auch woanders. Es sieht gar nicht spektakulär aus. Das Schaf liegt auf dem Rücken, ein Mann hält es an den Hinterläufen fest, der andere legt sein Bein quer über das Tier und schneidet an einer Stelle die Haut auf. Das Schaf scheint fast nichts zu spüren. Erst als die Hand den Puls anhält.“
„Meinst du, dass eine zweite Person anwesend war?“
„Vermutlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frau zuschaut, wie jemand ein Messer zieht und sie anschneidet.“
„Die Kopfwunde. Vielleicht von einem Totschläger.“
„Ich habe Dr. Schengen dazu befragt und ihr das Video gezeigt. Sie ist überzeugt, dass die Frau betäubt wurde. Ob von dem Mörder oder einem Helfer, können wir im Moment nicht sagen.“
„Das könnte zu der mongolischen Tötungsweise passen. Gute Arbeit, Aylín.“
„Danke. Da ist noch was: Dr. Schengen hat Haare gefunden, die nicht von der Toten stammen. Eines —“
„Hat doch sicher Zeit bis zur nächsten Besprechung, oder?“
„Klar“, sagte Aylín.
„Alles Weitere Montag früh. Ich komme heute nicht ins Büro.“
„Heute nicht?“
„Ja, wieso?“
„Es ist Samstag.“
Er schnaufte.
„Stimmt ja, ich dachte —“
„Bisschen viel alles, wie?“
Koller rieb sich die Augen und nickte nur.
„Du hast nur einen Vater“, sagte sie, „nimm dir Zeit. Auch für dich.“
Am Nachmittag wachte sein Vater auf. Koller bemerkte mit Erleichterung, dass sein Gesicht nicht verzerrt oder gelähmt war.
„Hast verdammt Glück gehabt“, sagte Koller und drückte seine Hand.
Dann klingelte er nach der Schwester. Als sie mit dem Stationsarzt ins Zimmer eilte, küsste er seinen Vater sanft auf die Stirn.
„Mach’s gut, Papa, ich komme heute Abend wieder. Entspann dich.“
„Ich bin immer froh, wenn du mir sagst, was ich zu tun habe“, erwiderte der alte Mann. „Würde sonst sicher alles falsch machen.“
Koller grinste und ging hinaus. Zum ersten Mal seit Tagen verspürte er Hunger. Es fühlte sich großartig an.
Nach zehn Tagen erreichten sie Istanbul, spät am Abend. Sie übernachteten in einem kleinen Hotel am Rande des Zentrums, das immer die letzte Station war. Die Frauen gingen gleich auf ihre Zimmer.
Lokman lag schwitzend auf seinem Bett. Er musste an Zhanna denken, die so oft neben ihm gesessen hatte, und daran, was sie erzählt hatte. Er konnte sie nicht einfach abgeben und nach Hause fahren.
Nachdem er sich zwei Stunden lang hin und her gewälzt hatte, zog er sich wieder an und ging hinunter. Er nickte dem Nachtportier zu. Ein grauhaariger Mann wischte den Eingang, als Lokman die Treppe herabkam.
„Wie läuft’s, Tayyip, alles im Griff?“
Der Mann hielt inne und schniefte.
„Alles in Ordnung, Lokman. Hast du wieder schöne Frauen mitgebracht?”
Lokman grinste nur.
„Eine für mich hast du nicht zufällig dabei?“ fragte Tayyip.
„Warum willst du dir auf deine alten Tage noch Ärger einhandeln? Genieß dein Leben, Mann!“
Sie lachten leise.
„Sag mal, Tayyip, du kennst doch hier im Viertel bestimmt jedes Gesicht.”
Der Mann stützte sich auf seinen Wischmop.
„Ich wohne hier seit 63 Jahren. Bis auf meinen Urlaub, du weißt schon.“
Er hatte drei harte Jahre im Gefängnis verbracht, weil er unbeabsichtigt in eine Demonstration geraten war.
