Peter Graf

Das Vermächtnis von Holnis


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      Das Vermächtnis von Holnis

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      Wir hatten Glück, pures Glück, dass ausgerechnet wir den Zuschlag zu dem Haus erhalten sollten. Noch auf dem Weg zum Notar beschlichen uns Zweifel, ob der Kaufvertrag tatsächlich zum Abschluss kommen würde. Es hatte schließlich zahlreiche Interessenten für das Objekt gegeben, von denen einige mit Sicherheit zahlungskräftiger waren als wir.

      Die Villa war einzigartig: ein Schmuckstück, unmittelbar an dem Ufer der Förde gelegen, deren Wellen das Grundstück umspülten. Natürlich war es von keiner Stelle innerhalb Flensburgs weit entfernt zum Meer. Flensburgs dicht bebaute Hänge umschlossen die Innenförde, die wie ein angewinkelter Arm aus der Ostsee heraus ins Zentrum Flensburgs hineinragte. Die Altstadt mit ihren eindrucksvollen Backsteinbauten, ihren Kontoren und Hafenanlagen spiegelte sich bei Windstille malerisch im Wasser der Förde. Bei Sturm aber zeigte das Gewässer seine zerstörerische Kraft, wenn die Innenstadt überschwemmt wurde und die Fluten in die tiefer gelegenen Gebäude eindrangen .

      So konnte man von vielen Häusern und Wohnungen aus einen kleinen Ausschnitt von der Förde sehen, was aber bei einem Verkauf sofort den Preis in die Höhe schnellen ließ. Auch wir hatten von unserem alten Haus nur wenige hundert Meter zum Strand zu laufen und waren oft wegen dessen Lage am Strand von Solitüde, einem begehrten Stadtteil von Flensburg, beneidet worden. Aber das Landhaus, das wir jetzt erwerben sollten, war einfach ein Traum. Es lag einige wenige Kilometer von Flensburg entfernt auf einer Halbinsel, an deren Stränden sich nur im Hochsommer und an sonnigen Wochenenden vereinzelt Spaziergänger verirrten, die dort ihre Hunde ausführten oder Ruhe am Meer suchten. Ansonsten hatte man die Naturstrände für sich allein, und im Herbst oder Winter kamen oft tagelang keine Menschen vorbei.

      Sabine hakte sich bei mir unter, was sie immer dann tat, wenn sie bester Laune war. „Im nächsten Sommer können wir morgens nach dem Aufstehen gleich schwimmen gehen“, schlug sie voller Begeisterung vor, in dem Bewusstsein, dass man bei unserem neuen Haus nur aus der Terrassentür treten musste, um am Strand zu sein. Ich verzichtete darauf, ihre Begeisterung mit der Bemerkung zu dämpfen, dass sie nie baden ging, wenn das Wasser nicht zumindest 22 Grad hatte, ein Wert, den die Förde bestenfalls alle drei Jahre erreichte.

      Das Haus lag nicht nur in der Nähe vom Meer, sondern sein Grundstück ging unmittelbar über in einen Strandabschnitt von Holnis, und in jedem Raum des Hauses hatte man das Gefühl, dass die Ostseewellen so nah waren, als ob sie direkt an das Mauerwerk schlagen würden. Überall wo man sich befand, ob im Salon oder im Schlafzimmer, sah man das Meer, roch man das salzige Wasser und hörte den gleichmäßigen, beruhigenden Klang der Wellen, so dass wir keinen Moment an unseren Kaufabsichten gezweifelt hatten.

      Und nicht nur die Lage unseres zukünftigen Heims war einzigartig. Das Haus selbst war von beeindruckender Schönheit. Es war vor 1900 von einem Fabrikanten errichtet worden, der durch die Herstellung von Ziegeln zu Reichtum gekommen war und der offensichtlich seinen Wohlstand in der Ausgestaltung seiner Villa zum Ausdruck hatte bringen wollen. Für uns stand außer Frage, dass es kaum ein schöneres Haus gab. Zur Wasserseite hatte das Landhaus große, bis zum Boden reichende Fenster, die einen berauschenden Blick über die Ostsee möglich machten. In den Türmen an den beiden Giebelseiten des Gebäudes, deren kegelförmige Dächer das Haus wie ein kleines Schloss erschienen ließen, gab es kleine sechseckige Räume. Die boten kaum mehr Platz als für einen Sessel und einen winzigen Tisch. Aber durch die rundherum angeordneten schmalen Fenster erhielt man in dem Raum das Gefühl, als ob man zwischen Meer und Insel schweben würde.

      Das Dach unserer Villa war wie bei so vielen anderen Villen aus jener Zeit ein Kunstwerk für sich. Die kunstvoll verzierten Dachpfannen aus rotem Ton waren an vielen Stellen unterbrochen, durch elegant geschwungene Gauben, kleine Türmchen oder fantasievoll gestaltete Ziegel in Form von Tierköpfen, Fabelwesen und Symbolen, deren Bedeutung uns erst später klar werden würde.

      Es gab wohl keinen Spaziergänger, der nicht zumindest kurz vor dem Haus stehen blieb und mit Sehnsucht das weiß verputzte Haus mit seinem roten Dach vor dem blauen Meer betrachtete.

      Am Abend waren wir Besitzer dieses Anwesens und konnten vor Aufregung und Glück nicht

      einschlafen.

