Michael Hackethal

Stille Herzen


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an die deutsche Botschaft vermittelt und begann Deutsch zu lernen. Dank des Goethe-Instituts verbrachte er mehr als ein halbes Jahr in Deutschland und lernte die Sprache schnell. Für Übersetzungen im täglichen Business war es genug. Zurück in China begleitete er Unternehmer aus China und Deutschland, kam viel herum und verdiente gutes Geld.

      Dann kamen eines Tages russische Geschäftsleute, die mit Lokmans Hilfe Kontakte knüpften. Sie machten ihm ein Angebot, für sie zu arbeiten. Er würde gut verdienen können, sagten sie. Er lehnte ab, wollte lieber in der Heimat bleiben. Bei ihrem nächsten Besuch zeigten sie ihm Fotos von seinen Eltern bei der Feldarbeit. Es wäre doch schade, wenn der Esel krank würde. Oder seine Mutter.

      So begann er im Auftrag der Russen zu schmuggeln, arbeitete ihnen zu, verdiente viel Geld. Und suchte ständig einen Weg aus dieser Abhängigkeit.

      Jetzt waren die Eltern tot, das Vieh verkauft. Und was machte er? Er saß am Lenkrad und ging noch immer einem Job nach, den er nicht mehr wollte.

      Er schüttelte den Kopf über seine Situation, während er in die Dunkelheit hineinfuhr.

      Die Frauen, die er fuhr, erzählten manchmal von der Arbeit, die man ihnen zugesagt hatte, als Kellnerin, Krankenschwester, Putzfrau, Hotelangestellte, auch Prostituierte. Manche machten sich nichts daraus. Es war eine Möglichkeit, schnell viel Geld zu verdienen. Was sie hier in einem Monat verdienten, das war in Europa in wenigen Tagen möglich.

      Für die Frauen schien es eine Reise in den schnellen Reichtum zu sein. Sie konnten es kaum erwarten, und er, Lokman, war ihr Fahrer ins Reich ihrer Träume.

      Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Lokman zuckte zusammen.

      „Könntest du bitte anhalten? Wir müssen aufs Klo!“

      Eine der Frauen stand neben ihm und lächelte ihn an.

      Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor eins.

      „Ein paar Minuten noch, dann kommen wir zu einem Teehaus.“

      Er parkte den Bus zwischen Fernlastern neben dem Teehaus. Während die Frauen hinein gingen, kontrollierte er die Reifen. Dann folgte er ihnen.

      Im Gastraum saßen Lastwagenfahrer und schaufelten ihr Mittagessen in sich hinein, manche tranken Bier dazu. Sie warfen den Frauen Blicke zu und machten Bemerkungen, die sie offenbar witzig fanden.

      Lokman setzte sich an den Tisch, der den Männern am nächsten war.

      „He, Mann, sind das alles deine Töchter?“ rief einer der Biertrinker hinter seinem Rücken, ein unrasierter Mann mit dicken Armen. Er trug eine Trainingshose und ausgelatschte Turnschuhe, ein schmieriges Unterhemd spannte sich über seinen Bauch.

      „Die sind doch bestimmt noch nicht verheiratet. Oder verdienst du mit ihnen dein Geld?“

      Die anderen Fahrer lachten.

      Lokman bestellte sich ein Reisgericht und ignorierte das Gegröle vom Nebentisch.

      „Wie wär’s mit einem Taschengeld in der Mittagspause?“

      Der Mann schien unbedingt seinen Spaß auf Kosten der Frauen haben zu wollen. Er kam herüber und baute sich neben Lokman auf.

      „Nun sag schon, was kostet eine Stunde?“ fragte er Lokman so laut, dass alle im Raum es hören konnten.

      Lokman sah zu ihm auf.

      „Lass uns einfach in Ruhe. Die Frauen sind nicht zu haben.“

      „Du teilst wohl nicht gerne, was?“ grölte der Mann.

      Sein Atem roch nach Bier.

      Seine Kumpane lachten. Lokmans Mahlzeit wurde vor ihn hingestellt.

      „Ich kann nur teilen, was mir gehört“, sagte Lokman. „Und jetzt lass uns in Frieden.“

      Der Mann grinste zu seinen Kollegen hinüber.

