Farm! Die Fahrspuren verbreiterten sich zu einem richtigen Weg, dem man ansah, dass er regelmäßig ausgebessert worden war. Hoch aufragende Tannen und Lärchen, unterbrochen von Birken und Eschen lösten das Grasmeer ab und bildeten einen lichten Wald. Als sich Agnes schon zu fragen begann, wo sich denn wohl zwischen all den Bäumen eine Farm verstecken sollte, blieb der Wald zurück. Mitten in einer weiten Senke lag ein großer See. An seinem westlichen und nördlichen Ufer reichten die dicht bewaldeten Hügel bis direkt an das Wasser. Im Süden erstreckten sich saftige Weiden am Ufer entlang, umgeben von stabilen Holzzäunen. Und direkt vor ihr, an der Ostseite des Sees lag die Farm. Ein großes, aus dicken Baumstämmen errichtetes Wohnhaus mit einem hohen Giebel wurde links und rechts flankiert von zwei Wirtschaftsgebäuden. Beiderseits des Weges, der den Hang hinunter zur Farm führte, lagen kleine bestellte Felder. Agnes war überwältigt von dem Anblick. Alles wirkte ordentlich und gepflegt. Nirgends war auch nur eine Spur von Vernachlässigung zu sehen. Der Hengst schien sich ebenfalls zu freuen, wieder zuhause zu sein, denn ohne Agnes‘ Zutun verfiel er in einen fröhlichen Trab und strebte weit ausgreifend dem heimatlichen Stall entgegen. Schwungvoll fuhr sie in den Hof ein und brachte den Wagen direkt vor dem Farmhaus zum Stehen. Sie streckte die Arme in den Himmel und mit einem laut jauchzenden „Juhu!“ sprang sie vom Bock herunter. Sie hob ihren Rock und tanzte jubelnd und lachend um den Wagen herum. Das gewaltige Zugpferd warf erschrocken den Kopf in die Höhe und fing an nervös mit den mächtigen Hufen zu stampfen.
„Schschsch! Alles gut“, flüsterte sie, während sie nach dem Zaumzeug griff und beruhigend seinen Hals tätschelte. „Es tut mir leid, mein Freund! Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich bin einfach so unvorstellbar glücklich.“
Dann zog sie ihm die Zügel über den Kopf und wickelte sie um die Stange, die ganz offensichtlich genau zu diesem Zweck, quer vor der Veranda des Farmhauses angebracht war. Dann sah sie sich im Hof um. Den Brunnen fand sie zwischen dem Wohnhaus und dem linken Gebäude. Sie spannte den Hengst aus und führte ihn zum Trog. Der Schwengel war erstaunlich leichtgängig. Ein paar Pumpbewegungen und Wasser ergoss sich in den Trog. Agnes hielt ihren Mund unter den Hahn. Es war kühl und schmeckte herrlich. Als das Pferd getrunken hatte, führte sie es zu der umzäunten Weide am Südufer des Sees. Sie nahm dem Hengst das Geschirr ab und schickte ihn mit einem Klaps auf den Rücken in das Gatter. Das Gebäude auf der rechten Seite war die Scheune. Sie nahm die Deichsel des Wagens und schob ihn hinein. Als sie das Tor wieder mit dem Querbalken verriegelt hatte, konnte sie endlich an sich selbst denken. Mit der Reisetasche in der Hand stieg sie die beiden Stufen der Veranda hinauf. An der hölzernen Eingangstür waren weder Riegel noch Schloss angebracht. Der Schlüssel, den ihr der Friedensrichter übergeben hatte, musste also woanders passen. Agnes stellte die Tasche ab und ging um das Haus herum. Die Tür auf der linken Seite des Hauses war verriegelt und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie aufsperrte.
Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht. Sie ging von einem Zimmer zum anderen und öffnete die hölzernen Fensterläden. Sie waren allesamt von innen mit zwei stabilen Querlatten gesichert. Die Tür, die auf den Hof hinaus ging, befand sich in der Küche. Sie war zwei geteilt. Man konnte die obere Hälfte getrennt von der unteren aufmachen. Agnes entriegelte die Tür und schob den oberen Flügel auf. Sie stützte sich mit den Händen auf die untere Hälfte. Ihr Blick wanderte über den Hof, die anderen Gebäude, hinüber zur Koppel, auf der das Zugpferd genüsslich graste. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass das Alles jetzt ihr gehörte. Sie holte ihre Tasche ins Haus und inspizierte die restlichen Räume.
Auf der Rückseite des Hauses, der Küche gegenüber lag das Wohnzimmer. Zwei Fenster und eine große zweiflügelige Glastür führten auf die Veranda hinaus, die sich um das gesamte Gebäude zog. Sie öffnete die Tür. Die Strahlen der tiefstehenden Sonne tauchten das Zimmer in goldenes Licht. Ein mannshoher Kamin, gemauert aus groben Bruchsteinen, verhieß Wärme an kalten Tagen. Sie trat auf die Veranda, die von einem breiten Balkon überspannt war, der auf vier stabilen Balken ruhte. Eine zweisitzige hölzerne Schaukel lud zum Sitzen ein. Und zum Genießen des grandiosen Blicks über den See. Agnes ließ alle Türen und sämtliche Fenster offen, um den muffigen Geruch zu vertreiben. Dann stieg sie die Holztreppe nach oben.
