Bereits an der Einfahrt zu den Parkebenen kündigte sich dies an. Die Ampel signalisierte rot. Doch da Autos die Garage verließen, wollte keiner dem roten Licht Glauben schenken. Jeder schielte auf wenige Quadratmeter Platz, auf dem er sein geliebtes Vehikel, vom Sonnenlicht geschützt, unterstellen konnte. Dann ging es ab in die Konsumtempel. Durch die vor Wärme flimmernden Straßen, sich an die wälzenden Menscheninvasion anpassend. Wer konnte da schon den lockenden, bunten, ja manchmal sogar lächerlich wirkenden Preistäfelchen widerstehen. Die Leute kauften halt auch das, was sie nicht unbedingt benötigten – in der Hoffnung, es aber auch wirklich günstig und preiswert erbeutet zu haben. An den Jagdtrieb sich erinnernd, ein Relikt aus grauer Vorzeit.
Grabert sprintete die vier Treppen zur dritten Parkebene hoch, er wollte nicht am Fahrstuhl warten und war recht schnell an der stählernen Tür, die zum Parkraum führte.
Der Wagen war angenehm kühl im Fond. Ein 68er Käfer, nicht sehr auffällig im Aussehen, aber technisch absolut top, weil Grabert sich darum kümmerte. Der Boxer startete. Hinab ging es auf der sich im Kreis abwärts windenden Bahn zum Erdgeschoß. Die Spirale drehte sich noch einige Male. Der Andrang vor dem Parkhaus war nicht geringer geworden, eher noch aggressiver. Auch auf den Hauptstraßen in der Bremer Innenstadt herrschte nervöses Durcheinander. Ein ständiges Hupen, Aggressionen. Einige, auf der Stirn wütender Autofahrer angedeutete Kleintiere. Grund zum Ärgern, insbesondere für die Freunde der Ornithologie. Ein Gestank, der so fundamental war, dass das Einatmen schwer fiel und Brechreiz provozierte.
Bloß fort hier, aber Grabert gehörte in diesem Moment selbst dazu. Ein Entkommen war nicht möglich. Dann, der Blick auf die breitere Straße. Grün – und nichts wie ab. Grabert gab Gas, als er auf der Schnellstraße in Richtung Norden fuhr. Er beeilte sich nun doch, um endlich nach Hause zu kommen, denn das Wochenende war zu kurz. Er wollte keine Zeit verlieren und noch eine weitere Stunde davon im Getümmel verschwenden.
Ohnehin galt es, keine Minute von diesem Leben zu verschenken. Dieses wunderbare Leben im leicht angegrauten Schlaraffenland, dessen weißer Rieselzucker über dem Milchbrei, durch den sich alle menschlichen Maden fraßen, wenig an Süße verloren hatte. Hier und jetzt! Sich so richtig durch das Wirtschaftswunder durchfressen, dabei eine Welt gestalten, die sich allmählich in einen kapitalistisch stinkenden schwarzen Schlamm aus Fäkalien und Müll zu verwandeln drohte.
Grabert, der sich gerne als Post-68er bezeichnete, verlor sich erneut in grüblerischen Gedanken. Der vor der Industrialisierung durch nicht kanalisierte Straßen fließende Bach anfallender Abwässer war in den Jahren zu einem unterirdischen reißenden Fluss geworden. Ein sich ausdehnender Strom, der im Land der Verschwendung entsprang und im Delta eines vergifteten Meeres endete. Dort, wo Hass, Habgier, Konsumsucht und Unmenschlichkeit regierten. Grabert gefielen diese harten Worte. Sie trafen in das Schwarze. Seine persönliche Meinung.
Wussten die Leute wirklich nicht, wie weit die Auslöschung des blauen Planeten schon fortgeschritten war? Greenpeace, ja!
Grabert, der unverbesserliche Humanist, schob eine Musikkassette in den Schlitz des Autoradios. „Der blaue Planet“, seine Lieblingsgruppe aus der DDR. „Karat“.
Und er grübelte noch ein wenig weiter, nur so zum Spaß:
Waren die Menschen vom Wohlstand so verbogen, zerfressen und verblendet, dass über ihnen erst alles zusammenbrechen musste, damit sie endlich begriffen, dass ihr eigener Lebensraum bedroht war? Karat hatte dafür den richtigen Text gefunden. Grabert drehte die Stereoanlage auf.
Der blaue Planet war gefährdet! Konsumsucht, Plünderung, Egoismus, die Stationierung von Atom- und Neutronenbomben zerrten an ihm. Diese perfiden Waffen löschten genau das aus, was wirklich bedrohlich werden konnte: Den jungfräulichen unerfahrenen Homo Sapiens. Das einzigartige Wesen auf der Erde, dessen Intelligenz Unvergleichliches kreierte. Ein Wesen aus Fleisch und Blut, aus lebenden Zellen, unbeugsam, stahlhart, aggressiv, manchmal charakterschwach!
