und stellt sich in den Gang. Mit der gewohnt weichen Stimme sagt er:
„Wir werden gleich stoppen. Seht aus dem Fenster!“
Verwundert über diese Anordnung drehe ich mich um, damit ich sehe, was passiert. Nur wenige haben das Gesicht den Fenstern zugewandt.
„Es macht gar nichts“, sagt Grischa gleichgültig, „wenn ihr nicht aus dem Fenster seht. Ich kann euch beschreiben, was draußen ist: Es ist die Taiga. Ein Land voller Wald und Sumpf, in dem sich jeder verläuft. Es gibt kaum Dörfer, nur wenige Straßen, ein paar eisige Flüsse. Wenn wir halten, sind wir mitten in diesem einsamen Land.“
Grischas Stimme ist wieder ruhig und beherrscht, mit einem schnorrenden, verführerischen Ton, der alle dazu einlädt, sich zu entspannen. Seine Stimme ist wie ein Gift, wie ein Gas, das wir alle atmen, das wir inhalieren, von dem alle betrunken werden. Er erzählt weiter:
„Wir werden halten. Wenn ihr aus dem Bus geht, bekommt ihr Brot und Käse. Draußen werden Wasserkanister herumgereicht.“
Er macht eine Pause, als ob er nicht sicher ist, was er als Nächstes sagt:
„Ihr seid gut bewacht. Macht nicht den Fehler und versucht zu fliehen. Zwei von euch sind schon tot. Es sollten nicht noch mehr werden.“
Mit Grischas Stimme verstummen die Geräusche im Bus. Kein Knacken, kein Gemurmel, kein Atmen. Die Frauen sehen Grischa an, der breitbeinig und ungerührt im Gang steht. Ich knie mich mit dem Rücken zum Fenster auf den Sitz. Mein Puls beschleunigt sich, ich freue mich auf die Luft, die Weite. Gleichzeitig steigt die Nervosität. Was wird passieren? Was ist das Ziel der Reise? Was wird aus uns? Die Fragen wirbeln in meinem Kopf und trotz der frischen Verliebtheit fürchte ich Grischa in diesem Moment. So unnachgiebig und ungerührt spricht er von Tod und Entführung, dass die eigentliche Gewalt nicht die körperliche der Entführung ist, sondern die seelische. Seine Stimme, seine Ruhe, seine Überlegenheit. Er selbst hat niemanden ermordet. Er hat nicht einmal gesehen, was mit Mary und der anderen Frau passierte. Und trotzdem nutzt er diesen Schrecken für sein eigenes mörderisches Bild. In den Gesichtern der Frauen finde spiegelt sich meine Furcht. Sie sind ein Meer von Fratzen, die mich jagen. Ich wende den Blick ab, sehe Grischa an. Ich bewundere ihn. Er spielt mit allen von uns und bleibt selbst dabei so ungerührt, als wäre er nicht vorhanden. Ich bewundere seinen wachen Geist und die Macht, alle und alles zu kontrollieren. Insgeheim imponiert mir sogar seine Grausamkeit. Doch gleichzeitig bin ich abgeschreckt von derselben Grausamkeit, die mich anzieht. Es ist wie ein Untergang, den ich nur überlebe, indem ich selbst untergehe. All meine Menschlichkeit, mein Glauben an das Gute, mein Mitgefühl, meine Empfindsamkeit, meine Sozialität, all das fließt in einem Strudel, dessen Ende eine kaltherzige Person bildet, die sich angepasst hat. Ich habe diese Entschuldigung schon immer gehasst: Die Umstände haben sie dazu gezwungen. Das ist nicht wahr! Ich habe die Wahl der Entscheidung. Ich sehe alles. Ich sehe die Entführung, die ängstlichen Frauen, ich sehe ein unbarmherziges Ende, das ich nicht erleben will. Ich sehe Grischa, die Entführer, die Grausamkeit und Brutalität, die ein Mensch keinem anderen antun darf. Meine Wahl ist keine Entschuldigung. Doch ich habe von Kind an ausgeschlossen, dass ich Opfer werde.
Grischa steht noch im Gang, während der Bus stoppt. Zum ersten Mal nehme ich seine Kälte wahr. Grischas Stimme ist nicht warm, sie war es nie. Sie ist schmeichlerisch, trügerisch, doch nur Gift. Trotzdem, vielleicht gerade deswegen, schlägt mein Herz weiter. Befreit von dem Selbstbetrug, mich unschuldig verliebt zu haben, schlägt es unkontrolliert und brachial in mir, als wolle es die letzten Reste eines Zweifels über meine Entscheidung hinweg reißen. Mein Herz will leben, egal, welchen Verrat es begeht. Es will nur schlagen, schlagen. Und lieber verrät es sich selbst, als vor Angst zu sterben.