Im ersten Stock, gab es vier kleine Kammern. Sie hatten jeweils nur einfache hölzerne Klappen in der Dachschräge, die man mit einem Stock hochstellen konnte. Das Schlafzimmer befand sie auf der dem See zugewandten Seite und nahm die komplette Breite des Giebels ein. Genau wie das darunter liegende Wohnzimmer hatte es zwei Fenster und eine Glastür, die auf den Balkon hinaus führte. Unter der rechten Dachschräge stand das breite Doppelbett und auf der linken Seite ein gusseisener Ofen, dessen Rohr durch die Schräge nach oben führte. Ein gewaltiger Kleiderschrank stand rechts neben der Zimmertür und eine Kommode mit Spiegel und Waschschüssel links. Die wenigen Kleider, die sie besaß, würden darin sicher noch gut Platz finden. Agnes stellte ihre Tasche auf das Bett und öffnete den Schrank um einzuräumen. Wie erwartet war er nicht leer. Es hingen jedoch nicht Hemden und Hosen ihres verstorbenen Ehemannes auf den Bügeln, sondern Frauenkleidung. Kleider, Röcke, Blusen, Jacken, Mäntel, Capes. Einfarbig, bunt. Dünne, feine Stoffe für den Sommer. Warmes für den Winter. Robuste Arbeitskleider, ebenso wie feine, elegante für Sonntags und zum Ausgehen. Sie schob die Kleiderbügel vorsichtig hin und her. Alle Sachen schienen neu und ungetragen zu sein. Man konnte die Stärke noch riechen. Fassungslos schüttelte Agnes den Kopf. Sie ging zur Kommode und zog die Schubladen auf. Nachthemden, Nachthauben, Unterröcke, Leibwäsche, Korsetts, Strümpfe in allen Variationen kamen zum Vorschein. Feinsäuberlich gefaltet und blütenweiß. Andreas Mundl hatte tatsächlich eine komplette Aussteuer für seine zukünftige Ehefrau besorgt, obwohl er keine Ahnung gehabt hatte, welche Kleidergröße sie haben würde. Er musste ein ganz besonderer Mann gewesen sein. Beinahe tat es ihr leid, dass sie ihn nicht kennengelernt hatte. Aber nur beinahe! Sie besaß jetzt alles, wovon sie je geträumt hatte. Aber das Wichtigste war ihre Freiheit. Es gab niemanden, der sie herum kommandierte und ihr das Leben zur Hölle machte. Sie schwamm zwar nicht gerade im Geld, aber von den einhundert Dollar, die ihr Andreas geschickt hatte, war immerhin noch die Hälfte übrig. Und die Farm, würde ihr Alles liefern, was sie zum Leben brauchte.
Vergnügt vor sich hin trällernd räumte sie ihre mitgebrachte Kleidung in die unterste Schublade. Da drang ein vertrautes Geräusch an ihr Ohr. Sie sprang auf und rannte auf den Balkon hinaus. Tatsächlich! Aus dem Gebäude auf der linken Seite war aufgeregtes Gackern zu hören. Hühner! Sie sprang freudig die Treppe hinunter und eilte über den Hof. Das Gebäude linkerhand war der Stall. Es gab Boxen für mindestens vier Pferde, einen Schweinekoben und einen Bereich, in dem sonst vermutlich Kühe untergebracht waren. Das Gackern kam aus einem hölzernen Verschlag in der Ecke. Agnes öffnete das schmale Türchen und schaute hinein. Zehn Hühner und ein Hahn scharrten in der Streu und pickten eifrig Körner zwischen den Halmen heraus. In der Außenwand befand sich eine kleine Luke, über die die Hühner ins Freie gelassen werden konnten. Natürlich war sie jetzt fest verschlossen. Jemand hatte die Hühner wohlweislich eingesperrt, sonst hätte sie inzwischen alle der Fuchs geholt. Wahrscheinlich der Nachbar, dieser Tiny Duroc, bei dem auch Andy Mundls restliches Vieh Unterschlupf gefunden hatte. Morgen zum Frühstück würde sie sich auf jeden Fall ein Spiegelei gönnen. Wenn nicht sogar zwei.
Sie ging zur Pferdekoppel hinüber und öffnete das Gatter. Der Hengst trabte an ihr vorbei schnurstracks in den Stall und suchte sich seine Box. Agnes verriegelte die Stalltür. Jetzt war es höchste Zeit für sich selbst etwas zu essen zu suchen. Seit dem Frühstück hatte sie außer den zwei Gläsern Whiskey nichts gehabt. Ihr Magen knurrte ganz gewaltig.
Neben der Küche fand sie die Speisekammer. Nicht einmal beim Klausner-Bauer hatte es eine solche Menge an Vorräten gegeben. Sie kam sich vor, wie im Schlaraffenland. Zum Glück lagen noch Holzscheite in der Kiste neben dem großen Küchenherd. Bald schon kochten Kartoffeln im Topf und Speck brutzelte in der Eisenpfanne. Es war ein wahrer Genuss an ihrem eigenen Tisch zu sitzen, von ihrem eigenen Teller zu essen und sich dabei alle Zeit der Welt zu lassen, während im Schaff an der Seite ihres eigenen Herdes das Wasser aus ihrem eigenen Brunnen heiß wurde.
Nach dem Spülen verriegelte sie auch die obere Hälfte der Küchentür und schloss die Fensterläden. Auf einem Wandbrett im Wohnzimmer fand sie ein paar Flaschen. Der Reihe nach zog sie die Korken heraus und schnüffelte daran. Whiskey, Gin und Apfel erkannte