Michael Hackethal

Stille Herzen


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hielt er inne. Er ging zurück an den Empfang. Dort stand ein Computer mit Internetanschluss. Er nannte dem Nachportier seine Zimmernummer, dann surfte er einige Minuten. Er prägte sich die Namen der Städte ein, die er in Google Maps aufrief. Es war ein reines Glücksspiel. Wie sein gesamtes neues Leben.

      Ein zweites Mal ging er die Treppe hinauf, und dieses Mal lächelte er. Er hatte gleich geahnt, dass dies keine Fahrt wie all die anderen werden würde. Jetzt ging es darum, nicht länger nur etwas zu ahnen. Es war an der Zeit zu wissen.

      Es war kurz nach Sonnenaufgang, als Koller die Bettdecke zurückschlug und sich wie betäubt aus den durchgeschwitzten Laken schälte. Wie jeden Morgen jetzt dauerte es einige Augenblicke, bevor der Fahrstuhl in seinem Magen sich in Gang setzte. Und der kannte nur eine Richtung – abwärts.

      Am liebsten hätte er sich verkrochen, aber das war unmöglich. Jede Verzögerung auf dem Weg zum Präsidium war ihm willkommen, bevor er den Wagen im Parkhaus abstellte. Widerwillig stapfte er zu seinem Büro. Wenigstens musste er den Tag nicht allein verbringen.

      Berger würde gegen acht kommen. Er betrachtete dessen stets aufgeräumten Schreibtisch. Und doch war Berger kein Pedant. Wie der Mann diesen Spagat schaffte, konnte Koller nicht nachvollziehen, aber er respektierte ihn dafür umso mehr.

      Eric Roleder und Aylín Karamanoglu waren erst Mitte zwanzig, passten aber gut ins Team. Er brachte seine unbeschwerte, manchmal etwas lässige Art ein und seine quer gedachten Ideen, sie ihre Intelligenz und die Fähigkeit, sich in andere Menschen hinein zu versetzen.

      Die Aufklärungsquote der Bonner Kripo bei Gewaltverbrechen lag seit Jahren um hundert Prozent. Er sah keinen Grund, warum sie den guten Schnitt nicht halten sollten.

      Unter all den E-mails mit Anfragen von Kollegen nach Informationen zu Tatverdächtigen waren zwei, die er erwartet hatte und gleich bearbeiten musste. Der Polizeipräsident erkundigte sich nach dem Stand der Dinge, wollte wissen, in welche Richtungen ermittelt wurde.

      Auch der Staatsanwalt erkundigte sich nach dem Stand der Dinge, bat ihn um halb fünf zur Besprechung und wollte wissen …

      Und dann kam eine dritte, von der Spurensicherung. Es hatte vermutlich keinen Kampf gegeben, die Frau war höchstwahrscheinlich durch einen Schlag betäubt worden, auf der eisernen Leiter waren verwertbare Fingerabdrücke von mehreren Personen gefunden worden: zum einen von der Toten, aber auch von mindestens drei weiteren. Keiner davon stimmte mit Abdrücken in irgendeiner Datenbank überein.

      Nach und nach trafen Berger, Aylín und Roleder ein, holten sich einen Kaffee, machten Bemerkungen darüber, dass er ziemlich stark wäre, und gingen ihre E-mails durch. Um halb neun setzten sie sich zusammen, um die Lage zu besprechen. Die Fotos der Spurensicherung lagen auf dem Tisch, dazu der Ausdruck der E-mail mit dem Bericht. Sie ließen die Fotos von der Toten und dem Tatort von Hand zu Hand gehen.

      „Heute Nachmittag muss ich dem Staatsanwalt Bericht erstatten“, sagte Koller. „Also, wie sieht’s aus? Wer hat was?“

      „Ich habe den Penner ausfindig gemacht, der den Mord gemeldet hat.“ Roleder hing in seinem Stuhl wie ein Teenager. Er klang trotz dieses Erfolgs wenig begeistert. „Der Typ ist irgendwie durchgeknallt, aber er scheint mehr zu wissen, als er sagt.“

      „Was meinst du mit durchgeknallt?“

      „Naja, er redet wirr. Manchmal in Reimen, manchmal ganz unzusammenhängend.“

      „Vielleicht hast du nur nicht genügend Infos, um die Zusammenhänge zu erkennen“, sagte Aylín.

      Roleder verzog das Gesicht.

      „Ich glaube, wir sollten ihn hier vernehmen. Vielleicht macht ihn das gesprächiger.“

      Koller wiegte den Kopf.

