Michael Hackethal

Stille Herzen


Скачать книгу

Kirgisien. Dennoch schaute er auf seine goldene chinesische Armbanduhr. Einfach weil sie neu war und so schön in der Sonne funkelte. Sie zeigte sogar das Datum an. 20. Mai.

      Er warf einen Blick in den dreißig Jahre alten Mercedes-Bus. Dieses Auto war sein ganzes Kapital.

      Lokman seufzte wieder. Er war seit vierzehn Jahren Fahrer und hatte fast alles erlebt, was es gab. Er kannte alle Schleichwege von Ulan Bator bis Istanbul und Hunderte von Leuten, die ihm für kleines Geld eine große Hilfe waren. Seine Erfahrung und Kontakte zahlten sich aus. Aber etwas hatte sich verändert. Nein, er hatte sich verändert.

      Das wird meine letzte Tour werden, dachte er. Es ist Zeit für etwas Neues.

      Zwölf Passagiere hatte man ihm angekündigt für die Tour. Zwölf war eine gute Zahl, seine Lieblingszahl. Das würde Glück bringen. Und genug Bakschisch für alle, die unterwegs wegschauen sollten.

      Am Sonntagvormittag fuhr Koller ins Büro. In seinem Bauch glühte eine Kugel, die sich entzündet hatte, kurz nachdem er die Augen geöffnet hatte. Jenna. Verdammt. Das konnte doch nicht wahr sein. Er hatte ungläubig auf die schlafende Frau gestarrt, die neben ihm im Bett lag. Seit Jahren wachte er neben ihr auf, kannte jedes Fältchen, jede Strähne an ihr, wusste ohne hinzuschauen, wie ihre Hand auf dem Kissen lag. Aber heute morgen war sie bei aller Vertrautheit wie eine Fremde gewesen.

      Er hatte sich ohne Frühstück auf den Weg gemacht. Ihm war, als wäre seine Haut ein zu kleiner Anzug aus Gummi, der ihm den gesamten Körper zusammenzog. Er hatte eine Weile gebraucht, bevor er die Kraft fand, den Zündschlüssel zu drehen.

      „Die vorläufige Gewebeuntersuchung lässt annehmen, dass die Frau gestern zwischen siebzehn und neunzehn Uhr gestorben ist. Sie muss noch gelebt haben, als der Schnitt durchgeführt wurde“, sagte eine weibliche Stimme.

      Dr. Klara Schengen, die den Leichnam untersucht hatte, war durch die offene Tür hereingekommen. Sie warf ihren Bericht auf Bergers Schreibtisch.

      „Ob sie bei Bewusstsein war, kann ich nicht sagen.“ Sie stand neben den Schreibtischen und blickte aus dem Fenster in den blauen Himmel. „Und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen.”

      Koller nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Pott.

      „Wer lässt sich so was einfallen, der nicht völlig krank ist?“ fragte er. „Oder haben wir hier einen Ritualmord, vielleicht so eine Art Voodoo?“

      „Bis auf den Schnitt, die Platzwunde am Hinterkopf und eine Prellung am linken Ellbogen waren keine Verletzungen zu finden.“

      Trotz des nüchternen Tonfalls war Bewegung in Dr. Schengens Stimme.

      „Die Kopfwunde kann von einem stumpfen Gegenstand stammen oder vom Aufprall auf den Stahlboden, da bin ich noch nicht sicher. Und ich nehme an, sie ist genau dort getötet worden, wo sie gefunden wurde.“

      „Da war noch etwas“, sagte Dr. Schengen.

      Die Männer blickten auf.

      „Die Tote war schwanger, in der zehnten Woche.”

      Keiner sagte ein Wort.

      Berger stellte seine Tasse ab und blätterte durch den Bericht. Kurz darauf klappte er die Akte zu. Er stand auf und stellte sich neben Dr. Schengen vor das weit geöffnete Fenster. Er holte tief Luft.

      „Manchmal denke ich, man kann den Wahnsinn nicht mehr steigern, den wir hier jeden Tag haben. Körperverletzung, Totschlag, Mord. Und dann passiert doch wieder was, das bekloppter ist als alles, was ich je erlebt habe.“

      Dr. Schengen schloss die Augen.

      „Das waren die ersten Ergebnisse“, sagte sie und wandte sich zum Gehen. „Morgen mehr.”

      Koller nickte stumm zum Abschied, dann stellte er mit einem Knall seine Tasse ab.

