Anna-Irene Spindler

Die Frau vom Schwarzen See


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Oder sagen dir nicht andere, was du zu tun hast? Leute wie Rosaria Tonelli oder die Chinesen in der Wäscherei oder die geldgierige Hauswirtin?“

      Er streckte Agnes die Hand entgegen. „Gute Nacht. Schlaf gut! Und vielleicht denkst du ja noch einmal über diese Möglichkeit nach, aus dem Elend hier heraus zu kommen. Du weißt, wo du mich finden kannst.“

      Agnes drehte sich auf die Seite. Die dünne löchrige Decke rutschte von ihrer Schulter. Obwohl sie hundemüde ins Bett gefallen war, wälzte sie sich schon seit Stunden hin und her. Eigentlich konnte sie es sich nicht erlauben, wach zu liegen. Nicht mehr lange und sie musste wieder aufstehen. Nur weil sie normalerweise schlief wie ein Murmeltier, hielt sie die Strapazen der Arbeit überhaupt durch. Aber heute wollte sich der Schlaf einfach nicht einstellen. Mit einem Seufzer stand sie auf, warf sich die Zudecke über die Schultern und trat an das kleine Fenster. Es war so schmutzig, dass man kaum hindurch sehen konnte. Aber Wasser war zu kostbar, um es zum Putzen zu verschwenden. Außerdem gab es draußen nichts zu sehen, außer der engen, stinkenden, verdreckten Gasse, die zwischen den Häusern zum Entsorgen der Abfälle diente. Nur wenn sie sich ganz weit hinausbeugte konnte sie oben einen schmalen Streifen Himmel erkennen.

      Agnes seufzte. Gegen ihren Willen kreisten ihre Gedanken immer noch um das, was ihr Father Gregory vorgeschlagen hatte. Weder Mariele noch sie selbst hatten jemals vom Heiraten geredet. Das war in ihren Zukunftsplänen nicht vorgekommen. Wenn sie davon geträumt hatten, ihr Glück zu machen, waren sie immer davon ausgegangen, es aus eigener Kraft zu schaffen. Nie hatten Männer in ihren Plänen eine Rolle gespielt. Zu schlecht waren die Erfahrungen, die sie gemacht hatten. Der Klausner-Bauer und Marieles Vater waren weiß Gott Ehemänner der übelsten Sorte gewesen. Die Vorstellung an so einen Mann gebunden und ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, ließ Agnes erschauern. Natürlich hatte der Priester im fernen Kanada diesen Andreas Mundl in leuchtenden Farben geschildert. Aber was wusste ein unverheirateter katholischer Priester schon über die Ehe!

      Was Father Gregory am Ende gesagt hatte, wollte und wollte ihr jedoch nicht aus dem Kopf gehen.

      ‚Kannst du denn wirklich selbst über dein Leben bestimmen? Oder sagen dir nicht andere, was du zu tun hast? Leute wie Rosaria Tonelli oder die Chinesen in der Wäscherei oder die geldgierige Hauswirtin?‘

      Leider hatte der Father damit vollkommen recht. Im Vergleich zu ihrem alten Leben im Böhmerwald hatte sich nichts geändert. Außer, dass sie noch mehr arbeiten musste und weniger zu essen hatte. Sie dachte an die Männer, die sie im Bordell ständig betatschten und an die Miete, die sie nicht bezahlen konnte. Agnes lehnte die Stirn an die gesprungene Fensterscheibe und schloss die Augen.

      ‚Es gibt eine Möglichkeit, wie du auf einen Schlag alle deine Sorgen los wirst und dieses elende Dasein hinter dir lassen kannst.‘

      Wieder schlichen sich Father Gregorys Worte in ihre Gedanken. Was, wenn er recht hatte? Wenn eine Eheschließung mit diesem Farmer tatsächlich das Ende ihrer Sorgen bedeuten würde? Wenn sie wirklich aus dieser Hölle hier heraus käme? Genau genommen konnte nichts schlimmer sein, als das Leben hier in Five Points.

      Sie hatte nur eine vage Vorstellung wie Amerika außerhalb Manhattans aussah. Es musste unfassbar riesig sein, das wusste sie. Vom Hörensagen kannte sie Namen wie Philadelphia, Washington, Boston oder Chicago. Aber sie hätte nicht sagen können in welcher Himmelsrichtung diese Städte lagen. Ab und zu kamen Männer ins Hotel Rosaria, die vom Wilden Westen und Indianern erzählten. Jetzt bedauerte sie, dass sie sich nie um diese Prahlereien der Trunkenbolde gekümmert und genauer zugehört hatte.

      Ruhelos begann sie in der kleinen Kammer hin und her zu wandern. Ach, wenn doch bloß Mariele noch da wäre! Sie hätte Rat gewusst! Sie hätte gewusst, was das Richtige wäre! Abrupt blieb Agnes stehen. Natürlich! Mariele hatte ihr ja schon längst gesagt, was sie tun sollte.

      Hatte ihr nicht die Sterbende sogar ein Versprechen abgenommen?

      ‚Du musst das Glück festhalten wenn es dir begegnet‘!

