Michael Hackethal

Stille Herzen


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Kilometer vor uns. Da brauchen wir zehn Tage, wenn alles gut geht. Am besten schlafen Sie einfach.“

      Er machte einen freundlichen Eindruck. Es würde ihnen gut gehen mit ihm, da waren die Frauen sicher.

      Koller kam ein paar Mal zu mir, um diesen Fall zu besprechen. Hat etwas gedauert, bevor wir kapierten, wie der Hase lief. Ist übrigens gar nicht so selten, dass nur ein Zufall zur Lösung eines Falles führt. Aber gibt es überhaupt Zufall?

      Ich glaube auch nach all den verrückten Jahren als Polizeibeamter immer noch an einen Gott. Ich kann nicht anders. Ich verstehe immer weniger, was er von uns will, aber ich glaube an ihn. Daran ändern auch die Morde nichts, die täglich in der Welt geschehen, die Verbrechen mit all der Trauer und dem Elend, die sie auslösen.

      Sie machen es nur schwieriger, an ihn zu glauben. Das schon.

      Als Koller nach Hause kam, lag ein Zettel auf dem Küchentisch. „Bin in Köln.” Es war ihre Handschrift.

      Seine Beine sackten weg, er fiel schwer in den Stuhl. Das war es also. Sie waren noch verheiratet, aber sie war nicht mehr seine Frau.

      Zu lange, zu oft hatte er sie warten lassen, sitzen lassen, weil er weg musste. Es waren wohl doch zu viele nächtliche Einsätze gewesen, zu viele Abende und Wochenenden, die er für Ermittlungen oder Judo, Karate und Jogging geopfert hatte. Aber irgendwie musste er den Druck aus seinem Job doch verarbeiten.

      Er stellte sich vor, wie sie mit dem andern Hand in Hand durch die Stadt schlenderte, wie sie gemeinsam Eis essen gingen, lachten. Er war für Jenna völlig unwichtig geworden. Überflüssig.

      Er schleuderte die Notiz zu Boden und stürmte aus der Wohnung.

      „Iwana, Anruf für dich!“

      „Wer ist es, Mamutschka?“

      Iwana schaute neugierig aus ihrem winzigen Zimmer. Sie war zweiundzwanzig, Studentin der Literaturwissenschaften in Odessa.

      „Ich habe den Namen nicht verstanden. Beeil dich!“

      Iwana lief den kurzen Flur entlang in die Wohnküche.

      „Ja bitte? Wer spricht?“

      Eine heisere Frauenstimme am anderen Ende.

      „Ich bin’s, Eva.“

      „Eva! Wie schön, deine Stimme zu hören. Meine Güte, ich habe so lange nichts von dir gehört!“ Iwanas freie Hand fuhr aufgeregt durch die Luft. „Wo bist du? Wie geht es dir?“

      „Danke, es geht mir ganz ausgezeichnet, Iwana, hörst du? Ganz ausgezeichnet!“

      Iwana erstarrte.

      „Oh, ja, mein Gott. Ja, Eva ...“

      „Ich muss Schluss machen, Iwana. Mach’s gut, ich melde mich wieder, sobald ich kann.”

      Dann war die Leitung tot.

      Iwana blickte ungläubig auf den schweren Hörer in ihrer Hand. Sie begann zu zittern.

      Mit einem Knall fiel der Hörer auf den Boden.

      „Mamutschkaaa!“

      Sie wusste, Eva brauchte Hilfe. Dringend.

      „Der Anleger beim Rheinpavillon gehört der Schifffahrtsgesellschaft und wird im Sommer ständig genutzt. Die Schiffe legen täglich dort an, um halb neun abends ist Feierabend. Allerdings liegt bis zu einer Stunde zwischen den Anlegemanövern, so dass genügend Zeit bleibt, auch mal rein zu klettern. Die Klappe ist nicht abgeschlossen.“

      Aylín Karamanoglu, Kollers Assistentin, legte ihren Notizblock hin und wartete auf eine Reaktion der Kollegen.

      Koller nickte, Berger machte sich Notizen. Eric Roleder, ihr junger Kollege, sah Aylín an.

