Michael Hackethal

Stille Herzen


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      „Was sagtest du von einem Schnitt?“ fragte Koller.

      Berger gab ihm einen Wink, sie knieten sich neben die Tote.

      „Dr. Schengen sagte was von ,Tod durch induzierten Herzstillstand‘“, sagte er.

      Er wies auf einen etwa fünfzehn Zentimeter langen Schnitt links unter dem Brustkorb. Mit einem Kugelschreiber hob er das zerteilte Kleid vorsichtig an, so dass Koller die darunter liegende Haut sehen konnte. Sie klaffte ein wenig auseinander. Ein Schnitt war offenbar durch das Kleid hindurch ausgeführt worden, mit einer sehr scharfen Klinge. Sie hatte Haut und Fleisch unterhalb der Rippen glatt durchtrennt.

      „Der Schnitt ist gerade so groß, dass —“

      Bergers Stimme klang heiser, gepresst, brach dann ganz ab. Koller sah ihn erstaunt an, während Berger sich räusperte und mit rauer Stimme weitersprach.

      „— dass eine Hand hindurch passt.“

      Ein eiserner Riegel wurde zurückgeschoben. Knarzend öffnete sich die Tür, Sonnenlicht flutete in die Kammer und blendete die Frau. Erschrocken wandte sie den Kopf ab und legte einen Arm vor die Augen. Sie hockte auf dem Boden, nackt.

      Schritte knirschten. Ein Mann legte ihr ein Hundehalsband um, hakte eine Lederleine ein und zog sie wortlos daran hoch. Dann zerrte er sie ins Freie.

      Die Frau konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ihre Schenkel waren von Exkrementen, Staub und Blut verdreckt, der Rücken von Wunden verkrustet, ebenso Arme und Hände. Ihr Alter war kaum zu erkennen, das Gesicht war zu sehr geschwollen, aber sie schien recht jung zu sein.

      Mit einem scharfen Ruck brachte der Mann sie zum Stehen. Schwankend blickte sie sich um.

      Sie war umringt von etwa dreißig Frauen, die sie nur schemenhaft sehen konnte. Aber sie wusste, wer da stand, wenn sie auch nicht die Namen kannte. Alle waren zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, drängten sich ängstlich aneinander. Keine sagte ein Wort.

      „Seht genau hin!“ brüllte der Mann. „Das passiert, wenn ihr versucht zu fliehen!“

      Er schlug sie mit der Hundeleine. Sie schrie auf. Die anderen Frauen rissen die Augen auf, hielten die Hand vor den Mund.

      „Hinsehen sollt ihr!“

      Wieder schlug er die Frau. Sie hielt die Hände über ihren Kopf, doch sie war völlig schutzlos. Er gab ihr einen Stoß, sie fiel hin. Dann öffnete er seine Hose und urinierte auf sie.

      „Überlegt es euch gut. Ihr habt keine Chance.”

      Er ließ die Leine fallen.

      „Heute Abend will ich Halsband und Leine sauber wiederhaben. Und du —“ er stieß die Frau mit dem Fuß an, „— wasch dich, du Schlampe, du siehst zum Kotzen aus.“

      Als er ging, war selbst der Sonne das Lachen vergangen.

      „Lass uns von hier weggehen, Vera“, sagte der junge Mann.

      Er hielt die Hand des Mädchens, das ihm in dem kleinen Café gegenüber saß.

      „Hier in Moldawien ist es so schwer, Arbeit zu finden. Aber wenn wir erst im Westen sind –“

      „Glaubst du wirklich?“

      „Schau dich doch um! Es kann nur besser werden.“

      „Aber meine armen Eltern, Alex!“

      „In Österreich wirst du als Kellnerin mehr Geld verdienen, als du hier jemals könntest. Dann kannst du ihnen so viel schicken, dass sie gut versorgt sind.“

      „Das stimmt.“

      Sie war neunzehn und liebte ihren starken Alex. Seit drei Wochen waren sie zusammen. Auch ihre Eltern hatten ihn schon kennengelernt. Er hatte mit seinem Handy sogar Fotos von ihnen gemacht, weil er sie so gern mochte.

      „Dann lass uns bald fahren. Hast du deinen Pass?“

      „Ja, aber ich habe Angst, Alex. Was ist, wenn wir uns streiten oder nicht mehr vertragen? Wie soll ich dann nach Hause kommen?“

      Er küsste ihre Hand.