      „Wenn er Angst hat, macht er vielleicht ganz dicht. Was hat er gesagt?“

      Roleder setzte sich auf.

      „Dass drei in das Ponton gegangen sind, aber nicht gleichzeitig, und nur zwei wieder rausgekommen sind. Dass man am besten unsichtbar ist und dass da eine harte Hand war. So komisches Zeug halt.“

      „Immerhin hat er die Personen beim Betreten und beim Verlassen der Anlegemole gesehen“, sagte Berger.

      „Vor Gericht gibt der keinen brauchbaren Zeugen ab.“

      „Hat er sie beschreiben können?”

      „Keine Chance. Versuch du es mal, Koller. Ich spüre ihn wieder auf, dann redest du mit ihm.“

      Koller nickte.

      „Versuch es morgen Vormittag“, sagte er. „Aylín?“

      „Die DNA-Analyse hat Folgendes ergeben: Die Tote stammt aus einer der zentralasiatischen Republiken, möglicherweise aus Kasachstan oder einem der angrenzenden Länder, also Usbekistan, Kirgisien oder Tadschikistan. Dr. Schengen hat drei Haare bei der Toten gefunden, die von verschiedenen Personen stammen. Ein sehr kurzes, das hinten am Kleid hängen geblieben war, dunkelbraun, von einem Mann aus Osteuropa oder dem westlichen Russland, ein schwarzes, ebenfalls am Rücken, und ein etwas längeres, schwarz, beide von Männern aus Zentralasien. Das längere Haar befand sich unter einem Ring, den sie an der rechten Hand trug.“

      „Welche Länder oder Gebiete sind mit Zentralasien gemeint?“

      „Das ist nicht eindeutig. In der Regel sind es die eben genannten Länder, manche Quellen geben auch Mongolei, Turkmenistan, Afghanistan, nördliches Pakistan an.“

      „Wir haben also drei Personen aus diesem Gebiet: die Tote und zwei Männer. Ein weiterer Mann aus Osteuropa hatte ebenfalls Kontakt mit ihr. Sonst noch was?“

      „Dr. Schengen hat herausgefunden, dass die Frau mit mehreren Männern Geschlechtsverkehr hatte, zuletzt etwa zwei bis drei Tage vor ihrem Tod. Von einem dieser Männer stammt das schwarze Haar auf ihrem Kleid. Und sie war schwanger.“

      „Eine Prostituierte?“

      „Anzunehmen. Sie ist am Freitag Abend gestorben, hat wahrscheinlich Dienstag oder Mittwoch zuletzt gearbeitet.“

      „Irgendjemand muss sie doch vermissen“, sagte Berger.

      „Ich werde Kampmann von der Sitte fragen“, sagte Koller.

      „Was gibt’s bei dir Neues, Berger?“

      „Ich habe Fotos und Fingerabdrücke der Frau in den Datenbanken abgefragt, aber weder unsere INPOL noch I-24/7 von Interpol kennen sie.“

      „Wenn ein Haar unter dem Ring hängen bleibt, hat sie möglicherweise mit dem Asiaten gekämpft, hat sich gewehrt“, sagte Roleder.

      „Gut möglich. Obwohl nichts auf einen Kampf hindeutet. Sie hat nur die Platzwunde am Hinterkopf, wahrscheinlich von einem Schlag mit einem harten Gegenstand, der sie betäubt hat, und eine Prellung am linken Ellbogen, die vom Aufprall auf den Fußboden stammen könnte.“

      „Vielleicht stammt das Haar von einem ihrer Freier“, sagte Berger.

      „Kann sein“, sagte Koller. „Aber sie hat garantiert geduscht. Und sie kommt aus der gleichen Region wie der Unbekannte. Möglich, dass sie ihn kannte.“

      „Lasst uns den Ablauf doch mal durchspielen“, sagte Berger. Er stand auf, zog das Flipchart herbei und nahm einen dicken Stift in die Hand. „Ihr drei könnt das nachstellen.“

      Sie schauten sich an und zuckten die Schultern.

      „Ok“, sagte Koller und stand auf. „Ich bin der Osteuropäer. Ich stehe im Ponton und warte, dass ihr kommt.“

      Er schob seinen Stuhl unter den Tisch und stellte sich ein wenig abseits.

      „Wir kommen jetzt die Leiter herunter“, sagte Roleder und schob Aylín vor sich her, bis sie zwei Schritte von Koller entfernt stand.

      „Ich drehe mich zu dir um“, sagte Aylín und wandte Koller den Rücken zu.

      „Ich habe eine Waffe in der Hand, mache zwei Schritte“, Koller tat,