      „Am Freitag Nachmittag war gutes Wetter und jede Menge Volk unterwegs. Wer um die Zeit auf so einen Anleger geht, wird doch von all den Leuten am Ufer gesehen“, sagte er. „Nicht gerade schlau, wenn man einen Mord begehen will.“

      „Wir wissen nicht, ob es sich um einen geplanten Mord oder um Totschlag handelt“, gab Berger zu bedenken.

      „Glaubst du im Ernst, so was passiert im Affekt?“ fragte Roleder.

      „Eher nicht“, erwiderte Berger, „ich will es nur nicht ausschließen.“

      „Und die Leute gehen ja meistens vorbei“, sagte Aylín. „Selbst wenn die jemanden auf dem Schiffsanleger sehen sollten, fällt der nicht wirklich auf.“

      „Und sollte das Paar in den Ponton abtauchen – wen kümmert’s?“ meinte Berger. „Wenn eine halbe Stunde später nur einer wieder rauskommt, ist niemand da, der Verdacht schöpfen könnte.“

      „Außer“, sagte Koller, „dieser Niemand sitzt in der Nähe und hat alle Zeit der Welt.“

      „Wie unser Penner“, sagte Berger und warf seinen Bleistift auf den Schreibtisch.

      „Wie unser Penner“, sagte Koller mit einem Nicken. „Hat jemand seinen Namen ausfindig gemacht?“

      „Noch nicht, aber ich kenne jemanden, der ihn vielleicht kennt“, sagte Roleder. „Der Schiffsanleger befindet sich in seinem Revier, ich kümmere mich darum.“

      „Revier?“ fragte Berger und zog eine Augenbraue hoch.

      „Naja, er ist auch obdachlos. Ich kenne ihn, weil ich als Kind in seiner Nähe gewohnt habe, als er noch im normalen Leben war.“

      „Versuch ihn aufzutreiben und eine Beschreibung zu bekommen“, sagte Koller.

      Er rieb sich die Augen. Hundemüde war er, hatte die halbe Nacht wach gelegen.

      „Wenn wir Pech haben, war er gar nicht dabei“, sagte Berger.

      Sie war auch nicht da, dachte Koller. Die ganze Nacht nicht.

      „Abwarten“, sagte Roleder.

      Was denn? dachte Koller. Ob sie wiederkommt?

      „Sonst noch was?“ fragte er.

      „Das Messer muss äußerst scharf gewesen sein, möglicherweise ein Skalpell. Sagt jedenfalls der Obduktionsbericht“, sagte Berger.

      „Ein Skalpell kann ich mir in jeder besseren Apotheke besorgen“, stöhnte Roleder, „das hilft uns auch nicht weiter.“

      „Hat jemand von euch schon mal von so was gehört?“ fragte Koller.

      Alle hatten den Bericht gelesen.

      „Irgendwie lässt das bei mir was klingeln, ganz weit im Hinterkopf“, sagte Aylín zögernd, „ich kann aber jetzt nicht mehr dazu sagen. Lass mir Zeit, ich werde dranbleiben.“

      „Gib mir sofort Bescheid“, sagte Koller. „Wer so was macht, sollte keinen Tag länger da draußen herumlaufen.“

      „Ganz ausgezeichnet!“ rief der Mann mit dem gefönten Haar. „Wie Sie das wieder hinbekommen haben!“

      Er hielt ein dünnes Brett aus Zypressenholz in der Hand, etwa achtzehn mal vierundzwanzig Zentimeter groß. Von hinten war es nur ein altes Holzstück. Doch was er sah, ließ ihn vor Begeisterung strahlen.

      „Es wird mir nicht leicht fallen, dieses Meisterstück abzugeben“, sagte er.

      Dr. Horst Hagen war kaum größer als die Frau, die neben ihm stand. In diesem Moment war er von dem Kunstwerk in seinen manikürten Händen vollständig in Beschlag genommen.

      Was er sah, war eine Abbildung von Maria mit dem Kinde, in blassen Farben vor goldenem Hintergrund. Das Blattgold war fast durchscheinend, doch eben dadurch von einer unbeschreiblichen Anmut, die den Ausdruck der Gesichter noch verstärkte.

      „Ich danke Ihnen, Marja“, sagte er nach einer Weile mit bewegter Stimme. „Das ist mit Abstand die schönste Ikone, die ich je in Händen halten durfte.“

      Er stellte sie andächtig