einen hernieder, aber die Sonne verspricht, dass dies bald geschehen wird. In einem Bogen um die Sonne bricht sich das Licht in seine einzelnen Farben. Ein Regenbogen ohne Regen.

      Ich sehe wieder nach unten. Die Frauen liegen ungerührt, fast friedlich auf dem Boden, keine hat einen Fluchtversuch unternommen. Wie eine Schafherde, die von Hunden bewacht wird, liegen die Entführten auf der Erde und scheinen damit zufrieden. Vordergründig ignorieren sie ihre Bewacher. Fünf Frauen haben sich aufgesetzt, jede von ihnen hält einen kleinen Kanister in beiden Händen, aus dem sie trinkt. Bei dem Anblick wird meine eigene Kehle völlig trocken. Ich zwinge mich zu schlucken, doch meine Zunge, selbst mein Kehlkopf ist so ausgedörrt, dass ich würge. Ich erinnere mich an den Käse in meiner Hand. Ich sehe ihn mir an, denke daran, wie er im Dreck lag, entferne den groben Schmutz und beiße ein kleines Stück ab. Er schmeckt gut. Wie beim ersten Essen heute, schießt der Speichel in den Mund. Ich beiße ein Stück Brot ab, mische es mit dem Käse und genieße das Gefühl des Essens. Jetzt verstehe ich die Frauen, die vorhin so merkwürdig glücklich aussahen. Sie waren sicher genauso befriedigt, etwas zu essen, wie ich es nun bin. Wahrscheinlich waren sie noch viel froher, denn ich habe vor fast zwei Stunden schon etwas gegessen. Ich kaue das Brot und den Käse ausführlich, fast genießerisch. Ich sehe zu Grischa und lächle ihn von der Seite aus an.

      „Lass uns weggehen!“, höre ich mich sagen. Die Worte überraschen mich selbst. Grischas Kopf ruckt kurz in meine Richtung, in den Augen ein Ausdruck völliger Verwunderung, er klingt entrüstet:

      „Auf keinen Fall!“

      Schnell richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gefangenen. Ich bin zu überrascht, kann ihm nichts entgegensetzen. Ich habe nicht nachgedacht, was ich sagte, es war nur ein Gefühl in mir, hier in dieser Luft, auf dieser weiten Ebene. Wer sollte uns finden? Aber ich weiß nichts von Grischa, noch immer rein gar nichts über ihn und seine Arbeit.

      „Wo bringst du die Frauen hin?“, frage ich ihn leise, damit sie keine der anderen hört. Grischa sieht mich kurz von der Seite an, er wirkt traurig, fast verzweifelt. Dann geht er einen Schritt von mir weg und ruft dem Mann, der die ganze Zeit am Bus lehnte, etwas auf Russisch zu. An die Frauen gerichtet sagt er auf Englisch laut:

      „Werft die Kanister an den Rand! Wer muss, sollte die Gelegenheit jetzt nutzen, wir fahren weiter.“

      Einige Frauen stehen auf, sie recken ihre Glieder, schwanken ein wenig, sehen zu Grischa, drehen sich zu den andern um, nesteln an ihren Hosen, öffnen sie, ziehen sie herunter, während sie sich selbst hinhocken. Ich lächle. Frauen haben gelernt, sich so zu entkleiden, dass maximaler Sichtschutz besteht. Natürlich können sie ihre Pobacken nicht verbergen, aber doch das Wichtigste. Auch ich nutze die Gelegenheit und freue mich über den Rock, den ich angezogen habe. So unpraktisch ist er gar nicht. Ich fasse mit beiden Händen unter meinen Rock, schiebe ihn etwas hoch, so dass ich an den Bund der Strumpfhose gelange, und ziehe die Hose mitsamt der Unterhose nach unten. Mein Strahl ist so konzentriert, dass er brennt. Ich versuche zu überlegen, wann ich das letzte Mal etwas getrunken habe. Es muss in Jekaterinburg gewesen sein, im Hotel, in dem ich vor der Busreise übernachtet habe, also vor anderthalb Tagen. Kein Wunder, dass es schmerzt. Im Hochkommen ziehe ich mich an, stürze jedoch direkt wieder nach unten, weil mich Schwindel erfasst. Ich konzentriere mich auf meine Finger, die auseinandergespreizt auf der Erde liegen. Nach einer Weile schwimmen sie nicht mehr aus meinem Sichtfeld. Langsam richte ich den Kopf auf, sehe nach vorn, ohne ein klares Bild zu erkennen, horche in mich. Alles bleibt ruhig,