Grischa gibt Anweisungen an seine Männer. Einer stellt sich in den hinteren Ausgang, ein anderer in den vorderen. Der dritte Mann nähert sich mir, während Grischa weiter im Gang steht und die Frauen beobachtet. Neben mir stoppt der widerliche Mann, in seinem Blick steht deutlich Hass. Ich habe keine Angst mehr vor ihm. Jetzt bin ich ihm ebenbürtig. Er sieht mich mit kleinen, zusammengekniffenen Augen an. Ich schaue direkt zurück, sehe, dass er darauf wartet, ein Zeichen der Angst in mir zu finden, doch er findet keins. Mehr denn je verstehe ich meine Position. Solange ich bei Grischa bleibe, bin ich sicher. Die Männer gehorchen ihm und die Frauen haben keine Wahl. Dieser widerliche Mann kann mir nichts tun, es sei denn, er will sich mit Grischa anlegen. Aber den Eindruck macht er nicht. Selbst jetzt ist er schon verwirrt, weil ich keine Angst vor ihm zeige. Sein Kopf ruckt hoch, ich deute es als Zeichen, dass ich aufstehen soll. Er stellt sich neben mich, geht in die Knie und zieht unter der Sitzbank eine große Plastikkiste hervor. Er öffnet den gelben Deckel und legt ihn neben sich ab. Da der Platz sehr eng ist, legt er ihn auf meine Füße. Er sieht kurz hoch. Ich lache mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. Aus der Kiste nimmt er mehrere Brote und mehrere Stück Käse. Er legt alles auf den Boden, in den Dreck. Dann verschließt er die Kiste wieder, holt unter dem Sitz zwei große Plastiksäcke hervor. Mit einem Messer, das er aus einer Befestigung an seinem Gürtel holt, teilt er die Brote in jeweils sechs Stücke und steckt sie in die beiden Plastiksäcke, den Käse teilt er ebenfalls. Ohne einen weiteren Blick auf mich steht er auf, packt beide Säcke und gibt jeweils einen Sack dem Mann in der vorderen und einen dem in der hinteren Tür. Die Frauen sind nervös, unruhig rutschen sie auf ihren Sitzen umher, sehen sich um, reden in leisen, kurzen Sätzen miteinander. Grischa schreitet entschlossen ein:
„Ruhe! Wir werden euch jetzt rauslassen. Esst die Sachen, die wir euch geben und trinkt ausreichend. Nutzt die Gelegenheit, euch zu erleichtern. Wir werden den Tag und die Nacht durchfahren. Seid vernünftig, vergesst nicht, wir sind sehr weit von der nächsten Siedlung entfernt. Zu Fuß erreicht ihr sie nicht. Bleibt in der Gruppe, sonst schießen wir.“
Mit Grischas letzten, ruhig gesprochenen Worten öffnen sich die beiden Türen. Der widerliche Kerl tritt durch die hintere Tür nach draußen. Grischa ist so schnell an mir vorbei, dass ich ihn nur noch durch die Scheibe sehe. Er fängt eine Maschinenpistole, die ihm der andere Mann zuwirft. Grischa stellt sich in circa fünf Meter Entfernung zum Bus auf und wartet. Er beobachtet konzentriert die Umgebung und starrt dann auf die Tür. Eine Bewegung im Bus zieht meine Augen an. Der Busfahrer hat seinen Platz verlassen und nimmt ebenfalls eine Waffe aus dem Gürtel. Es ist eine ähnliche Waffe, wie sie die andern Entführer nutzen, die gleiche, mit der sich Mary erschossen hat. Der Busfahrer stellt sich in den Gang, sieht mich an und nickt mit dem Kopf Richtung Tür. Die Waffe hält er unbeteiligt nach unten, trotzdem bin ich sicher, dass sie geladen ist.
„Raus!“, sagt er tonlos.
Ich stehe auf, gehe auf den vorderen Ausgang zu. Der Mann, der an der Tür steht, hält mir den Sack mit Brot und Käse hin, ohne mich zu beachten. Er sieht auf die Frauen, eine Hand an der Pistole an seinem Gürtel. Schwankend nähere ich mich ihm, die Beine sind vom langen Sitzen so steif, dass es sich anfühlt, als wären Holzbeine an meine Hüfte geschraubt. Einen Schritt vor den anderen. Ich fasse in den Sack. Mit der linken Hand greife ich das Brot, mit der rechten den Käse. Unschlüssig stehe ich da. Der Mann ignoriert mich, also gehe ich an ihm vorbei. Bei jedem Tritt auf die drei Stufen des Busses, zieht ein Schmerz durch die Hüfte. Gleichzeitig weht mir ein so frischer Wind in die Nase, dass ich die Schmerzen vergesse. Es riecht nach Erde, nach Sommer, warmer Luft. Ich schließe die Augen, bleibe vor dem Bus stehen und atme.
„Komm her!“, fordert Grischa mich weder freundlich noch geduldig auf. In wärmerem Ton setzt er nach:
„Hier, neben mich!“
Er lächelt sogar kurz. Von seinem Gesicht gleitet mein Blick nach unten auf die an einem Schultergurt befestigte Waffe. Sie ist kurz und schwarz. Eine Schnellfeuerwaffe, so lang wie der Unterarm von Grischa, der in einer Parallele zur Waffe liegt, fast locker hält er sie in seiner rechten Hand. Doch die Lässigkeit drückt die Gefährlichkeit aus. Er braucht nicht sonderlich zielen, die Waffe ist tödlich genug. Automatisch laufe ich zu ihm und stelle mich an seine linke Seite. Grischa sieht mich nicht an, während er spricht:
„Bleib jetzt bei mir. Und bleibe ruhig!“
Er schaut weiter auf die Tür, aus der schon die nächste Frau tritt. Grischa schlägt den Befehlston an:
„In die Mitte des