Die Skepsis, an eine schöne heile Welt zu glauben, wurde mit den feierlichen Worten Frieden, Freiheit, Gleichheit und Humanität getarnt. In Wirklichkeit war das Meiste von dem Geschwafel, das Politiker in ihren brennenden Reden von sich gaben, erstunken und erlogen. Demagogen redeten über das höchste Gut, den Frieden, der ihrer Meinung nach aber nur mit einem gehörigen Potenzial an Gewalt und Drohgebärden erhalten werden konnte. Unterstützt von Militärstrategen und deren Schergen, die bis an den Hals bewaffnet waren, ihren Truppen.
Überzeugte Pazifisten hockten in den Splittergräben der Fronten, während die Militaristen, fern von alldem, in der Linken eine Havanna balancierend – der Rechten mit einem Zirkel Kreise auf Karten zogen. Kreise, in denen sich Menschen feindselig gegenüberstanden. Individuen, die einander nicht kannten, die Waffen aufeinander richteten. Sie wussten nichts über das Schicksal der Familien, deren Väter sie in Kürze ins Jenseits verfrachten würden.
So kannte Grabert es vom II. Weltkrieg, natürlich nur aus Erzählungen der Älteren, die der Krieg traumatisiert hatte. Bomben, Granaten, zerrissene Leiber, zu Puppengröße verkohlte Leichen, Opfer von Brandbomben. Trümmer, überall Ruinen, obdachlose, schreiende, weinende, in wilder Verzweiflung umherlaufende Menschen, völlig runtergekommen, bis auf die Knochen abgemagert, frierend. Bei jedem Essen erzählte der Vater von diesem monströsen Krieg! Keiner hörte ihm irgendwann noch zu. Keiner von den Jungen wollte zu jedem Bissen, den er schluckte, auch noch diesen fürchterlichen Kriegsscheiß herunterwürgen.
So etwas soll und wird es nie wieder geben, beschworen in der Folge Politiker, Philosophen, Wissenschaftler und Schriftsteller, als die letzten Tage des Krieges vorüber waren. Das Wirtschaftswunder schaffte neue Herausforderungen. Ungeahnte Genüsse offenbarten sich. Wünsche, synthetische Begehrlichkeiten entstiegen kreativen Hirnen.
Trotz alledem, eine unerforschte, für den III. Weltkrieg vorgesehene Kriegsmaschinerie stand schon recht bald bereit.
Grabert ärgerte sich über seine finsteren Gedanken an diesem schönen Sommertag. Wiederholt schaute er in den letzten Wochen zurück auf die Zeit, als er noch als brennender Kriegsgegner auf die Straße gegangen war und sich von Mitgliedern der Hundertschaft – für eine gute Sache – die Fresse hatte polieren lassen. Als der Strahl eines Wasserwerfers ihm fast ein Auge aus dem Schädel gerissen hatte, gab er auf. Er wurde sozusagen ein „Öko“. Diese Rolle gefiel ihm schließlich besser. Ihm wurde in jenen Tagen, als er um sein Augenlicht bangen musste, ein Mensch, der sich seine eigene Welt zurechtschneiderte und nicht mehr bereit war, für seine politische Überzeugung zum Prügelknaben zu werden. Lieber Vollkornbrot backen, als sich von den Polypen zum Krüppel schlagen zu lassen.
Grabert parkte den Käfer vor dem Haus, warf die Wagentür in das Schloss und schlüpfte durch die Eingangstür.
Zuerst schaute er in den Briefkasten, bevor er bis ins 5. Obergeschoß fuhr, wo sich seine Zweizimmerwohnung befand.
Wie gewohnt fiel ihm eine Flut von Reklamewurfsendungen entgegen. Unter anderem ein Briefumschlag mit dem ureigenen Erkennungszeichen der Bundeswehr.
Nachsendung nach Westberlin – nein – dort bestand keine Wehrpflicht. Eine Besonderheit und Grauzone zwischen Westberlin und der BRD.
Was für Grabert in der Schulzeit die aalglatten blauen Briefe mit ihren bösen Geheimnissen waren, sollte für ihn an diesem Sommertag jener farbige Behördenbrief sein. Bedeutungsvoller als alle Post der vergangenen Monate und Jahre wog er schwer in seiner Hand. Vor seiner Zeit als Kriegsgegner diente er fünfzehn Monate lang recht und schlecht bei der Luftwaffe. Das war, wie er sich später kaum verzeihen wollte, sicher keine politisch motivierte Punktlandung. Er war damals kein erklärter Pazifist, aber auch nicht für den unbedingten Gebrauch von Waffen zu begeistern. Ein junger, unerfahrener Kerl halt, der seinen kritischen Geist in sich noch nicht aufgespürt hatte.
Was war in dem Brief? Es konnte nur eine, wie schon wiederholt, angekündigte Bereithaltung zu einer vorgesehenen Reserveübung sein. Nachdenklich wendete Grabert den Brief mehrmals in seiner Hand, schaute noch einmal auf die Rückseite.
„Bundeswehr, verdammt noch mal, soll ich mir das Wochenende von diesem Verein zerstören lassen?“
Eilig und entschlossen, den Inhalt