und den Weg in die Freiheit finden. Aber die Entführer ahnen es. Schnell ziehen sie ihre Waffen, laden sie, halten sie schussbereit in der Hand. Ein verärgertes Raunen durchflutet den Bus, dann wird es wieder still. Kurz darauf verstummt das Summen außerhalb des Busses. Geräusche, die ich nicht zuordnen kann, erfüllen die Luft. Dann ist es still. Nichts rührt sich, keiner spricht. Mit angehaltenem Atem sehe ich zur Frontscheibe hinaus.
Sich durch eine schwarze Silhouette von der schwach erleuchteten Ebene abhebend, kommt jemand die Treppen des Busses herauf. Durch das trübe Hintergrundlicht erkenne ich die Gestalt nur grob. Es ist ein Mann. Er ist im Vergleich zu den anderen Bewachern nicht groß, es ist keiner der beiden, die die Leichen aus dem Bus getragen haben, diese mussten die Köpfe einziehen, als sie den Bus verließen. Dieser Mann geht aufrecht in den Bus hinein. Dem bisherigen Anführer reicht er bis zur Schulter. Die Autorität des kleinen Mannes büßt dadurch nichts ein. Er spricht ein paar leise Worte, dann verlässt der große Mann den Bus. Ich starre den neuen Mann an. Ist er die Lösung des Ganzen? Klärt er alles auf? Wieso kommt er in diesen Bus? Wie hat er ihn gefunden? Oder ist das Ziel unserer Entführung erreicht und wir werden verkauft oder hingerichtet oder vergewaltigt? Die Gedanken schießen durch meinen Kopf, obwohl ich lieber an Flucht denken will oder an irgendeine List. Aber in dieser Hinsicht lässt mich mein Gehirn im Stich. Ich sehe den neu angekommenen Mann nicht, aber ich will es unbedingt. Ich will sein Gesicht sehen und ich will ein sympathisches Gesicht sehen, ein freundliches, das mich anlächelt und das mir sagt, dass mir nichts passiert. Stattdessen sehe ich nur einen schwarzen Umriss vor der großen Frontscheibe des Busses. Es fühlt sich an, als schweife der Blick des Mannes über jede einzelne der Frauen, als mustere er sie. Unwillkürlich zucke ich zusammen, als er in meine Richtung schaut. Ich fühle mein Herz gegen die Rippen pochen, Hitzewellen durchfluten meinen Körper, obwohl mir kalt ist und ich zittere. Lass diesen Mann die Lösung bringen! Tu irgendjemand irgendetwas, dass wir hier heil herauskommen! Er sagt nichts, rührt sich nicht. Ich wende den Blick ab, schlage die Augen nieder, hole tief Luft und versuche, diesen Mann mit seiner aufdringlichen Aura zu ignorieren. Er starrt mich noch immer an, ich fühle es. Ich schließe die Augen und beiße den Kiefer so fest zusammen, dass mir alle Zähne schmerzen und ich vom Sog zu dem Mann befreit werde. Ich konzentriere mich auf den Schmerz in jedem einzelnen meiner Zähne, bis das Bild dieser schwarzen Silhouette des Mannes mit dem durchdringenden Blick in mir selbst schwarz wird und sich auflöst. Ich öffne die Augen. Damit ich nicht wieder den Mann anstarre, sehe ich zum Mond. Immer noch steht er tief am Himmel, kahl, so gleichsam unspektakulär wie faszinierend und lächelt doch genauso wie der Allwissende selbst.
Schritte auf der Treppe lenken meine Aufmerksamkeit nach vorn, erneut betritt ein Mann den Bus, doch er setzt sich ohne einen Blick auf die Frauen hinter das Steuer. Der Busfahrer löst die Handbremse, mit dem typischen Zischen setzt sich der Bus in Bewegung. Alle sind still, bis auf das Brummen des Motors höre ich nichts. Die beiden Männer, die den Bus verlassen hatten, fehlen. Sie sind in der Dunkelheit geblieben, aber ihr Schicksal interessiert mich nicht. Sie können von mir aus in dieser Ebene verdursten und kein Tropfen Mitleid würde durch mein Herz fließen. Meine Nachbarin schließt die Augen. Ich kann nicht schlafen. Ich bin nicht müde. Ich betrachte wieder den Mond, die dunklen Schatten auf der hellen Oberfläche, Gebirge, Täler, die von der Entfernung aussehen wie halbdurchsichtige Löcher in einer Scheibe. Die seltsam formlose Landschaft schwimmt im milchigen Licht dahin. Sie lenkt mich nicht ab. Eine Unruhe hat mich gepackt, die ich nicht beherrschen kann. Meine Nachbarin schläft mit dem Kinn auf ihrer Brust wie ein übermüdetes Kind. Ihre Ruhe führt mir meine Nervosität deutlich vor Augen. Ich kann nicht schlafen, ich will leben. Und ich spüre Leben. Hier, in diesem Bus, ist so viel Energie, dass sie zwischen meinen Händen vibriert. Fast ist es, als könnte ich neues Leben formen. Ein Versprechen. Der Mond lächelt auf mein Gesicht. Die Zukunft gehört mir, egal was kommt, ich werde sie formen. Ich spüre einen Blick auf mir. Bin ich auffällig? Warum sieht mich jemand an? Konzentriert fahre ich die Reihen mit meinen Augen ab. Ich erkenne Schemen, dunkelgrau heben sie sich von der schwarzen Masse ab. Das Mondlicht reicht nur bis zur Fensterreihe, dort sind alle Köpfe still. Obwohl ich nichts sehe, starre ich noch eine Weile in Richtung des neuen Anführers. Er macht mich nervös. Ich fühle seine Anwesenheit, als ob er neben mir sitzt. Ich spüre seine Kraft und Entschlossenheit, den zwanghaften Willen, mit dem er alles unterwirft und seine Neugierde. Sicherlich ist er es, der mich ansieht. Wieder huscht ein Lächeln über mein Gesicht. In mir formt sich ein Bewusstsein, das alles andere untergräbt. Alle Angst, alle Unsicherheit stürzt bodenlos. Es bleibt ein seltsames Wissen in mir. Immer wieder sehe ich nach vorn, aber ich erkenne ihn nicht. Er ist in den Schatten verborgen. Der Mond löst sich im Nebel auf, völlige Finsternis umgibt uns. Mit hoher Geschwindigkeit fahren wir durch die Nacht, durch ein menschenleeres und in Dunkelheit liegendes Land, das mir weder Hoffnung gibt, noch Hoffnung nimmt. In seiner Unendlichkeit liegt ein Trost. Die Einbildung, dass das Ende nie erreicht wird.
