Kilda Cirus

Liebe, rette mich!


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weichen Stimme. Ich blicke ihn wieder an. Er wartet kurz, spricht dann weiter:

      „Und macht Euch keine Hoffnungen, wenn wir halten, sind wir hundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt.“

      Er lässt den Blick durch die Reihen schweifen, legt den Kopf leicht schief und bewegt sich langsam den Gang entlang nach hinten. Neben mir bleibt er stehen. Ich starre auf seine Hüfte. Er trägt ausgewaschene Jeans, an den Rändern der Taschen sind die Nähte aufgeplatzt und der weiße, dicke Baumwollfaden ist aufgezwirbelt. Mit geblähten Nasenflügeln ziehe ich die Luft ein. Ich fühle seinen Blick auf meinem Gesicht, langsam hebe ich den Kopf. Er lächelt. Seine Hand legt er in einer endlos ruhigen Bewegung unter mein Kinn. Sie ist warm und fest, ein wenig rau. Ein Schauer jagt durch meinen Körper. Langsam hebt er meinen Kopf etwas höher. Der freundliche, fast zärtliche Blick seiner Augen, erschüttert mich im Innersten. Er ist zu schön, zu vertrauensvoll, fast so, als würde er jemand anderes als mich sehen. Erinnere ich ihn an eine Frau? Dieser Blick ist so intensiv, es ist, als gäbe es keine Grenze zwischen uns.

      Er öffnet den Mund und sagt auf Englisch: „Komm!“

      Seine weiche Stimme ist ebenso intensiv wie die Berührung. Er lässt mein Kinn los, fasst nach meinen Händen und zieht mich nach oben. Ich lasse es willenlos mit mir geschehen, denn mein Verstand hat nicht gesiegt und ich höre auf mein Gefühl, dass mir beruhigend sagt, dass ich keine Angst haben muss. Er führt mich in den vorderen Teil des Busses, wo die ersten Bänke wie in einem Zugabteil gegenüber aufgestellt sind, so dass man sich ansehen kann. In der Mitte davon ist ein ausklappbarer Tisch. Das hatte ich vorher nicht bemerkt. Verwundert nehme ich es wahr, doch es ist nur ein weiterer kleiner Tropfen in meinem flüssigen Bewusstsein, in dem ich benommen und zitternd schwimme. Allein die Nähe dieses Mannes ist wie eine Berührung. Das Herz pocht in meinem Kopf.

      Am Tisch sitzen zwei der Entführer und spielen Karten. Sie blicken hoch, als sich ihr Anführer nähert. Er nickt kurz, sie stehen auf. Sie stellen sich in den Gang, einer neben den Fahrer, der andere zwängt sich an mir vorbei. Der Anführer zieht sanft an meinem rechten Arm, ich sehe ihn an. Sein Gesicht ist nicht mehr freundlich, es ist ausdruckslos, seine Augen wieder ein Tarnschild. Sehr leise sagt er: „Setz Dich!“