      „Vertrau mir, Vera. Du hast doch schon angefangen, Deutsch zu lernen.“

      Sie lächelte. Im Westen würde alles besser werden, sie würde Geld verdienen und ihre Eltern unterstützen können, die von ihrer lächerlich niedrigen Rente nicht leben konnten. Und es war so schön, verliebt zu sein.

      „Was hast du gesagt?“ fragte Koller ungläubig.

      „Es ist mehr als nur eine Freundschaft, wir haben eine Beziehung“, sagte sie und sah ihm in die Augen. „Und ich bin sehr glücklich.“

      Jenna sprach ganz ruhig. Falls sie nervös sein sollte, so war nicht viel davon zu bemerken.

      Koller versuchte zu begreifen, was der Satz bedeuten würde, den er soeben gehört hatte. Vergeblich.

      Jenna hielt genau wie er eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand, sie standen vor dem neuen Kaffeeautomaten in der Küche. Es war Samstagnachmittag, er war nach dem Besuch des Tatorts wieder zuhause.

      „Wie lange geht das jetzt schon?“ fragte er heiser.

      „Seit letzter Woche. Du weißt doch, ich hatte angerufen, dass ich in Köln bleiben und bei Rolf übernachten würde, weil es schon so spät war.“

      „Ja, aber ich dachte nicht, dass du ... dass ihr ...“

      „Ich wollte sicher sein, dass es nichts Zufälliges ist“, sagte sie. „Er sagt, er liebt mich, und ich liebe ihn.“

      Sie sah ihn unentwegt an. Er liebte seine Frau, und doch war es seit Jahren nicht einfach gewesen. Seit einem Jahr hatten sie immer weniger miteinander gesprochen und zuletzt kaum noch miteinander geschlafen.

      Verlegen standen sie sich gegenüber und schwiegen. Schließlich gab sie sich einen Ruck und sagte, sie wolle erstmal duschen gehen.

      Er blieb in der Küche, trank von dem heißen Kaffee und versuchte zu sortieren, was da in ihm vorging. Es wollte ihm nicht gelingen.

      Er hörte das Wasser in der Dusche rauschen, zog sich an und irrte hinaus in den Sommertag, dessen Heiterkeit ihn frieren ließ.

      Der kleine, stämmige Mann seufzte. Er schulterte seine Reisetasche und trat aus dem Gasthaus hinaus in das Licht der Maisonne. Am Rande der staubigen Straße blieb er neben seinem weißen Mercedes-Kleinbus stehen. Er legte die Hand an den Schirm seiner Kappe und schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Dunst, der die Straße am Horizont verschluckte.

      Bald würde auch er mit seinem Bus in dieser Ferne verschwinden.

      Er öffnete die Beifahrertür, warf seine Tasche hinein und ging ein letztes Mal um den Wagen herum. Sorgfältig kontrollierte er Reifen und Bremsen.

      In Kirgisien fahren Hunderte dieser alten Kleinbusse, Marshrutki genannt. Lokman hatte die Marshrutka vor ein paar Jahren gekauft, um sein Geld damit zu verdienen. Eine Zeit lang war er von der Hauptstadt Bishkek aus Überlandstrecken gefahren, später auch nach Almaty und Taras in Kasachstan und nach Taschkent in Usbekistan. Das waren überschaubare Strecken von einigen Hundert Kilometern gewesen.

      Seit er für die Organisation arbeitete, fuhr er von Zentralasien bis an den Rand Europas. Sie hatte ihm vor seiner ersten Fahrt das gesamte Auto überholen und sogar neue Reifen aufziehen lassen. Der Wagen war mehrere Tage in der Werkstatt gewesen, ohne dass er dafür bezahlen musste.

      Er öffnete die rechte Hecktüre. Im Gepäckraum hinter der Sitzbank stand ein großer Wasserkanister mit Zapfhahn auf zwei Reserverädern, festgeschnallt mit Gurten. Daneben lagen Decken und ein Karton mit Zeitschriften gegen die Langeweile.

      Er nahm seine Militärkappe ab und fuhr sich mit der Hand durch das kurze, schwarz glänzende Haar. Bald würde es losgehen.

      „Lokman!“ Ein Mann stand in der Tür und winkte. „Noch einen Tee?“

      Er