      Schon am nächsten Tag brach ich in aller Frühe auf, um in Ruhe eine Aufstellung zu machen, was an unserem neuen Zuhause alles herzurichten war. Obwohl ich kaum geschlafen hatte, verspürte ich keinerlei Müdigkeit, sondern eher eine, wie mir schien, unbegrenzte Energie, die ich sofort dazu nutzen wollte, unser Heim nicht nur bewohnbar zu machen, sondern auch mit einer Gemütlichkeit zu versehen, die ich in zahlreichen Bildern schon vor Augen hatte. Bei den Besichtigungen war uns schnell klar geworden, dass es bei der Renovierung des Hauses nicht damit getan war, die Wände zu tapezieren oder neue Teppiche zu verlegen. Als ich dann in Holnis ankam, wurde mir das erste Mal die Größe des Grundstückes richtig bewusst. Die Villa befand sich auf einem Gelände, das parkähnliche Ausmaße hatte und durch seine Alleinlage und seine dichte Hecke uneinsehbar war. Nur zum Strand hin war das Gelände offen, so dass der Blick auf das Wasser unversperrt war. Auch der Park musste einmal von atemberaubender Schönheit gewesen sein, denn es standen dort prächtige Bäume, riesige Rhododendren und etliche Pflanzen, die ich noch nie vorher gesehen hatte, überall im Garten scheinbar ungeordnet herum. So verwahrlost der Garten auch war, hinterließ er einen seltsamen Zauber. Mir wurde schnell bewusst, dass auch die Herrichtung des Gartens eine Aufgabe war, der man sich Monate oder vielleicht sogar Jahre widmen konnte. „Hier kann sich Sabine austoben“, dachte ich und musste bei der Vorstellung ein wenig schmunzeln, wie sie in wilder Entschlossenheit den riesigen Brombeerbüschen zu Leibe rücken würde.

      Wir hatten für unser altes Haus einen stolzen Preis erzielt. Trotzdem mussten wir bis an die Grenze unserer finanziellen Leistungsfähigkeit gehen, um den Kaufpreis für die Villa in Holnis aufzubringen. Die Instandsetzung des Hauses wollten wir in Eigenleistung erbringen und nur in Notfällen Handwerker damit beauftragen. Bei diesen Gedanken überkam mich doch ein mulmiges Gefühl, als ich durch das Haus ging. Wo ich auch hinschaute, sah ich Aufgaben, mit denen ich die nächsten Monate zu tun haben würde. Hatte ich mich übernommen? Ein Blick aus einem der Fenster über das Meer hinüber nach Dänemark, dessen Küste am Horizont zu erkennen war, ließ meine Zweifel, einen Fehler begangen zu haben, schnell schwinden. Die Ostsee lag so friedlich da. Selten gab es solche Tage wie diesen. Es wehte kaum ein Wind und das Wasser war spiegelglatt. Ich setzte meinen Vorsatz aus, gleich mit der Arbeit loszulegen. Ich musste einfach hinaus, um ein Stück am Strand spazieren zu gehen. Mich erfüllte sogleich ein Gefühl von einer solchen innerlichen Ruhe, wie ich sie nur am Meer erleben konnte. Am Seemannsgrab, das nur wenige Minuten von der Villa entfernt direkt am Strand lag, blieb ich wie schon so oft vorher stehen. Auf dem Grabstein war zu lesen, dass hier im Jahre 1850 ein Matrose begraben worden war, auf dessen Schiff die Cholera ausgebrochen und der daran gestorben war. Was mich immer wieder wunderte, wenn ich zu diesem Grab kam, war der gepflegte Zustand der Grabstätte. Auf der kleinen Fläche, die kaum größer als ein mal ein Meter und von einer Kette umgeben war, konnte man nie Unkraut sehen. Stets schien sich jemand um das kleine Grab zu kümmern, und in den Herbstmonaten brannte oft eine kleine Grablaterne inmitten der Blumen und Pflanzen. Wer pflegte ein so altes Grab? Warum tat derjenige das und warum war ich ihm noch nicht begegnet? Als ich wieder über das Meer blickte, kam in mir eine Ahnung auf, dass das Wasser, das doch so friedlich dalag, auch viel Unheil einfach nur überdeckt hatte. Dass unter der bleigrauen Wasseroberfläche eine Vergangenheit versteckt lag, die von Tod und Zerstörung, von Kriegen und Unglücken geprägt war.

      Schon bald sollte dieser unvermittelt düstere Gedanke mich einholen und zur Wahrheit werden.

      Die nächsten Wochen und Monate vergingen wie im Flug. Die zahlreichen Arbeiten ließen

      kaum Spaziergänge am Strand zu. Das Haus musste schnell so hergerichtet werden, dass wir

      einziehen konnten, denn wir sollten unser altes Haus bis Weihnachten geräumt haben. Manche Arbeiten gingen schnell von der Hand, andere Aufgaben zogen sich unerwartet hin, und immer wieder gab es böse Überraschungen, irgendwelche Schäden, die ich nicht erwartet hatte und die mich manchmal verzweifeln ließen. Sabine, die ich in dieser Zeit nur noch im grauen Arbeitsanzug sah, gelang es immer wieder mich aufzumuntern, indem sie gebetsmühlenhaft immer wiederholte: „Wir haben schon so viel geschafft. Nun sei