Michael Hackethal

Stille Herzen


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warf einen Zwanziger und eine Handvoll Münzen auf die Theke. Das musste dem Ergebnis einigermaßen entsprechen.

      „Schdimmso, hoffich“, sagte er zu Charlie.

      Es hörte sich an, als hätte er den Mund voller Murmeln.

      Charlie schaute auf den Deckel, zählte das Geld mit geübtem Auge und schob Koller drei Münzen zurück. Den Rest strich er ein und winkte ihm zum Abschied. Sein Gesicht drückte Anteilnahme aus. Dann musste er sich um den nächsten Gast kümmern.

      Koller ließ das Geld unbeholfen in seine Tasche gleiten. Er leerte sein Glas und stellte es mit einem Knall auf den Tresen, wobei er seinen Deckel nur knapp verfehlte. Er klopfte Hannes auf die Schulter und wankte, um Haltung bemüht, hinaus. Die frische Luft tat gut nach dem Lärm und dem Rauch.

      Hannes mochte recht haben mit seinen Äußerungen, aber er war im Unrecht, was seine Treue anging.

      Während Koller nach Hause wankte und sich an Häuserwänden abstützte, erinnerte er sich, wie eine Kollegin auf einer Fortbildung beim Essen von ihrem letzten Urlaub erzählt hatte. Beim Dessert hatte sie ihm den Sonnenbrand auf ihrer linken Brust gezeigt, wo der Rand des Bikinis deutlich erkennbar war. Und der war verdammt knapp gewesen. Er hatte ihr wortlos seine Hand mit dem Ring vors Gesicht gehalten. Daraufhin hatte sie ihre Bluse wieder zugeknöpft und war vor lauter Anstand rot geworden.

      Er öffnete die Haustür und stakste durch das Treppenhaus hinauf zu seiner Wohnung. Damals war ihm aufgefallen, wie viele Kolleginnen und Kollegen sich nach dem Essen zu zweit auf den Weg ins Hotelzimmer gemacht hatten, Single oder nicht. Eigentlich konnte es ihm ja egal sein.

      Er schloss die Wohnungstür auf, streifte die Schuhe ab und drückte die Tür mit dem Hintern zu. Sollten die anderen machen, was sie wollten, das war ihre Sache.

      Er tat zwei Schritte durch den schmalen Flur und schaffte es nach weniger als fünf Versuchen, seine Jacke auf einen der Haken zu hängen. Er drehte sich um und schaute in den Spiegel.

      „Glückwunsch, altes Haus!“ sagte er zu dem müden Mann im Spiegel und versuchte ein Lächeln.

      Er war damals vor allem sich selbst treu geblieben, und das zählte. Auch jetzt noch.

      Aber der arme, treue Kerl ihm gegenüber lächelte nicht, sondern sah ihn nur traurig an. Er tat Koller unendlich leid, und dann schossen ihm plötzlich die Tränen aus den Augen. Koller und der arme, treue Kerl rutschten mit dem Rücken an der Wand hinab, bis sie auf dem Boden saßen. Sie bargen ihre Gesichter in den Händen und konnten es nicht länger zurückhalten.

      Als Koller am nächsten Morgen aufwachte, saß er mit ausgestreckten Beinen im Flur, den Kopf in den Klamotten an der Garderobe. Im Traum hatte er sich in bestem Einvernehmen mit Jenna unterhalten. Es hatte sich so gut angefühlt. Aber jetzt war er wach. Naja, annähernd wach.

      Er kämpfte sich schwer auf die Füße. Jemand hämmerte von innen an seine Schläfen, dumpf und pochend. In seinem Mund steckte etwas Schwammiges, das seltsam schmeckte und das er nicht los wurde. Er stakste ins Bad, um nachzusehen.

      Es war genau dort, wo sonst seine Zunge war. Er machte zwei schnelle Schritte zur Toilette und schaffte es, sich zu übergeben, ohne dass etwas daneben ging. Das war für den Anfang doch was, worauf man stolz sein konnte.

      Erst nachdem er lange geduscht und noch nackt einen doppelten Espresso getrunken hatte, fühlte er sich besser. Er zog sich frische Sachen an und verbrannte sich anschließend an einem weiteren Espresso die Zunge. Es störte ihn nicht. Heute war Samstag, und er würde auf keinen Fall ins Büro gehen.

      Er ging ins Bad und fischte seinen Autoschlüssel aus der Hose. Er kehrte zu seinem Espresso zurück, leerte die Tasse und warf den Schlüsselbund hinter sich. Es schepperte kurz, dann war es still. Koller schaute nicht nach, wo die Schlüssel gelandet waren. Er wollte eben sein Handy auf stumm stellen, als es klingelte.