Der Morgen graut in nebelverhangenen Wolken. So farblos wie die ganze Nacht war, wechselt das Licht in den Tag. Meine Nachbarin wacht mit einem Ruck durch ihren Körper auf, ihre Augen sind verquollen, sie hat oft im Schlaf geweint. Allmählich regen sich die anderen Frauen, tauschen sich leise mit ihren Nachbarinnen aus und sehen sich um. In ihren Gesichtern steht Verwirrung, als ob sie nicht wissen, wo sie sind. Andere spiegeln deutlich ihren angstvollen Zustand wieder.
Mit dem Tageslicht verändert sich die Stimmung im Bus. Die drückende Atmosphäre weicht lauter werdenden Rufen nach Essen und Trinken. Die Bedürfnisse des menschlichen Körpers untergraben scheinbar bei manchen die Angst vor der Ungewissheit. Zwei Frauen im vorderen Teil des Busses rufen abwechselnd „Wasser“ und „Essen“ auf Englisch. Fast klingt es wie auf einem Markt, doch die Entführer lassen nicht auf sich warten:
„Ruhe! Ruhe! Haltet den Mund!“
Zwei der Entführer schreien die Frauen vorn im Bus an, doch sie lassen sich nicht einschüchtern und fordern weiter Wasser und Nahrung. Plötzlich springt eine der Frauen auf, schlägt dem neben ihr stehenden Entführer mit der Hand ins Gesicht und schreit ihn mit weit aufgerissenen, fast aus den Höhlen springenden Augen an:
„Gebt uns Wasser!“
Der Mann packt die Frau sofort am Arm und schlägt mit der anderen Hand in ihr Gesicht, die Frau schreit auf. Sie fällt auf ihren Sitz zurück. Blut rinnt aus ihrer Nase. Alle sitzen gelähmt und still, starren auf die Frau, die sich nun ein Taschentuch vor die Nase hält und verletzt oder wütend faucht.
Aus der ersten Reihe erhebt sich der Anführer. Er stellt sich breitbeinig in den Gang, lässt den Blick erst über die linke, dann über die rechte Hälfte des Busses schweifen. Seine Augen verharren auf mir. Im Tageslicht sehe ich ihn zum ersten Mal. Er hat eine kraftvolle Figur, trainiert, sportlich. Geschmeidig federt er die Bodenwellen ab, steht ungerührt da, ohne sich festzuhalten. Er hat dunkelblonde, wirre Haare, eine gerade Nase, ein ausgeprägtes Kinn, auf dem sich ein rötlicher Stoppelbart abzeichnet. Das alles sehe ich nur aus den Augenwinkeln, denn ich starre in seine Augen.
Er lächelt mich an, seine durchdringend blauen Augen funkeln freundlich, interessiert, gewitzt, vielleicht auch herausfordernd, unsere Blicke verhaken sich. Ich versuche, in diesen Mann hineinzusehen, aber die blauen Augen schirmen alles ab. Sie sind ein Schild, eine Tarnvorrichtung, die die Aufmerksamkeit ablenkt, ohne dass der Kern je berührt wird. Ich bin der Hase, der vor der Schlange sitzt, denke ich, während ich ihn anstarre und den rechten Mundwinkel leicht zurückziehe, so dass die Andeutung eines Lächelns auf meinem Gesicht liegt. Ich fühle meinen Geist an einem Abgrund, als mir klar wird, dass ich weder Angst noch Unbehagen gegenüber diesem Mann empfinde. Je länger ich in seine Augen sehe, umso deutlicher fühle ich mich zu ihm hingezogen. Vielleicht will ich das blaue Tarnschild durchbrechen, um selbst beschützt zu werden? Ich weiß es nicht, viele Gedanken kommen nicht in meinem Bewusstsein an. Ich bin aufgeregt genug, wenn ich in diese Augen starre und ein Spiel beginne, dessen Ende das Gegenteil von gut sein muss. Bin ich noch klar bei Verstand? Nein. Mein Verstand wehrt sich gegen mein Gefühl, denn ich fühle klar, dass ich diesen Mann mag, dass ich mit ihm flirten will, aber mein Verstand hält dagegen. Mein Lächeln stirbt. Ich sehe aus dem Fenster, sonst würde ich weiter in die Augen des Entführers starren. Ich will meinem Verstand die Chance geben, die Oberhand zu gewinnen.
„Ihr werdet bald Essen bekommen. Wir