      Er drückt mich mit den Händen auf meinen Schultern auf den Sitz und nimmt mir gegenüber Platz. Er starrt mich an, mustert mich. Von meinem Gesicht gleitet sein Blick nach unten, über das grüne Baumwollshirt zu dem schwarzen, kurzen Rock, der über den Knien endet, zu den Beinen. Jetzt lächelt er wieder freundlich. Ich mustere ihn ebenfalls. Aus der Nähe wirkt er recht friedfertig, ich entdecke keine Spur der grausamen Gleichgültigkeit, die in den anderen Gesichtern der Entführer lag. Ich sauge die Schönheit dieses Mannes in mich auf. Seine helle Erscheinung strahlt durch die Dunkelheit, durch die Angst. Ich genieße diesen Anblick, genieße seine Nähe, seine Aufmerksamkeit. Er lächelt mich an und nimmt meine kalten Hände in seine großen, warmen. Kurz schaudert mich und obwohl mein Herz aufgeregt springt, entspannt mich diese Geste und ich wundere mich nicht, als ich ihn anlächele. Der Puls schlägt heftig gegen meine Schläfen, doch langsam fließt die Ruhe dieses Mannes in mich, seine Kraft und Gelassenheit. Ich bin sicher bei ihm. Solange ich in diese Augen schaue, passiert mir nichts. Die Entführung, die Toten, selbst die Zukunft, alles wird vor seinem Blick zu einem nichtssagenden Erlebnis. Als würde ich mich zwischen Leben und Tod entscheiden, rette ich mich überwältigt in die Einladung der Augen dieses Mannes, der mich warmherzig anlächelt. Verzückt bemerke ich, wie Vertrauen mein Bewusstsein mit Lichtgeschwindigkeit durchflutet. Vertrauen. Ich vertraue diesem Mann. Ich starre in seine Augen. Eine Minute verstreicht bewegungslos. Sein Blick fließt in mich, durch mich, sammelt alle Kräfte in dem warmen Zentrum unter meiner Brust. Mein Herz schlägt machtvoll, als ob es durch diese blauen Augen zum Leben erweckt wird. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, beflügelt von der Euphorie, die er in mir auslöst, rücke ich auf dem Sitz ein Stück vor, beuge mich zu dem Gesicht des Mannes und berühre seine Lippen. Sie sind warm und fest. Der angenehme Hauch seines Atems streift meinen rechten Nasenflügel. Das Blut rauscht mir durch den Kopf, verdrängt die Angst, vertreibt alle Gedanken der Vernunft. Seine Lippen, obwohl er sie nicht bewegt, bringen meine Lebensgeister zurück. Ich vergesse alles, was außerhalb der Reichweite meiner Arme liegt. Ich fühle die fremde Haut, schmecke und rieche diesen fremden Mann, dass es alle Sinne beansprucht, meinen Verstand lähmt und Hormone die Macht übernehmen. Mit geschlossenen Augen, lehne ich mich zurück, rieche, schmecke, höre auf das Rauschen in den Ohren, höre das Summen in meinem Kopf. Ich lächle und öffne die Augen. Er starrt mich an. Seine blauen Augen sind dunkel geworden. Er lächelt nicht, die warmen Lippen sind geschlossen, sie zeigen eine gerade Linie, ganz neutral, als wäre nichts geschehen. Ich zwinkere häufig, hole flach Luft. Sein ausdrucksloser Blick dämpft meine Stimmung. Ich sehe nach unten. Der Rausch endet in grausamer Ernüchterung. Es gibt kein Vertrauen, keine Sicherheit. Ich bin eine Entführte, der Kuss ändert daran nichts. Oder doch? Habe ich eine Wahl? Die Nähe des Mannes ist berauschend, seine Wärme, sein Geruch. Langsam nähere ich mich ihm, hebe meine Augen, sehe in seine, sehe die Überraschung, den Unglauben in ihnen, die Verwirrung. Die Erkenntnis, dass ich diesen Mann verwirren kann, gibt mir ein Gefühl von Stärke. Erneut berühren meine weichen Lippen seinen geschlossenen Mund. Ich fühle die reglose Starre, in die er verfällt, öffne meine Lippen und streichele seinen Mund mit der Zunge. Seine Lippen sind nicht voll, auch nicht dünn. Wie gern würde ich die Feuchte in diesem Mund spüren, nicht nur die trockene Wärme! Endlich gibt er nach, öffnet die Lippen und ich schiebe meine Zunge in seinen Mund. Die warme Feuchte lässt mich vollständig vergessen, wo ich bin. In einem Rausch meiner Hormone küsse ich ihn heftiger, dringe weiter in ihn, fahre die scharfe Kante seiner Schneidezähne, dann an der Zunge entlang, schmecke ihn. Langsam beginnt er mit mir zu spielen. Wie ein Kind freue ich mich über die Reaktion. Ich verliere mich in diesem Mund, vergesse zu atmen, vergesse zu sehen, bin völlig vereinnahmt von der warmen Feuchte in ihm, dass ich das Gefühl habe, ich schmelze an seinem Körper. An meinen Knien, die durch die Strumpfhosen empfindlicher sind, spüre ich seine Erektion. Ich drücke mein Knie spielerisch gegen sein Glied, schiebe es hin und her, genieße meine Macht. Ich lasse von seinem Mund ab, lehne mich zurück und sehe ihm in die Augen. Wir fangen gleichzeitig an zu lachen. Wie Teenager sitzen wir uns gegenüber und lachen lauthals. Die Stille im Bus stört uns nicht, wir nehmen nichts mehr wahr. Wir lachen gemeinsam in dieser absurden Situation und das letzte Misstrauen verschwindet in meiner Seele. Ich habe mich verliebt.

      Langsam beruhigen wir uns. Aus schallendem Lachen wird ein allmähliches Lächeln, das unsere Lippen zeichnen. Ich betrachte den Mann, von dem ich nichts weiß, der das Versprechen dieses irrsinnigen Mondes ist, welcher mir in der Nacht, als er kam, zulächelte. Er ist nicht alt, nicht mehr jung, vielleicht etwas mehr als dreißig Jahre. Um die Augen und auf der Stirn zeichnen sich erste bleibende Linien in seinem gleichmäßigen Gesicht ab. Die Haare sind wirr und ohne eine zu erkennende Frisur sprießen sie in Vielzahl auf dem Kopf. Seine Haut ist wettergegerbt, ein wenig braun, etwas trocken, leicht gespannt über den hohen Wangenknochen. Seine gerade, schmale Nase reckt sich fast neugierig aus dem Gesicht heraus. Und der Mund, den kenne ich schon. Der gefällt mir gut. Aber das eigentliche Merkmal seines Gesichts sind die Augen: blau, tiefblau und dunkel. Das Blond der Haare findet sich in einem tieferen Ton in seinen Augenbrauen und Wimpern wieder. Sie umrahmen diese großen herausfordernden Augen wie ein Kranz. Sein Gesicht ist offen. Es gibt nichts in seinen Zügen, das mich warnt, nichts, das mich abschreckt. Ich beuge mich ein wenig zu ihm, lächle ihn an, flüstere ihm leise zu:

      „Ich bin Miriam.“

      Er mustert mich, starrt in mein Gesicht, in die Augen, in meine Seele, doch ich empfinde keine Angst und habe nichts vor ihm zu verbergen. Er weiß, dass ich verletzlich bin, aber das ist jeder andere Mensch auch, besonders in diesem Bus. Es gibt nichts, was ich vor ihm verbergen müsste. Er beugt sich vor und bedeutet mir, mit der rechten Hand, ihm entgegenzukommen. Mein Gesicht nähert sich seinem, meine Augen fliegen von seinem Mund zu den Augen und wieder zurück. Gleich werden wir uns küssen, aufgeregt und voller Vorfreude fahre ich mit der Zunge über meine trockenen Lippen. Aber sein Kopf hält nicht vor meinem inne, er stoppt erst, als mein Gesicht über seiner linken Schulter ist.

      „Grigori“, flüstert er so leise an meinem Ohr, dass ich es nur im Nachhinein höre, nach einer kleinen Pause fügt er hinzu:

      „Nenn'