      „Jaa?“ krächzte er.

      „Wo bist du?“ fragte Roleder.

      „Wieso?“

      „Es ist Freitagmorgen, du hast keinen Urlaub eingetragen und bist nicht im Büro.”

      Koller schnaufte. So viel zum Wochenende.

      „Ich hab schon Samstag“, sagte er. „Sorry. Bin krank.“

      „Schlaf dich aus, Mann“, sagte Roleder. „Und hör auf zu saufen. Davon wird’s nicht besser.“

      Koller brummte irgendetwas Unverständliches und legte auf. Dann ging er zum Sofa und fiel mit einem Grunzen in die Polster.

      Gar nicht so übel, allein zu sein, dachte er. Keiner sieht dich schief an oder stellt blöde Fragen. Andererseits …

      Du denkst zu viel, dachte er.

      Augenblicklich fiel er in einen traumlosen Schlaf.

      In der Fußgängerzone fand Marja einen Bankautomaten, an dem sie mit ihrer Kreditkarte Geld abheben konnte. Sie ging zum Rathausplatz, setzte sich vor einem Café an einen Tisch in der Sonne und bestellte ein Mineralwasser. Endlich lief alles so, wie sie es sich erhofft hatte. Sie schloss die Augen und zog die warme Luft tief in ihre Lungen.

      Sie hatte Hagens Ticket in die Oberliga bereits gekauft, zu einem Preis, den niemand jemals erfahren durfte. Und das Schönste war, dass es nicht einmal das Bild war, das er angefragt hatte. Marja hatte eine um Dimensionen größere Sensation parat.

      Bei einer Auktion konnte sie erheblich mehr einstreichen, aber das würde ihr zu lange dauern. Ohne Echtheitszertifikate von anerkannten Sachverständigen würde es kein seriöses Auktionshaus riskieren, eine solche Ikone in seinen Katalog aufzunehmen.

      Aber sie würde endlich über genug Geld verfügen, um ihren wichtigsten Plan in die Tat umzusetzen. Einen Plan, in dem gemalte Bilder keine Rolle spielten. Dafür ein Bild, das sie niemals vergessen konnte. Ein Bild, das sie quälen würde, so lange sie lebte.

      Es hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt, seit sie vor zwei Wochen die letzte Nachricht ihrer Schwester auf der Mailbox gehört hatte. Marja hörte den Anruf auch jetzt wieder ab.

      „Wir sind vor kurzem in Istanbul losgefahren. Es geht mir gut, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Sie sammeln unsere Handys ein. Ich frage mich, was das soll. Bis bald!“

      Täuschte sie sich, oder hörte sie Angst aus der Stimme heraus?

      Sie wusste, ihrer Schwester war etwas geschehen. Sie wusste nur nicht, was. Und wie.

      Mit düsterer Miene tauchte sie ein in den Schatten am Rande des Rathausplatzes.

      Die Marshrutka stand am Hafen von Turkmenbashi am Kaspischen Meer. Es war später Vormittag, die Sonne ließ das Wasser glitzern. Möwen kreischten, Menschen warteten auf die Fähre nach Baku. Man wusste nie genau, wann sie kam und fuhr. Es war ein Frachter, der erst dann ablegte, wenn genügend Passagiere und Fahrzeuge an Bord waren.

      Lokman zahlte seinen Kontaktmann, der sie ohne Kontrolle in den Hafen ließ, und rangierte den Bus über eine Rampe auf ein großes Boot. Während die Ladung abgedeckt wurde, begrüßte ihn der Kapitän. Kurz darauf legten sie ab.

      Sie fuhren aus dem Hafenbereich und weitere 30 Seemeilen südlich aus der großen Bucht, bevor sie nach Westen abdrehten. Ihr Ziel, die Küste von Aserbaidschan, lag jenseits des blauen Horizonts. Etwa 430 Kilometer Seeweg bedeuteten, dass sie auf dem Boot übernachten würden.

      Gegen Mittag des nächsten Tages brachte der Kapitän das Boot in einer Bucht weit südlich von Baku an Land, eine auf Ölfässern schwimmende Holzkonstruktion diente als Landebrücke. Für Lokman war dies einer der schwierigsten Momente der gesamten Fahrt. Mit äußerster Konzentration hielt er die Marshrutka auf dem schwankenden Steg, während er sie über die Balken lenkte. Die Frauen gingen zu Fuß an Land.

      Danach waren einige hundert Meter lockerer Sand und Gebüsch zu bewältigen, bevor sie die Landstraße erreichten. Die Frauen stapften durch das Gelände, während der Bus vor ihnen her schaukelte. Sobald er festen Boden unter den Rädern hatte, stiegen alle ein und die Fahrt ging