      „Wenn sie dir nicht gehören, geht’s dich auch nichts an“, sagte er und sah Lokman herausfordernd an.

      Er wechselte die Bierflasche in die linke Hand und legte seine Rechte auf die Schulter der Frau, die Lokman gegenüber saß. Sie versuchte die Hand abzuschütteln, doch er hielt sie fest.

      Lokman zuckte die Schultern, nahm seine Gabel in die Hand und begann zu essen. Der Mann grinste und ließ seine Hand über die Schulter der Frau wandern. Plötzlich sprang Lokman auf und rammte dem Kerl seine Gabel in die linke Achselhöhle. Dessen Hand gab die Bierflasche frei. Lokman packte sie und bevor der Mann wusste, wie ihm geschah, zersplitterte sie auf seinem Schädel.

      Er schrie auf. Seine Rechte zog die Gabel heraus, doch schon drückten sich die Zacken der Glasflasche an seine Kehle. Bier lief ihm über das Gesicht und tropfte von seiner Nasenspitze.

      Es war totenstill im Lokal.

      „Fallen lassen“, sagte Lokman.

      Die Gabel klirrte zu Boden.

      „Und jetzt entschuldige dich bei der Dame.”

      Der Mann brachte keinen Ton heraus.

      Der Druck des Glases auf seinen Hals verstärkte sich.

      „Tut mir leid“, krächzte er.

      Die Frau nickte, ohne aufzublicken.

      „Entweder du bist jetzt friedlich oder wir zwei gehen nach draußen“, sagte Lokman.

      Der Mann schluckte.

      Lokman verstärkte den Druck weiter. Blut sickerte in dünnen Spuren auf das Unterhemd.

      „Schon gut, Mann, schon gut“, presste der Fahrer hervor.

      Lokman nahm die Flaschenscherbe zurück und setzte sich.

      „Kann ich eine neue Gabel haben?“ fragte er den kreidebleichen Wirt.

      Der Fahrer wankte an seinen Tisch zurück und fiel auf seinen Stuhl. Er wischte sich mit einem Taschentuch das Blut vom Hals. Niemand im Raum sagte ein Wort. Aus der Küche drang das Klappern von Geschirr und Töpfen, während Lokman seinen Teller leerte.

      Kurz darauf zahlten sie und gingen hinaus.

      Roleder saß im Biergarten des Rheinpavillons, die Uferpromenade im Blick. Vor ihm stand sein drittes Bier, und auch das wurde allmählich warm. Es war halb sieben abends.

      Saufen gegen das Verbrechen, dachte er und grinste. Es gibt Schlimmeres.

      Die Menschen genossen die laue Luft, Obdachlose kamen und gingen. Dann erschien einer, auf den Eckmeiers Beschreibung passte.

      Der Mann schob einen Einkaufswagen vor sich her. Manchmal hielt er an und gestikulierte, schien mit sich selbst zu reden.

      Roleder legte Geld auf seinen Deckel und stand auf. Es war nicht weit bis zu der Bank, auf die sich der Mann gesetzt hatte. Mit den Händen in den Taschen seiner Lederjacke schlenderte er hinüber, fühlte in der Rechten die Wermutflasche, die er gekauft hatte.

      Roleder setzte sich auf das andere Ende der Bank. Der Mann sah kurz zu ihm hinüber. Sein Mantel war fadenscheinig, an den Ellbogen abgewetzt. Ein durchdringender Geruch nach lange nicht gewaschen garantierte ihm einen ungestörten Sitzplatz. Er grinste, sein Blick ging durch Roleder hindurch, als habe er ihn gar nicht wahrgenommen. Seine Lippen bewegten sich, doch kein Laut war zu hören.

      „Ganz schön heiß noch“, sagte Roleder.

      Der Mann reagierte nicht.

      Roleder hielt sich zurück. Er wollte ihn nicht verscheuchen.

      Der Mann wühlte in seinem Einkaufswagen und zog ein seltsam geformtes Stück Treibholz hervor. Er hielt das Holzstück hoch. Seine trüben Augen lösten sich davon und hefteten sich auf Roleders Gesicht. Sie versuchten einen Moment lang zu fokussieren, dann gaben sie auf und blickten durch ihn hindurch in weite Ferne.

      „Siehst du das?”

      Roleder nickte.

      „Siehst