      Mit einem Schlag fielen alle Sorgen von Agnes ab und eine unsagbare Erleichterung erfüllte sie. Jetzt wusste sie, was sie tun musste! Sie würde ihr Herz in beide Hände nehmen und den Sprung ins eiskalte Wasser wagen. Gleich morgen wollte sie auf dem Weg von der Wäscherei zum Bordell bei Father Gregory vorbei gehen. Sie würde ihm sagen, dass sie den unbekannten Mann heiraten wollte, der sich so verzweifelt eine Ehefrau aus dem Böhmerwald wünschte. Dankbar dachte sie an Mariele, die ihr selbst aus dem Grab heraus noch zur Seite stand.

      „Ich werde für dich mit glücklich sein“, flüsterte sie in die Dunkelheit hinein.

      Was auf diesen Entschluss folgte, war ein Strudel von Ereignissen, der sich schneller und schneller drehte und Agnes einfach mit riss.

      Father Gregory hatte ihr nicht erzählt, dass ihm das Dokument über die Eheschließung bereits vorlag. Sein Freund Father Timothy Walsh hatte ihm das von Mr Mundl unterschriebene Papier in seinem Brief mitgeschickt. Als sie den Priester besuchte um ihm ihre Zustimmung zur Eheschließung mit dem unbekannten Farmer mitzuteilen, holte er das Dokument aus der Schublade.

      Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie umgehend das Ehegelübde ablegen und es durch ihre Unterschrift bekräftigen müssen. Das ging ihr dann aber doch zu schnell. So trafen sie sich drei Tage später. Es war Sonntagabend und das Bordell hatte geschlossen. Gemeinsam lasen sie das Dokument durch. Father Gregory erklärte ihr die Stellen, die sie nicht verstand.

      Mit ihrer Unterschrift, so stand auf dem Papier, würde sie die rechtmäßige Ehefrau von Andreas Mundl werden. Er war 32 Jahre alt und gebürtig aus dem böhmischen Ort Spitzberg. Seine Farm lag sieben Meilen außerhalb des Ortes Cudeca in Kanada. Zur amerikanischen Grenze waren es dreißig Meilen. Mit ihrer Unterschrift würde sie seine Frau und hätte damit keine Probleme über die Grenze zu kommen. Der Mann schien wirklich verzweifelt zu sein. Er hatte in dem Dokument bereits festgelegt, dass seine Ehefrau Miteigentümerin der Farm werden sollte und nach seinem Tod Alleinerbin. Das hatte er unterschrieben, ohne zu wissen, was seine Zukünftige für eine Frau sein würde. An Vertrauen mangelte es ihm ganz offensichtlich nicht.

      Als Agnes die Feder in die Tinte tauchte, zitterte ihre Hand so sehr, dass nicht nur ihr Name das Dokument zierte, sondern auch ein dicker Tintenklecks. Father Gregory unterschrieb als Zeuge ebenfalls und bekräftigte die beiden Unterschriften schließlich noch mit dem Siegel der St. Anthony Church. Anschließend gingen sie in die Kirche. Vor dem Altar stehend, versprach Agnes Treue und Gehorsam bis zum Tod. Einem Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Father Gregory erklärte sie zu Mann und Frau und Agnes Pangerl gab es nicht mehr. Nun war sie Agnes Mundl. Eine Anweisung über einhundert Dollar, lautend auf Mrs Mundl, hatte ihr Ehemann ebenfalls mitgeschickt. Die Anweisung konnte bei der Wells Fargo Bank eingelöst werden. Das Geld sollte sie für ‚ihre Auslagen‘ verwenden. So hatte Andreas Mundl geschrieben.

      Am nächsten Tag kündigte sie morgens ihre Arbeit in der Wäscherei. Die einzige Reaktion des Besitzers war ein leichtes Kopfnicken. Es war kein Problem sie zu ersetzen. Draußen vor seiner Tür standen Arbeit suchende Frauen Schlange. Danach ging sie zur Bank um die Anweisung einzulösen. Obwohl Father Gregory sie begleitete und sie die gesiegelte Heiratsurkunde dabei hatte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, als sie den Auszahlungszettel mit Mrs Agnes Mundl unterschrieb. Aber es gab keinerlei Probleme. Ihre Hand zitterte, als sie die Scheine in Empfang nahm. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Einhundert Dollar! Ein Vermögen! Und es gehörte ihr!

      Ihr nächster Weg führte sie zum gerade erst eröffneten Grand Central Depot. Dort starteten die Züge der New York Central Railroad, die dem legendären Cornelius Vanderbilt gehörte. Selbst Agnes hatte schon von dem unermesslich reichen Eisenbahn Tycoon gehört, dessen ebenso rücksichtslose wie erfolgreiche Geschäftsgebaren alle kleinen Gauner in Five Points nachahmten. Am Fahrkartenschalter erlebte Agnes den ersten herben Rückschlag auf ihrem Weg in ein neues Leben. Sie konnte nur ein Billet bis Chicago erwerben. Weiter ging die Bahnlinie noch nicht. Allerdings gab es die Möglichkeit von Chicago aus mit der Fähre über den Michigansee nach Milwaukee zu fahren. Der Mann am Schalter gab ihr den Rat, für die Weiterreise ab Milwaukee bei Wells Fargo nachzufragen. Die Gesellschaft unterhielt