„Sag, wo kann ich um diese Zeit noch einen Autohändler finden? Einen, der mehr als Autos hat.“
„Mehr als Autos?“
Lokman bemerkte, wie der Nachtportier große Ohren bekam. Er zog Tayyip in die Stille des Frühstücksraumes. Er hatte oft mit ihm zusammengehockt und wusste, was der Graukopf im Knast erlebt hatte. Allein die Leistung, da wieder rauszukommen, ohne gebrochen zu sein, hatte ihm allseits Anerkennung eingebracht. Er war ein respektierter Mann, trotz seiner Armut. Lokman mochte ihn, und das beruhte auf Gegenseitigkeit.
„Ich habe was vor und brauche ein Auto. Und eine Waffe. Wer kann das auf die Schnelle besorgen?“
Tayyip zuckte nicht mal.
„Wenn dir einer helfen kann, dann Kemal.”
Er blickte auf die Wanduhr, es war kurz vor eins.
„Schätze, der wird bald zumachen, also beeil dich.“
Er beschrieb ihm den Weg zum Autohandel. Lokman dankte ihm und sprang auf.
Der Mann saß am Schreibtisch seines kleinen Büros. Lokman ging hinein und sprach ihn an.
„Ein Bus? Was soll ich mit einem Bus?“
Der Autohändler starrte Lokman aus müden Augen an. Er hatte öliges Haar, aus seinem Schnurrbart ragte eine Knollennase hervor. Sein Bauch wirkte, als hätte er einen Fußball unter dem Hemd versteckt.
„Das ist nicht nur ein Bus, Mann, es ist ein Mercedes! Damit kann man Geld verdienen, richtig gutes Geld! Und er ist in perfektem Zustand, tiptop gewartet.“
In den Augen des Händlers blitzte Interesse auf. Mercedes war immer gut. Und Lokman hatte gesehen, dass zwischen den Pkw auch zwei Lieferwagen auf dem Hof standen.
Kemal seufzte.
„Ich kann mir die Mühle ja mal ansehen.“
„Du wirst es nicht bereuen“ sagte Lokman und klopfte mit der Hand auf den Tisch. „Warte auf mich!“
Zurück beim Hotel sprang Lokman in die Marshrutka und startete den Motor. Seine Idee entwickelte sich von einer Minute zur anderen zu einem vollständigen Plan. Einem Plan, der ihn mit Begeisterung erfüllte.
Voller Eifer kurvte er zu dem Autohändler. Er sprang aus dem Führerhaus und zerrte den Mann aus seinem überhitzten Büro.
„Na, habe ich dir zu viel versprochen? Ist das ein Prachtstück oder ist das ein Prachtstück? Komm schon, setz dich ans Lenkrad und dreh eine Runde.“
Er schob den widerstrebenden Mann auf den Fahrersitz und rannte um den Wagen, um sich neben ihn zu setzen.
„Nun fahr schon, Mann! Wirst sehen, der Brummer ist bestens in Schuss!“
Der Autohändler startete den alten Diesel, der willig ansprang. Er lauschte auf den Klang des Motors und jedes Geräusch, während er den Gang einlegte und vom Hof fuhr. Lokman wusste, dass er gewonnen hatte. Der Bus war alt, aber in hervorragendem Zustand.
Sie drehten eine Runde durch das Viertel, bremsten, hielten, fuhren wieder an und kamen schließlich zurück.
„Und? Was sagst du?“
„Ganz schön alt, die Karre. Wer soll denn so was kaufen? Wenn ich auf den Tacho schaue, wird mir schwindelig. 470 000 Kilometer!“
„Ja“, sagte Lokman und strahlte ihn an. „Gerade frisch eingefahren!“
Er wusste, der Motor würde locker das Dreifache schaffen.
Sie einigten sich rasch auf den Preis, Lokman hatte keine Lust auf lange Verhandlungen.
„So, und jetzt zeig mir mal deine Autos.“
Der Händler stutzte, dann rieb er seinen Schnurrbart und ging mit seinem seltsamen Kunden durch