      „Also, was haben wir: eine Frau, die auf sehr ,eigenwillige‘ Weise umgebracht wurde, einen ungewöhnlichen Fundort der Leiche, den Tatzeitpunkt Nachmittag oder früher Abend am Freitag. Irgendwelche Ideen?“

      Schweigen.

      „Wir sollten morgen weitermachen“, sagte Berger schließlich, seine Stimme klang sehr müde. „Dann sind die anderen dabei. Lass uns diesen Sonntag nicht völlig ruinieren.“

      Der weiße Kleinbus kam an einer Tankstelle zum Stehen. In der Tür zum Laden lehnte ein Mann, einen Kopf größer als Lokman und deutlich besser gekleidet. Er trug eine schwarze Lederjacke über dem weißen Hemd, das sich über seinen Bauch spannte.

      „Heeey, Lokman, alter Uigure, siehst gut aus!“ log er mit breitem Grinsen. Er grüßte den Fahrer wie einen alten Freund. Es schien ihm nichts auszumachen, dass Lokman seine falsche Freundlichkeit nicht ebenso erwiderte. Er hatte keine Zeit, auf die vielen Empfindlichkeiten einzugehen, die die Angehörigen der Völker in dieser Region mit sich herum trugen.

      „Jurij, wie geht’s dir?“ erwiderte Lokman. „Du siehst aus wie ein richtiger Geschäftsmann! Ich hoffe, du hast bei all der Arbeit noch ein bisschen Spaß am Leben.“

      „Ein bisschen? Mann, es könnte kaum besser sein, so wie es zur Zeit läuft!“

      Jurij grinste ein breites Goldzahnlächeln und legte die Hände auf seinen Prallbauch. Wer ihn sah, hatte keinen Zweifel, dass er sich großartig fühlte.

      Lokman kannte Typen wie ihn nur zu gut. Der Spruch seines Vaters, dass man sich vor dicken Leuten in einem dünnen Land vorsehen sollte, stimmte immer noch. Heute warst du ihr Freund, morgen waren sie leider gezwungen, dir ein paar Knochen zu brechen, weil ihr Boss sauer auf dich war. Das waren die Tage, an denen man noch mal Glück hatte.

      Sie gingen hinein, Jurij lotste ihn neben die Kasse.

      „Hier sind die Medikamente für die Reise“, polterte er und holte eine Plastiktüte hinter dem Tresen hervor.

      Lokman nahm sie mit einem Nicken entgegen.

      „Die Mädels sind schon da, kannst sie gleich einladen.“

      „Zwölf, hattest du gesagt?“

      „Ja. Eine ist abgesprungen, aber dann hat eine andere gleich ihre Chance ergriffen.“

      Er lachte.

      „Hier ist dein Lohn, und das Geld für unterwegs. Ist alles abgezählt. Sollte was übrig bleiben, gibst du den Rest beim Empfänger ab.“

      Er gab Lokman zwei Bündel mit Dollarnoten. Eines enthielt fünftausend Dollar, das andere zweitausend. Lokman zählte bedächtig die Scheine. Als er aufblickte, bemerkte er, dass Jurij ihn beobachtete. Lokman lächelte unsicher.

      „Stimmt genau“, sagte er.

      Jurij platzte vor Lachen heraus.

      „Du bist einfach köstlich, Junge.“

      Er stand kopfschüttelnd vor ihm und grinste.

      „Es wäre wahrscheinlich das erste Mal, dass da auch nur ein Dollar übrig bleibt. Aber dir würde ich das glatt zutrauen.“

      Lachend führte er ihn in den Nebenraum, wo die Frauen bei Neonlicht warteten. Jede durfte nur eine Tasche mitnehmen, doch die meisten hatten noch ein, zwei Plastiktüten mit Lebensmitteln dabei.

      „Also dann: Go West, meine Damen“, dröhnte er. „Sie werden mit Lokman fahren, unserem besten Mann. Sollten Sie nicht vollzählig eintreffen, werde ich ihm persönlich ein Bein ausreißen. Aber ich bin sicher, das wird er schon selbst tun. Ist ein richtiger Gentleman, unser Lokman.“

      Er lachte über seinen müden Witz, während er den Frauen die Türe offen hielt. Unsicher folgten sie ihrem Fahrer zum Bus. Jurij gab Lokman die Reisepässe.

      Lokman öffnete die Beifahrertür und half den Frauen beim Einsteigen. Er zeigte ihnen, wo sie ihre Taschen verstauen sollten, und erklärte ihnen, dass sie jederzeit von dem Wasser im Kofferraum trinken konnten. Bis alle ihren Platz gefunden hatten, vergingen mehrere Minuten.

      Er bat um Ruhe.